Juan Moreno und der Fluch der fast perfekten Pointe
Es ist ein bisschen wie auf dem Jahrmarkt, wenn der Karussell-Fahrer ruft: „Die nächste Fahrt geht rückwärts!“
Claas Relotius wirft Juan Moreno vor, Falschbehauptungen über ihn zu verbreiten. Relotius ist der ehemalige „Spiegel“-Reporter, der Dutzende Artikel gefälscht hat. Juan Moreno ist sein ehemaliger Kollege, durch dessen Recherchen das aufflog. Er hat darüber das Buch „Tausend Zeilen Lüge“ geschrieben, gegen das Relotius nun vorgeht.
Das ist einerseits fast lustig: Der Fälscher, der sich über falsche Darstellungen beklagt. Und andererseits natürlich umso ernster: Kann man denn keinem Journalisten mehr trauen, nicht einmal dem, der Relotius enttarnte und dem seither die halbe Branche auf die Schulter klopft?
Nicht alles, aber einiges von dem, was Relotius bemängelt, ist Kleinkram. Ob er über 40 Journalistenpreise gewonnen hat oder nur halb so viele. Ob seine Bürotür stets offen stand, und wie oft er mit Kollegen zum Mittagessen ging. Spitzfindigkeiten, über die sich Anwälte in langen Schreiben und vor Gericht streiten können.
Natürlich hat auch jemand, der im größten Stil gelogen hat, ein Recht darauf, dass sein Tun selbst im kleinsten Detail richtig dargestellt wird. Aber als Außenstehender muss man sich trotzdem nicht von der Zahl der über 20 Textstellen, die Relotius über seinen Anwalt beanstanden lässt, beeindrucken lassen.
Die tollste Geschichte
Die Substanz von Morenos Buch greift Relotius nicht an. Trotzdem geht es um mehr als Lappalien. Es geht um Morenos Glaubwürdigkeit als Reporter und als Kritiker von Relotius. Und es geht – wieder einmal – um die Frage, ob Journalisten im Zweifel die tolle Geschichte wichtiger ist als die Genauigkeit.
Ein Beispiel. Eine der tollsten Geschichten in Morenos Buch ist die, mit der es endet. Sie geht so:
Ein Kollege im „Spiegel“ erreichte Relotius einige Monate nach Ende des Skandals. Relotius behauptete, dass er gerade in einer Klinik in Süddeutschland sei. In Behandlung. Ihm werde da geholfen. Die Ärzte würden Fortschritte sehen. Es sei ihm immer nur darum gegangen, die Kollegen, seine Freunde, nicht zu enttäuschen. Das sei das Wichtigste überhaupt.
Tags darauf traf dieser Kollege eine „Spiegel“-Sekretärin. Die Frau hatte Relotius gerade auf dem Fahrrad gesehen.
In Hamburg.
Es ist eine sensationelle, tragische Pointe. Sie sagt: Er lügt noch immer. Er lügt jetzt sogar darüber, dass er sich helfen lässt.
Wenn man das Buch gelesen hat, ist das eine Stelle, die man weitererzählt.
Hörensagen als Quelle?
An der Pointe hätte man vorher schon zweifeln können. Sie hängt daran, dass es wirklich Relotius war, den die Sekretärin an jenem Tag auf dem Fahrrad sah, und nicht nur jemand, der ihm ähnlich sah. Ist sie sich sicher? Ist Moreno sich sicher?
Die „Zeit“, der Relotius‘ Anwalt das Abmahnschreiben vorab zukommen ließ, schreibt unter Berufung auf „mehrere Zeugen“:
Weder habe die Sekretärin (die nicht mit Moreno gesprochen hat) Relotius auf dem Rad zweifelsfrei erkannt, noch stimme der geschilderte zeitliche Zusammenhang. Moreno sagt der ZEIT auf Nachfrage, ein Kollege habe ihm die Geschichte so erzählt.
Das liest sich schlimm.
Ich halte die Stelle, anders als „Zeit“-Redakteur Christof Siemes, nicht für „eine der wichtigsten Stellen des Buches“. Aber sie ist sicher eine der wirkungsvollsten. Und sie ist für Relotius natürlich besonders problematisch.
Darf man eine solche Anekdote, vor allem eine so mächtige und prominent platzierte, allein auf der Grundlage von Hörensagen veröffentlichen, ohne wenigstens selbst mit der Sekretärin gesprochen zu haben?
Die Sache ist etwas komplizierter. Die Fahrrad-Geschichte erzählten sich damals zwar viele Kollegen. Aber Moreno hörte sie offenbar nicht von irgendeinem. Er wollte sein Buch ursprünglich nicht alleine schreiben, sondern zusammen mit einem Co-Autor aus dem Gesellschaftsressort des „Spiegel“. Der recherchierte für ihn – und soll auch die Fahrrad-Geschichte von der Sekretärin erfahren haben.
Hätte Moreno, nachdem aus dem gemeinsamen Verfassen des Buches nichts wurde, die Recherchen des Kollegen selbst noch einmal nachrecherchieren müssen? Hätte er selbst mit der Sekretärin reden müssen?
Ich denke: Ja. Auch weil er wohl nur dann die Möglichkeit gehabt hätte, fundiert zu entscheiden, ob die Episode wirklich dazu geeignet ist, in seinem Buch erzählt zu werden – oder ob zu viel daran unsicher ist.
Moreno ist kein Relotius
Sollte sie tatsächlich nicht stimmen, würde das nicht die Substanz von Morenos Buch und seiner Schilderungen von Relotius bedrohen. Es würde nur eine Schmuckschleife abreißen, die er am Ende noch draufgebunden hat.
Moreno hätte sie einfach weglassen können. Aber sie hat das Paket scheinbar so perfekt gemacht. Und es sind ja nicht nur Journalisten, die solche Schleifen lieben, sondern auch Leser. Claas Relotius war ebenfalls jemand, der scheinbar perfekte Geschichten geschnürt hat, mit Schmuckgirlanden und Lametta.
