Tabubruch in Hagen

„Westfalenpost“ fragt Leser: Kennen Sie einen Mörder? Oder eine Frau, die sich nicht rasiert?

Wer als Redakteur bei einer Lokalzeitung der Funke-Mediengruppe in Nordrhein-Westfalen arbeitet, hat im Idealfall einen unbefristeten Arbeitsvertrag und wird nach Tarif bezahlt. Soweit, so gut. Die Kehrseite ist bloß: Das Produkt, das die Redakteurinnen und Redakteure herstellen, findet immer weniger Abnehmer, die zahlende Kundschaft läuft davon, schon seit Jahren. Deshalb hat Funke sein lokales Angebot in den vergangenen Jahren geschrumpft.

Was also tun, um wieder mehr Leserinnen und Leser zu gewinnen?

Die Hagener Redaktion des Funke-Blatts „Westfalenpost“ (WP) hatte kürzlich eine besondere Idee: eine Leser-Aktion (immer gut, sagt der Chef), die bislang ihresgleichen in der deutschen Zeitungslandschaft sucht. Anfang des Monats wurde die „WP-Sommerserie 2020″ in der Hagener Ausgabe angekündigt, mit einem markigen Appell: „Wir suchen Sie!“, steht da. „Trauen Sie sich: Erzählen Sie Ihre Geschichte!“ Und für alle, die keine eigene auf Lager haben: „Kennen Sie jemanden, der uns seine Geschichte erzählen würde?“

Teil eines Coupons aus einer Zeitung, der 50 "Tabus" auflistet, die man ankreuzen kann.
„Westfalenpost“-Sommerserie: „TABU!“ Ausriss: WP

Es folgt eine lange Liste mit 50 „Tabus“, über die „Hagen sonst nicht spricht“, und die Bitte, den Coupon ausgefüllt an die WP-Redaktion zu schicken. In einem Text, der begleitend erschien, werden die Motive dieser Aktion skizziert. Man mache das „nicht, weil wir reißerisch sein wollen“ und „auch nicht, um zu provozieren“, heißt es in dem Artikel:

„Jede Geschichte soll für andere Betroffene ein Grund sein, sich ein Stück normaler, einfach ein Stück menschlicher zu fühlen.“

Die Liste der „Tabus“ enthält teilweise Harmloses. Die Redaktion sucht Menschen, die nicht schwimmen können, keine Ahnung von Lokalpolitik haben oder in Hagen keine Orientierung. Menschen, die aus Kirche ausgetreten sind. Sich nicht trauen, Auto zu fahren. Und so weiter.

„Kennen Sie eine Frau, die sich rasiert?“

Der größte Teil der Liste aber dreht sich um Privates, um nicht zu sagen: Intimes. Es ist der Versuch einer Lokalzeitung, mal ausführlich durchs Schlüsselloch der Leserinnen und Leser zu blicken. Die Redaktion sucht jemanden, …

  • „der einen Seitensprung hatte“
  • „der zu Prostituierten geht“
  • „der pornosüchtig ist“
  • „der vergewaltigt wurde“
  • „der noch nie einen Orgasmus hatte“
  • „der sein Kind geschlagen hat“

Oder wahlweise auch:

  • „einen Mörder/Totschläger“

Ebenfalls als „Tabu“ gilt der Redaktion offenkundig, wenn jemand „zugibt“, dass er dement ist. Und Leute, die darüber reden, dass ihr „Chef eine Frau ist“. Oder eine Frau, „die sich nicht rasiert“. Was sich vielleicht auch kombinieren lässt: Kennen Sie jemanden, dessen Chef eine Frau ist, die sich nicht rasiert?

 

Coupon aus einer Zeitung, der 50 "Tabus" auflistet, die man ankreuzen kann.
Der WP-Coupon mit den 50 „Tabus“

 

Dass eine Lokalredaktion auf diesem Wege nach solchen Geschichten sucht, ist schon mal, nun ja: außergewöhnlich. Und dass die Aktion ausgerechnet in Hagen gestartet wird, verwundert obendrein. Denn die „Westfalenpost“ („Stimme der Heimat, Echo der Welt“) ist unter den vier regionalen NRW-Zeitungen der Funke-Mediengruppe eher das konservative Familienblatt.