Diese Parallele gibt den Vorwürfen gegen Moreno eine besondere Wucht. Weil sie den Eindruck verstärkt, dass Journalisten gar nicht anders können, als dem Sog der traumhaften Pointe nachzugeben und nicht dem Zweifel nachzugehen. Selbst wenn sie keine Betrüger sind.
Deshalb ist es besonders ärgerlich, dass sich Moreno so angreifbar gemacht hat. Und trotzdem ist es wichtig, den Maßstab nicht aus den Augen zu verlieren. Moreno ist kein Relotius, in keiner Hinsicht.
Kein Held
Aber vielleicht ist der Fall auch eine gute Mahnung, es mit der Heldenverehrung Morenos nicht zu übertreiben. Die FAZ hatte zum Erscheinen des Buches ohne erkennbaren Unernst angeregt, dass „Spiegel“-Redaktion und -Verlag ihm „ein Denkmal setzen sollten“: „Juan Moreno ist ein Held“, erklärte Medienredakteur Michael Hanfeld damals.
Gerade davor hatte sich Moreno selbst verwahrt – auch in seinem Buch:
Die traurige Wahrheit ist aber, dass ich kein Held bin. Mich macht die Enttarnung des Fälschers Relotius nicht zum Vorbild für Journalisten. Das ist kein guter Ort, an dem ich da bin. Ich kenne meinen Beruf. Ich weiß, was ich, Juan Moreno, der Reporter, denken würde: „Schau an, ein Held, interessant. Mal sehen, wie lange?“
Relotius hat das Recht, mit einem Anwalt gegen Behauptungen vorzugehen, die seiner Meinung nach falsch sind. Er muss sich dafür auch nicht rechtfertigen. Aber wenn er es tut, sollte er es vielleicht nicht mit Sätzen tun, die mit den Worten beginnen: „Ich stelle mich allem, wofür ich verantwortlich bin“, wenn er sich bislang jeder Auseinandersetzung nicht gestellt, sondern entzogen hat. Mit der Aufklärungskommission des „Spiegel“ wollte er nicht reden, auch nicht mit anderen Journalisten. Nun bricht er sein Schweigen – in dem Moment, wenn es gegen den Journalisten geht, wegen dessen Recherchen er aufflog.
Sein Anwalt Christian Schertz formuliert derweil die Frage, „inwiefern es zulässig oder auch ethisch zu verantworten ist, ein Buch über einen Menschen zu schreiben, der erkennbar psychisch erkrankt ist“. Das ist nichts anderes als ein Versuch, Morenos Buch insgesamt zu diskreditieren.
Ich hatte nach den hymnischen Rezensionen überlegt, mir das Buch zu kaufen. Nach Lektüre der Leseprobe im Netz habe ich mich aber dagegen entschieden. Der Duktus und die Erzählweise waren mir einfach zu nah dran an diesem Spiegel-Stil, den Fans als packend beschreiben, ich (und wohl eine ganze Menge andere Leute) aber ziemlich nervtötend finden: Die kurzen Sätze. Hauptsätze. Teils nur Wörter. Ellipsen.
Der bedeutungsschwangere Absatz.
Zu viel. Nicht nur in Hamburg.
Das ist mir zu nah an der auf Effekt gebürsteten Reportage dran, die Relotius als Basis seines Erfolges diente. Ich hätte mir von Moreno eher eine distanzierte Reflektion gewünscht, gerne auch sperrig im Ton und ambivalent im Inhalt – aber vielleicht ist das zu viel verlangt von einem, der selbst seit Jahren der spiegeltypischen Déformation professionnelle unterworfen ist.
Ich halte ihn dennoch für einen verdienstvollen Journalisten. Was ihm jetzt vorgeworfen wird, hat mit Relotius wenig zu tun. Eher schon zeigt es, dass die Reportage á la Spiegel nie so nah an der Wirklichkeit sein kann, wie es ihr Tonfall behauptet.
Ich kann das Buch sehr empfehlen, obwohl ich mich an ein paar Stellen gestoßen habe. (Zugegeben: nicht der mit der Fahrrad-Szene.) Es ist auch nicht wirklich im „Spiegel“-Stil geschrieben, sondern über weite Strecken sehr persönlich.
Sehr kluger Kommentar, vielen Dank!
Zum letzten Absatz, Herr Niggemeier, eine Anmerkung: Beim Fall Bloggerin Hingst und Spiegel-Redakteur Doerry vom Juli 2019 wurde zu Recht nach der Verantwortung gefragt, ob der Spiegel den Text unbedingt veröffentlichen „musste“, welcher möglicherweise mit Suizid von Frau Hingst beitrug. Der Hinweis von Anwalt Schertz zu Relotius erscheint mir nachvollziehbar. Ein Bericht über den Skandal ist legitim – unabhängig von mögliches ggf katastrophalen Folgen für das Leben von Relotius. Mir fehlt der Beleg für Ihre Einschätzung, dass es bei dem Hinweis auf die Psyche nur um Diskreditierung handeln könne. Wenn Relotius sich – Gott bewahre – etwas antuen würde, wäre die Diskussion ganz anders.
Wir tun ja so, als sei die Fahrrad-Episode so etwas wie der ultimative Beleg für Relotius‘ Lügerei (als ob es den noch bräuchte). Dabei sagt die Textstelle doch nur, was der Fall Relotius mit unserer Branche, mit den Kollegen beim „Spiegel“ gemacht hat: Alles ist infrage gestellt. Relotius soll in Behandlung in Süddeutschland sein? Haha, den habe ich doch gerade in Hamburg gesehen!
„Viele Kollegen“ hätten sich die Geschichte erzählt, heißt es bei Stefan Niggemeier bestätigend. Es ist völlig unwichtig, ob die Sekretärin Relotius tatsächlich gesehen hat. Sauberer wäre es sicherlich gewesen, wenn Moreno geschrieben hätte: „Die Frau sagt, sie habe…“. Aber journalistische Texte müssen dem Leser mehr anbieten als eine Aufzählung von Fakten. Sie müssen auch Zusammenhänge herstellen und Folgen beleuchten können.
Das Moreno-Buch tut das – es ist gut und wichtig (und zudem eine spannende Lektüre).
@Jens
Finde auch die Frage interessant, was in so einem Fall passieren würde. Welche Verantwortung ein Autor wie Moreno dann hätte. Oder ob man so ein Buch ohne Gedanken an die möglichen Folgen für die Betroffenen schreiben sollte.
Ich finde die Art der Darstellung in dem Buch auch vertretbar, solange nicht absolut klar ist, dass Relotius mit starken psychischen Problemen zu kämpfen hat.
@Stefan Niggemeier
Ein schöner Kommentar!
„Nicht alles, aber einiges von dem, was Relotius bemängelt, ist Kleinkram.“
Das gilt in weiten Strecken für Relotius‘ Geschichten ebenso. Ob in irgendeinem Örtchen in den USA nun ein Wald ist oder nicht oder wieviele Stufen eine Treppe hatte und all diese Kleinigkeiten wurden durchaus bei Relotius thematisiert.
„Diese Parallele gibt den Vorwürfen gegen Moreno eine besondere Wucht. Weil sie den Eindruck verstärkt, dass Journalisten gar nicht anders können, als dem Sog der traumhaften Pointe nachzugeben und nicht dem Zweifel nachzugehen. Selbst wenn sie keine Betrüger sind.“
Richtig erkannt. Das ist das Grundlegende Problem. Rude schöne Geschichten schreiben zu wollen. Das ist eine Krankheit die man überall findet und die schon viele Artikel/Bücher angreifbar gemacht hat.
Da fehlt es dem Journalismus (einem großen Teil) einfach an der nötigen Selbstreflexion und natürlich auch dem System. Für sachliche Information gibt es ja z.B. auch keine Preise. Sondern nur wenn die Information auch noch spannend verpackt ist und halt eine schöne Geschichte ergibt. Geschichten haben aber nichts mit Journalismus zu tun.
„Und es sind ja nicht nur Journalisten, die solche Schleifen lieben, sondern auch Leser.“
Das liest sich jetzt ein wenig wie „Sie hat aber einen kurzen Rock getragen“. Das ist halt auch so eine Krankheit, auf der einen Seite so tun als ob man „Verantwortung“ übernimmt aber dann doch irgendwie sich noch rechtfertigen mit „aber eigentlich habe ich ja keine andere Wahl gehabt“. Alles zu tiefst menschlich, kann ich verstehen, bin ich am Ende des Tages auch nicht besser, aber erwähnen wollte ich es dennoch. Hier sehe ich keine Not, da der Autor hier ja eigentlich nicht selber der angegriffene ist.
“ Aber journalistische Texte müssen dem Leser mehr anbieten als eine Aufzählung von Fakten. Sie müssen auch Zusammenhänge herstellen und Folgen beleuchten können.“
Eine korrekte Darstellung der Fakten („Eine Sekretärin erzählt, daß sie …“) ist unerläßlich. Tatsächlich hätte diese hier dann auch einen Zusammenhang dargestellt, nur eben einen anderen: nämlich wie von Ihnen erwähnt, dass tatsächlich alles in Frage gestellt ist, auch innerhalb der Branche. Daß Verunsicherung herrscht. Daß auf Verunsicherung Gerüchte blühen.
Insofern sehe ich keinen Widerspruch zwischen akkurater Faktizität und der Vermittlung von Konsequenzen.
@ Jens (#3), Brauses Lolli (#5)
Wenn sich Relotius, was ihm keinesfalls zu wünschen ist, „etwas antun sollte“, dann ist es doch extrem unwahrscheinlich, dass er es speziell wegen Morenos Buch tun würde. Schließlich war sein Ruf schon mit der Aufdeckung seiner zahlreichen Lügengeschichten ruiniert – und das bekanntlich aus gutem Grund.
Ob Relotius tatsächlich psychisch krank und/oder suizidal ist, können wahrscheinlich nur Psychiater beurteilen, die ihn behandeln. Und wenn er suizidgefährdet sein sollte, liegt es in deren Verantwortung, ihn vor sich selbst zu schützen. Diese Verantwortung kann man nicht denen aufbürden, die Relotius` Lügen öffentlich thematisieren – sofern diese ihrerseits bei der Wahrheit bleiben und dem/der Beschuldigten nicht Dinge andichten, die er/sie gar nicht begangen hat.
Es ist übrigens ein weit verbreiteter Irrglaube, jede kriminelle und/oder verwerfliche Tat sei auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen, nur weil sie für die meisten Menschen nicht nachvollziehbar ist. Dass Relotius psychisch krank ist, kann stimmen. Es kann aber auch nur Teil seiner Verteidigungsstrategie sein – sowohl im Hinblick auf ein strafrechtliches Verfahren als auch im Hinblick auf Schadenersatzansprüche, die der SPIEGEL und andere gegen ihn geltend machen könnten.
Der Schlusspunkt des Buchs läuft also darauf hinaus „Haha, den hat jemand radelnd in Hamburg gesehen, obwohl er behauptet, am Tag zuvor noch in Süddeutschland behandelt worden zu sein“?
Mal angenommen es war so: Was spräche eigentlich dagegen sich in Süddeutschland behandeln zu lassen und sich am Tag darauf (warum auch immer) in Hamburg aufzuhalten? Auch eine stationäre Behandlung könnte ggf. unterbrochen worden sein.