Martin Krehl bringt die Aktion immer noch auf die Palme: „In mehr als 40 Jahren journalistischer Tätigkeit ist mir so etwas Übles nicht untergekommen“, sagt er. Es wundere ihn sehr, „dass die Teilnehmer der Konferenzen, in denen das besprochen worden sein muss, allesamt nichts dazu gesagt haben“.

Krehl, gebürtiger Hagener, ist Gewerkschafter, war früher Landesvorsitzender der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in NRW und viele Jahre Betriebsratsmitglied der „Westfälischen Rundschau“, ebenfalls ein Funke-Titel. Krehl ärgert sich also auch aus alter Verbundenheit: „Wie kann man auf die Idee kommen, die Körperbehaarung einer Frau als berichtenswertes Tabu-Thema auszuweisen? Mörder oder Totschläger sollen der Redaktion genannt werden, auch Menschen, die ihre Kinder misshandeln.“

Die Redaktion will ja nicht nur, dass sich Leute selbst melden – sondern sucht offenbar auch solche, die über andere auspacken: „Kennen Sie jemanden, auf den einer der Punkte zutrifft?“

Beschwerde beim Deutschen Presserat

Krehl fürchtet, das rufe „Denunzianten und Selbstdarsteller“ auf den Plan. „Da geht es der Redaktion nicht darum, zu informieren“, sagt er. Es gehe ausschließlich „um Trash und Sensationsgier“, die so vielleicht befriedigt werde. „Und dafür ist die traditionsreiche südwestfälische Heimatzeitung da?“ Krehl hat eine Beschwerde an den Deutschen Presserat gerichtet.

Ein Journalist, der bei einer Funke-Zeitung arbeitet und deshalb anonym bleiben möchte, sagt: „Das geht sehr tief in Privatsphären. Zu tief bei einigen Punkten. Ich bin nicht sicher, ob dies mit journalistischen Ansprüchen zu vereinbaren ist.“ Er fürchte, dass die Idee davon getrieben sei, „möglichst viele Klicks bzw. Online-Abos zu bekommen“.

Der Betriebsrat der WP habe sich corona-und krankheitsbedingt noch nicht abschließend mit dem Fall beschäftigten können, sagt BR-Vorsitzender Rudi Pistilli zu Übermedien. In der Tendenz vertrete das Gremium die Ansicht, „dass das so nicht geht“. Er und seine Kollegen wunderten sich, „dass es überhaupt möglich ist, solche irritierenden Fragen an die Leser/User zu stellen: Das stellt den eigentlichen Tabubruch dar“. Darüber werde es noch Gespräche mit der Chefredaktion und Kollegen geben, kündigt Pistilli an.

WP-Chefredakteur „außerstande“, Fragen zu beantworten

Wir haben auch Jost Lübben, dem WP-Chefredakteur, Fragen zu der „Tabu“-Sommerserie geschickt. Doch Lübben sieht sich „außerstande“, wie er schreibt, unseren „aktuellen Fragenkatalog zu beantworten, der den nachhaltigen Eindruck hinterlässt, dass das Urteil bereits gefällt wurde“.

Stattdessen weist Lübben auf Grundsatzbeiträge zum Regionaljournalismus hin, die er geschrieben hat, auch auf einen in englischer Sprache. Ihnen sei zu entnehmen, dass „vermutete Zuschreibungen wie ‚konservatives Familienblatt‘ für uns längst jenseits unserer täglich gelebten Realität sind“.

Die WP verstehe sich als „eine Regionalzeitung, die im Dialog mit den Nutzerinnen und Nutzern entsteht und die sich in diesem permanenten Gespräch weiterentwickelt“. Ziel sei es, den Menschen in der Region eine Plattform zu bieten, „auf der ihre Zukunftsthemen verhandelt werden“. Inwieweit die Tabu-Liste Zukunftsthemen abbildet, bleibt offen.

Weiter schreibt Lübben:

„Es ist für uns selbstverständlich, dass wir sensibel und äußerst respektvoll mit den Menschen umgehen. Wir laden sie ein, mit uns über sich zu sprechen, durchaus auch über sehr persönliche Dinge. Unser Ziel ist es, einen Dialog zu ermöglichen, Vorurteile abzubauen.“

Bei der Sommerserie arbeite die WP eng mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband zusammen. Experten würden die einzelnen Folgen mit ihrem Wissen ergänzen. Denunzierung lehne die Redaktion ab, sie führe auch niemanden vor: „Wir sind aber sicher, dass es unsere Profession ist, auch sehr sensible Themen anzugehen. Es wäre falsch, etwas nur deshalb nicht zu versuchen, weil es von Uninformierten oder Böswilligen fehlgedeutet werden könnte.“

Lübben behauptet, die WP habe „eine Reihe von Rückmeldungen“ zu dem Aufruf erhalten, sie seien „ausschließlich positiv“. In der Region scheine die „Einladung als solche verstanden worden zu sein“. Lübben, in Personalunion auch Chefredakteur der redaktionslosen „Westfälischen Rundschau“ und Jury-Mitglied des Deutschen Journalistenpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung, hält an der Sommerserie fest: „Die Stadtredaktion wird das Projekt wie geplant in den kommenden Wochen erneut vorstellen und natürlich auch unsere Absicht erläutern.“

Nachtrag, 22.6.2020. Inzwischen hat sich der Presserat mit einer Beschwerde zu der Sommerserie befasst. In der Antwort an den Beschwerdeführer, die Übermedien vorliegt, heißt es, der Presserat komme „zu der Auffassung, dass ein Verstoß gegen den Pressekodex nicht vorliegt“. Zwar sei der von der Redaktion gewählte Rechercheweg „eher unüblich“, allerdings sehe der Presserat darin „keinen Aufruf zur Denunziation“, sondern eine „presseethisch akzeptable Vorgehensweise“.

11 Kommentare

  1. „Eine Frau, die sich nicht rasiert“; „jemand mit einem Fetisch“; „jemand, der im falschen Körper lebt“; „jemand, der pornosüchtig ist“; „jemand der noch nie einen Orgasmus hatte“ – klingt für mich nach Themenvergabe in der Bento-Redaktionskonferenz…

    Bei „Ein Mann, dessen Chef eine Frau ist“ könnte ich helfen. Aber was soll man dazu groß sagen…

  2. Unglaublich, man weiß gar nicht, wo man da anfangen soll, so übel ist das. Die Liste entlarvt zudem das kleinbürgerliche Weltbild der Verantwortlichen. Man möchte mehr kotzen, als man lesen kann…

  3. Ergänzung: Hasper und Hohenlimburger haben alle keine Orientierung in Hagen. Oder wenn doch, tun sie so, als ob nicht. Das ist kein Tabu von denen, auch kein „Tabu“, sondern ein Zeichen von Lokalpatriotismus.

    Gibt’s eigentlich was zu gewinnen, wenn man da mitmacht?

  4. Habe ich irgendwas verpasst? Seit wann ist es der Normalfall, daß Menschen, die in der Regel gar keinen oder nur sehr geringen Bartwuchs haben, sich rasieren?

  5. Die Erhebung von Informationen, indem Dritte zu Mitteilungen über Privatangelegenheiten von Bürgerinnen und Bürgern zwecks Berichterstattung in der Zeitung ersucht werden, ist schon als solche unzulässig, weil kein zulässiger Zweck nach der Datenschutzgrundverordnung (Art. 6 DSGVO) vorliegt. Sowohl das Übermitteln als auch das Sich-Verschaffen sind Ordnungswidrigkeiten nach § 33 Abs. 1 OWiG NW. Hat schon jemand mit der Landes-Datenschutzbeauftragten gesprochen?

  6. DSGVO greift aber doch nur wenn personenbezogen?
    (Abgesehen davon ist die Aktion doch auch nur ein Feigenblatt für eine ausgedachte Quatschgeschichte über Frau G. aus P.)

  7. Die Serie ist übrigens nicht annähernd so spannerisch-schlüpfrig geworden, wie man das nach der Anfrage vermuten konnte.
    Einfach Sorgen und Probleme von Leuten, die über diese Sorgen und Probleme eher selten reden, nicht unbedingt aus Scham, sondern auch aus Trauer oder Angst oder weil ihnen niemand zuhört.

    https://www.wp.de/staedte/hagen/Tabu/

    Keine Ahnung, ob das so geplant war oder ob man sich später umorientiert hat.

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