Und selbst wenn er da gelogen hätte: Hat die Angabe über den Ort einer psychologischen oder medizinischen Behandlung (die niemanden was angeht) in einem persönlichen Gespräch wirklich irgendetwas Grundsätzliches mit den systematischen Fälschungen als Journalist zu tun? Ich finde diese Präsentation dieser „Anekdote“, selbst wenn sie mehr als nur ein Gerücht gewesen sein sollte, so oder so ziemlich zweifelhaft.
Ich finde, eine Formulierung wie etwa „unter Spiegel-Mitarbeitern erzählt man sich, Relotius wäre in Hamburg auf dem Fahrrad gesehen worden“ wäre sogar die bessere Pointe für das Buch gewesen; das hätte schön die eingetretene Verunsicherung herausgestellt.
Was mir bei Lektüre des Buchs aufgestoßen ist: die unter dem Deckmäntelchen der Aufklärung betriebene Psychologisierung von Relotius. Eingestreute Anekdoten, anhand derer man schon damals den pathologischen Lügner hätte erkennen können, ohne Möglichkeit der Falsifizierung (denn auch die Bescheidenheit gilt als Ausweis für Durchtriebenheit), leitmotivisch mindestens Anklänge an eine Crime-Story – und immer wieder dieser besorgt-resignierte Ton, als ob man einem forensischen Psychiater zuhören würde.
Das Buch ist relevant und lesenswert, weil auch die Strukturen beleuchtet werden, die so eine „Erfolgsgeschichte“ überhaupt ermöglicht haben, aber eine etwas nüchternere Darstellung wäre doch wünschenswert gewesen.
Hätte er im vorletzten Satz ein „angeblich“ eingefügt, wäre die Pointe um keinen Deut schlechter gewesen.
Aber Morenius (sorry: Moreno) jetzt aus dem Schneider.
Warum ist Relotius eigtl. „erkennbar psychisch erkrankt“? Was genau meint Schertz damit? Hält er (und sein Mandant) das Handeln seines Mandanten für krankheitsbedingt oder bezieht er sich auf eine Folge durch die Aufdeckung des Skandals? Und woran erkennt man das als Nichtpsychiater?
Aber davon abgesehen und den Umstand einer psych. Erkrankung als wahr annehmend: Natürlich stellt sich dann die Frage der ethischen Zulässigkeit, ein Buch über einen Kranken gegen dessen Willen und ohne Anonymisierung zu schreiben. Das Entscheidende ist, wie man diese Frage beantwortet.
Die Fahrradgeschichte hat wenig Beweiskraft, nicht nur, weil sie auf Hörensagen beruht, sondern weil, wenn sie stimmt, auch die Kliniklüge durchaus nachvollziehbar wäre. Privat erzählt doch jeder jeden Tag Lügen, und sei es nur, um einen Ex-Kollegen von einem Besuch abzuhalten (bin weit weg in Süddeutschland) oder ihn zu beruhigen (geht schon viel besser, bin in Behandlung, Fortschritte).
@Lars: Genau das meine ich auch. Das würde für mich in die Kategorie „Alltagslüge“ fallen, von der sich wohl niemand freisprechen kann. Zumal, wenn es um so ein Thema wie psychische Erkrankungen geht. Das ist etwas anderes als das, was Relotius als Journalist „berufsmäßig“ betrieben hat. Falls es so war, sagt es nichts über vermeintlich notorisches Hochstaplertum aus, mit der man Karriere als Journalist gemacht hat. Schon deshalb ist es alles andere als eine „gute Pointe“.
Ich fand das Buch gut, weil es spannend geschrieben ist, reflektiert und eine Innenschau bietet, die einen nicht unbedingt beruhigt, aber die Augen öffnet.
Gestutzt habe ich nur beim Eingangszitat von Kapitel 3. Dort wird Bestsellerautor David Baladacci zititiert. Drunter steht auch „davor Journalist“. Ich habe mich zufällig gerade mit dem beschäftigt und kann beim besten Willen keine Quelle finden, die das bestätigt. Er war Jurist und erfand fiktiv einen Journalisten für ein Buch, war aber selbst keiner. Das mag ein nerviger Hinweis eines besserwisserischen Lesers sei, der inzwischen überall Gespenster sieht, aber sollte ich Recht haben, ein unschöner Detailfehler und das in einem Buch über lügende und falsch berichtende Presse.
@ Lars (#14)
„Warum ist Relotius eigtl. „erkennbar psychisch erkrankt“? (…) Und woran erkennt man das als Nichtpsychiater?“
Überhaupt nicht. Selbst für Psychiater ist das manchmal schwer zu erkennen und sie können in bestimmten Fällen nur Hypothesen dazu abliefern und keine fertigen Wahrheiten servieren.
„Aber davon abgesehen und den Umstand einer psych. Erkrankung als wahr annehmend: Natürlich stellt sich dann die Frage der ethischen Zulässigkeit, ein Buch über einen Kranken gegen dessen Willen und ohne Anonymisierung zu schreiben.“
Was hätte eine Anonymisierung in diesem Fall bringen sollen? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Öffentlichkeit den Namen des als notorischen Lügner enttarnten Star-Reporters innerhalb eines Dreivierteljahres vergessen hätte – zumal das Internet ja bekanntlich nichts vergisst? Und außerdem: Welchen zusätzlichen Schaden soll Morenos Buch Relotius` Ruf zufügen, den er nicht bereits durch das Auffliegen seiner Lügen und Fälschungen erlitten hat?
Natürlich muss man auch über die Taten eines möglicherweise psychisch kranken Menschen berichten, sofern sie hinreichend relevant sind. Oder hätte man über den Mann, der in Frankfurt ein achtjähriges Kind vor den Zug geschubst hat, nicht berichten sollen? Auch da wird ja eine wahnhafte Erkrankung als Hintergrund vermutet.
In einer zivilisierten Gesellschaft sollte das Urteil der Öffentlichkeit über einen psychisch kranken Straftäter (der möglicherweise aufgrund seines seelischen Zustandes gar nicht anders handeln konnte) doch eher gnädiger ausfallen als über einen Täter, der im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ein Verbrechen begangen hat.
Mich würde ja ein Buch von Claas Relotius selber viel mehr interessieren, als dieses von Moreno.
Ansonsten kann ich persönlich – sicher aus mangelnder Information – nicht so trennscharf wie Übermedien den Unterschied zwischen Relotius und Moreno erkennen.
Allerdings bestätigt mich dieser Sachverhalt darin, dass das System falsch ist und Relotius nur ein Symptom war.
@Tommix: Ich helfe Ihnen:
Relotius hat in großem Stil Zitate, Personen, Begebenheiten erfunden.
Moreno war vielleicht an ein paar Stellen ungenau oder hat Dinge nicht genug überprüft.
@ Lars #14 @ Philipp #17
Erneut schlechter Stil von Schertz, in der Auseinandersetzung mit Juan Moreno nun die angebliche Erkrankung von Relotius quasi als Hauptargument anzuführen. Er will damit gefühlte Fakten schaffen.
‚Erkennbar psychisch erkrankt‘, behauptet er. Tatsächlich? Für wen ‚erkennbar‘? Dazu wurden bereits einige Gedanken geäußert. Als Laie denkt man sich das, mehr aber auch nicht. Schertz weiß in diesem Fall, bei diesem Zitat, gewiss genau, was er tut. Sonst nicht immer. Inhaltlich muss man sich vor ihm ohnehin nicht fürchten, er rasselt halt gern mit dem Säbel.
Anyway. Verantwortungsvolle Anwälte, denen Selbstmarketing weniger wichtig ist, hätten einem Relotius womöglich geraten, keine rechtlichen Maßnahmen einzuleiten. In diesem Fall sieht es doch eher anders aus. DIE ZEIT wurde vorab bedient und konnte eine Breitseite abfeuern. Diesen Doppelpass, nicht der erste zwischen Anwalt und Wochenzeitung, zu beleuchten, wäre ein ebenso feines Medienthema. Kommt derzeit viel zu kurz.
Nun ja, man kann Scherz und Relotius nicht vorwerfen, dass sie das Buch kritisieren, das dürfte Teil einer Verteidigungsstrategie sein. In Ich behaupte mal keck, dass in jedem Buch dieses Umfangs größere und kleinere Fehler zu finden sind, das ist praktisch unvermeidbar, wenn man keine Spiegel-Dok im Rücken hat – kleiner Scherz am Rande.
Was man Moreno vorwerfen könnte ist, dass er das Buch sozusagen im Stil einer großen Spiegel-Reportabe geschrieben hat. Das macht es spannend und gut zu lesen, aber es ist schwierig, CR zu kritisieren, dass er ganze Reportagen erfunden hat und das Medium Reportage das begünstigt, wenn man seine Kritik im gleichen Format verfasst. Da er außerdem maßgeblich beteiligt und nicht nur Beobachter war, ist das mit der Objektivität eher schwierig.
Insofern hat im CR vielleicht sogar einen Gefallen getan: Dadurch, dass er nur eine Handvoll relevanter Stellen kritisiert sagt er ja indirekt, dass der Rest soweit es ihn betrifft nicht ernsthaft anfechtbar ist.
@Domingos: Aber Moreno hat das Buch nicht im Stil einer großen „Spiegel“-Reportage geschrieben und schon gar nicht mit dem Anspruch von Objektivität. Es ist ein sehr persönliches, subjektiv geschriebenes Buch.
„inwiefern es zulässig oder auch ethisch zu verantworten ist, ein Buch über einen Menschen zu schreiben, der erkennbar psychisch erkrankt ist“
Es gibt Menschen, die auf den ersten Blick erkennbar psychisch krank sind. Bedauernswerte Personen, beim Anblick fragt man sich unwillkürlich was wäre wenn meine Kinder …
Ansonsten ist Psycho ein Feld für nahezu unbegrenzten Missbrauch, in vielerlei Hinsicht. Der Missbrauch in den totalitären Systemen des letzten Jahrhunderts ist dokumentiert, der zeitgenössische blitzt ab und zu auf, z.B. im Fall Gustl Mollath.
Eine andere Form des Missbrauchs ist die Konstruktion besonderen Schutzbedarfs mit Verweis auf psychische Erkrankungen, gar Selbstmordgefahr.
Für solche Fälle gilt: Lasst Euch nicht verarxen.
Es gibt kein Selbstmordgefährdeten außerhalb der Geschlossenen (bei der Diagnose ist die sofortige Einweisung Pflicht).
Und solange wir Schertz (oder Relotius selbst) kein Attest vorlegt, kann man das Psycho-Geschwätz getrost ignorieren.
Natürlich ist Relotius ein spezieller Fall, aber weisgott nicht der erste.
Die erfolgreichsten Betrüger sind jene, die in der eigenen Wahrnehmung keine sind.
Einem berechnenden Betrüger sieht man irgendwie an, dass es ihn Kraft kostet, sein sich selbst in seinem Lügengespinst nicht zu verlaufen. Die geborenen Betrüger haben das Problem nicht. Die wirken glaubhaft, weil sie locker daherkommen.
Ein prominenter Fall war Jürgen Harksen, der die Hamburger Schickeria ordentlich abgezockt hat. Der hatte keine Selbstzweifel, deshalb lief das erst mal so gut für ihn.
Offenbar ist Relotius ein ähnlicher Fall. Beide sind geborene Betrüger. Aber eine Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit liegt nicht mal ansatzweise vor.
@Sachse: Wollen Sie Ihren Unsinn nicht woanders abladen?
Was das „erkennbar psychisch erkrankt“ angeht, so denke auch ich, dass das durchaus einfach der Versuch seines Anwaltes sein kann, Relotius zu exkulpieren und Verständnis für ihn zu wecken, und Morenos Buch zu delegitimieren. (Manche) Anwälte scheinen in solchen Zusammenhängen oftmals wenig Skrupel zu kennen und alles in die Waagschale zu werfen, was ihnen brauchbar vorkommt.
Das in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Verhalten von Relotius (soweit ich es kenne, ich habe mich nicht umfassend in das Thema eingearbeitet) würde für sich genommen m.E. aber wohl kaum genügen, damit Relotius (während der Zeit seines Betrügens) schon als „psychisch krank“ gelten würde.
Es gibt zwar das Konzept der „Pseudologia phantastica“, des krankhaften Lügens; aber mal abgesehen von der Frage, inwieweit das als eigenständige „Störung“ eingeordnet wird, scheint es doch recht fraglich, ob Relotius‘ damaliges Verhalten unter diesen Begriff fällt.
All das natürlich unter dem Vorbehalt, dass wir nichts Genaues über Relotius‘ damalige (oder auch heutige) psychische Verfassung wissen.
Zudem ist es natürlich durchaus möglich, dass Relotius aufgrund des spektakulären Zusammenbruchs seiner Karriere nun in einer tiefen persönlichen Krise steckt, eventuell auch, dass er instabil ist.
@ Philipp:
„Selbst für Psychiater ist das [Vorliegen einer psychische Krankheit] manchmal schwer zu erkennen und sie können in bestimmten Fällen nur Hypothesen dazu abliefern und keine fertigen Wahrheiten servieren.“
Und man bedenke auch, dass für die meisten psychischen Störungen keine „natürlichen Grenzen“ existieren, sondern solche „Störungen“ auf (normativen) Festlegungen beruhen, ab wann ein Erleben oder Verhalten als so belastend, irritierend und ungewöhnlich ist, dass es als „krankhaft“ (bzw, als „Störung“) gelten soll.
Für die Abgrenzung verschiedener psychiatrischer Störungsbilder gilt mehr oder weniger das gleiche – auch hier werden Grenzen oftmals eher pragmatisch durch Definition gezogen als natürlich vorgefunden.
Hinzu kommen Probleme mit der Interrater-Reliabilität, also mit dem Ausmaß, in dem Diagnostiker mit ihren Diagnosen übereinstimmen.
All das macht die Sache nicht unkompliziert.
@ Sachse:
„Es gibt kein Selbstmordgefährdeten außerhalb der Geschlossenen (bei der Diagnose ist die sofortige Einweisung Pflicht).“
Insbesondere bei Depressionen ist das Suizid-Risiko deutlich erhöht; aber bei Weitem nicht alle alle Depressiven befinden sich in in einer geschlossenen Abteilung.
Ich finde es, ehrlich gesagt, gar nicht entscheidend, ob der Mann psychisch krank ist oder nicht. Kein seriöser Psychiater würde sich da eine „Ferndiagnose“ leisten. („Lügen“ ist erst einmal auch keine psychiatrische Diagnose; allenfalls wäre es ein Hinweis oder Symptom. Abgesehen davon gibt es bekanntlich einen erheblich notorischeren Lügner, der eine westliche Großmacht regiert. Anderes Thema.)
Egal also, ob krank oder nicht: der eigentliche Skandal ist doch nicht Relotius, sondern „Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ (Untertitel). Der Mann ist mit oder ohne Schlusspointe unglaubwürdig. Der eigentliche Skandal ist aber doch, dass es möglich ist, dass er eine derartige Karriere usw. hinlegen kann, und dass es offensichtlich keinerlei Kontrollmechanismen gab, die das veehindern könnten. M.E. leistet Morenos Buch einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung dieser Sachverhalte.
Solange die Fakten stimmen und es um die subjektive Sicht von Herrn Moreno geht, finde ich dagegen nichts einzuwenden. Die Aussage des Anwalts ist sicherlich auch eine Schutzbehauptung für seinen Mandanten. Aber das kann doch nicht bedeuten, dass keine Lügen und dergleichen mehr aufgedeckt werden können, weil es ja sein könn-te, dass der Urheber ja suizidgefährdet sein könn-te etc.pp. (Wäre es so, wünschte man ihm lieber einen Arzt als einen Anwalt. Nicht zuletzt führt der arme kranke Verfolgte ja einen Prozess wegen Kleinigkeiten. Und in diese Lage hat er sich selbst gebracht, das war nun einmal nicht Moreno.)
@ Sachse
Oje, Küchenpsychologie Alarm.
Vor allem schlechte Küchenpsychologie….!
Was man aber klar trennen sollte (wenn man kann und willens ist),das eine gerichtliche Aufarbeitung im Rahmen einer juristischen …hüstel …Schlammschlacht sich von der journalistischen Verarbeitung unterscheidet!!!
Natürlich wird aus Verfahren einiges die „Lügenpresse“-Vorwürfe bestätigen und
so ein selektiver Leser wie unser „Sachse“
(willkürlich zufällig ausgesucht,ich schwör)
sich seinen sehr eigenen Reim drauf machen und hier veröffentlichen ;-) wollen müssen!
Aber ich verlasse mich darauf, das hier wie sonst auch, sowohl die menschliche wie auch die fachliche Seite der Geschichte weiterhin im Auge behalten wird .
Weil Stefan Niggemeier einfach gut ist 1!!Elf!!11!
Wenn das Buch wirklich geeignet wäre, bei Relotius einen Selbstmord auszulösen, sollte man ihn davon abhalten, es zu lesen.
Ansonsten ist das jetzt das ultimative Totschlagargument; da psychologische Probleme nicht immer offensichtlich sind, kann jeder welche haben, also könnte jeder Mensch bei negativer Berichterstattung Selbstmord begehen, also sollte man über niemanden negativ schreiben (oder reden).
Dieses Argument gilt selbst dann noch, wenn Relotius tatsächlich ein Attest hat. Bei den heutigen Wartezeiten für Therapieplätze…
Langsam wird es off Topic, aber das muss ich doch gerade mal loswerden, sorry:
@23, Sachse:
Sie sagten:
„Es gibt kein Selbstmordgefährdeten außerhalb der Geschlossenen (bei der Diagnose ist die sofortige Einweisung Pflicht).“
Ich wünschte es wäre so. Ich weiß von einem Fall, in dem jemand mit entsprechender Neigung sich selbst einweisen lassen wollte, als „noch nicht krank genug“ abgewiesen wurde und seiner Neigung wenig später leider erfolgreich nachgegangen ist.
Erklären Sie das mal den Hinterbliebenen.
#25, LLL, fasst es im letzten Absatz allgemeiner und nicht an einem solchen verheerenden Einzelfall zusammen. Mit solchen Aussagen sollte man daher sehr vorsichtig sein.
Ich würde um die schnellstmögliche Löschung des obigen Kommentars von Sachse bitten, der in IMHO durchaus gefährlicher Weise Selbstmordtendenzen verharmlost und in der Lage ist, psychisch Erkrankte zu verunsichern, darüber hinaus ein Beispiel von vollkommener Ahnungslosigkeit bei unangemessen groß aufgerissener Schnauze ist. Das Thema Suizid und Depression ist bei Weitem zu gefährlich, um es empathiefreien Idioten zu überlassen.
(Ich wunder mich aber eh, warum ein offener Neonazi hier unmoderiert kommentieren darf. Das ist aber eine andere Baustelle.)
(Falls jemand wissen will, warum Menschen mit psychischen Erkrankungen ungern offen darüber reden: wegen Menschen wie Sachse.)
Diese hier zitierte Pointe ist geschickt formuliert. Letztlich ist es keine absolute Tatsachenbehauptung. Der Leser kann nachvollziehen, dass der Autor hier eine Information aus dritter Hand weitergibt, er lässt keinen Zweifel daran offen, dass ihm ein Kollege berichtete, was er wiederum von einer Sekretärin gehört hat. Insofern hat Herr Moreno nicht gesagt, dass sein Ex-Kollege tatsächlich in Hamburg gesichtet wurde, statt in der Klinik therapiert zu werden.
Durch die Nutzung des Perfekt und den Verzicht auf den Konjunktiv wiederum suggeriert die Anekdote, dass es tatsächlich so gewesen ist.
Satzbau und grammatische Form verursachen die Wirkung beim Leser, die Stefan Niggemeier dann auch sehr nachvollziehbar beschreibt.
Da aber klar dargestellt wird, wie der Autor zu dieser Information kam, kann dem Leser durchaus abverlangt werden, dass es durchaus Zweifel an der Richtigkeit der Episode geben kann.
@Stefan Niggemeier
Wie bewerten Sie diese Aussage und das gesamte Interview von Moreno auf den Münchner Medientagen?
https://twitter.com/tibor/status/1187716192968069120
[gelöscht]
„Ein Kollege im „Spiegel“ erreichte Relotius einige Monate nach Ende des Skandals. Relotius behauptete, dass er gerade in einer Klinik in Süddeutschland sei.“
Und kurze Zeit später:
„Weder habe die Sekretärin (die nicht mit Moreno gesprochen hat) Relotius auf dem Rad zweifelsfrei erkannt, noch stimme der geschilderte zeitliche Zusammenhang. Moreno sagt der ZEIT auf Nachfrage, ein Kollege habe ihm die Geschichte so erzählt.“
Es steht doch offenbar genau so im Buch, dass ein Kollege ihm die Geschichte so erzählt hat. Ich erkenne das Problem dabei nicht.
Es geht um das, was die Sekretärin erzählt oder gesehen hat.
@Stefan Niggemeier
„Und sie ist für Relotius natürlich besonders problematisch.“
Moreno. Nicht Relotius.
Ansonsten wieder mal gute Arbeit.
Relotius. Für ihn ist sie besonders problematisch, weil sie ihm unterstellt, mit dem Lügen immer noch nicht aufgehört zu haben.
Ich habe das leicht Thriller-mäßige Buch gerne – und mit in Folge nun ein paar Desillusionen über den Reportage-Journalismus mehr – gelesen. Ich erinnere mich aber dunkel aus den Presse-Berichten von Ende letzten Jahres, dass bei der Entlarvung des Schwindels noch ein paar E-Mails von zwei Journalisten (? – oder Bewohnern jedenfalls) aus Fergus Falls (!) an die Spiegel-Chefs eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.
Wird das bei Moreno überhaupt erwähnt?
@Formanek: Zwei Bewohner von Fergus Falls haben diesen Text veröffentlicht, aber erst am Tag, nachdem der „Spiegel“ den Fall Relotius öffentlich gemacht hat: https://medium.com/@micheleanderson/der-spiegel-journalist-messed-with-the-wrong-small-town-d92f3e0e01a7
Das kommt auch (kurz) in Morenos Buch vor.
Das Interview von Gutjahr mit Moreno bei den Münchner Medientagen ist wirklich ganz interessant:
https://www.youtube.com/watch?v=E190iX-3678
Was hinsichtlich der besagten Schlusspointe im Buch bemerkenswert war (ca. ab Min 15:40 im Video): Moreno verweist darauf, dass die Sekretärin diese Geschichte einer ganzen Reihe von Personen erzählt habe („Ich habe natürlich 30 Quellen dazu…“). Das macht auf mich den Eindruck, dass er überhaupt nicht verstanden hat, worin die Problematik liegt.
Die Möglichkeit, die Sekretärin selbst zu befragen, wird dann auch gar nicht weiter angesprochen. Was nahelegt, dass Moreno den Unterschied zwischen einer Primär- und einer Sekundärquelle nicht versteht. Er versteht offenbar nicht, dass es nicht allein darum geht, ob die Sekretärin diese Geschichte jemandem erzählt hat, sondern auch wie er das Ganze in seinem Buch rezipiert. Einerseits diese Geschichte nach dem Motto zu präsentieren „Ha, er lügt also immer noch!“ und andererseits sich darauf zurückzuziehen, damit doch nur eine Geschichte vom Hörensagen wiederzugeben, ist nicht besonders überzeugend.
Was ich mich auch frage: Wie findet das eigentlich die Sekretärin, dass sie jetzt zu so einer Kronzeugin für Morenos effektvollen Buchschluss geworden ist, ohne von ihm selbst dazu befragt worden zu sein?
Sehe gerade, dass die Stelle im Video, wo es um die Quellenlage und die „Beweisbarkeit“ der Schlusspassage geht, schon früher beginnt, ca. ab Minute 8 geht es dann um die besagte „Fahrradsichtung“.
Gutjahr wendet dann noch ein: „Meine Nachbarin kann auch 30 Leuten was erzählen…“ Moreno darauf: „Und das glauben Sie dann nicht?“
Puh, das hört sich wirklich so an, als ob er der Überzeugung wäre, dass eine Geschichte umso glaubwürdiger wird, je mehr Leuten sie erzählt wird.
Tja, zum System Relotius kommt nun noch das System Schertz-Bergmann hinzu, mit dem ich seinerzeit auch Bekanntschaft machen durfte (im Verfahren gegen Super-Nanny Saalfrank): Die Anwaltskanzlei fährt genau nach der Strategie, Nichtigkeiten zu bemängeln, Nebenkriegsschauplätze aufzumachen – und das wohl gemerkt am liebsten in getrennten Verfahren, damit es dann auch bitte besonders teuer wird. Den Gegner finanziell ausbluten lassen und ihn abzumahnen bis er müde wird – das ist das Prinzip. Ich wünsche Herrn Moreno viel Spaß dabei!
Ich bin kein Journalist, habe hier nur gelesen.
Aber ich muss schon sagen, die Versuche der Entschuldigung Morenos, besonders der Passage mit dem Fahrrad am Ende, nehmen (auch aufgrund der schieren Masse der Beiträge, die genau das versuchen) schon absurd-groteske Züge an.
Die beiden Beiträge von „Ilse Bill“ und von „TM“ sind eigentlich die einzigen in diesem langen Thread, die das so nicht durchgehen lassen wollen, womit gemeint ist: Das was man Relotius (zurecht) ankreidete, soll jetzt bei Moreno auf einmal nur Pillepalle sein, „kleine Ungenauigkeiten“ , Hörensagen (nicht als solches gekennzeichnet) und sowas eben.
Der strahlende Held sitzt wie im Märchen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im weissen Gewand auf einem weissen Schimmel und da darf jetzt kein Grauschleier draufkommen, aber auch wirklich gar keiner. Das Bild ist einfach zu schön. – Notfalls muss eben mit Persil nachgeholfen, bzw. mit einem Persilschein.
Leute, wenn ihr herzergreifende Märchen wollt, dann schaut euch den Film im Fernsehen an, er läuft ja halt wieder um Heiligabend und er ist ja auch wirklich sehr schön.
Aber wenn es um die Beurteilung von Sachverhalten geht, die euer berufliches Handwerk betreffen, dann lässt die Märchen da bitte wirklich raus und erinnert euch besser daran, was ihr alle (hoffentlich) mal dazu gelernt habt.
Das Relotius gelogen hat, dass sich die Balken biegen und das er wahrscheinlich auch nicht nur hehre Motive mit seiner Klage verfolgt, das steht sicher ausser Frage.
Aber das sollte trotzdem kein Grund sein, deshalb bei anderen alle Fünfe gerade sein zu lassen. Zwei plus Zwei bleibt trotzden vier und eben nicht fünf, daran ändert sich eh nix, egal was ihr sagt. Ihr macht euch nur unglaubwürdig mit sowas.
@Holger:
Das ist nicht das, was man Relotius ankreidete.
Und einen Persilschein hat Moreno hier ungefähr niemand ausgestellt.
@Stefan:
Ich habe mir damals das Spiegel-PDF heruntergeladen und auch wirklich alles durchgelesen, weil es mich einfach interessiert hat.
Und deshalb muss ich Dir hier auch widersprechen: Doch das ist schon das, was man Herrn Relotius (unter anderem natürlich) auch ankreidete.
Das das Ausmaß bei Relotius natürlich ein ganz anderes ist, das ist schon klar, genauso wie das, das er zusätzlich noch ganz andere Sachen gemacht hat.
Aber Höhrensagen ohne Hinweis darauf, das es genau das nur ist einfach so für einen schönen Schluss reinzuschreiben, das ist kein Flüchtigkeitsfehler mehr, jedenfalls nicht für mich.
Deshalb ist er kein Relotius, aber eben ein (OK: freier) Spiegel-Mitarbeiter und das merkt man dem Buch an eben dieser Stelle leider sehr unschön an, denn sowas sollte es ( so schnell ) nach Relotius doch eigentlich eher nicht mehr geben oder hatte ich da damals was falsch verstanden?
Gut, er hat es privat geschrieben, nein, er hatte keine Spiegel-Dokumentation im Rücken aber ausgerechnet er, sollte so etwas – nach allem was war – doch wohl zumindest in diesem Punkt auch nicht brauchen.
Der Schluss mit dem Fahrrad ist ja auch nicht irgendein Satz in dem dicken Buch, sondern, er ist der letzte Punkt, den man – wie den Anfang – mit besonderem Bedacht wählt.
Tut mir leid, Stefan aber Zwei plus Zwei bleibt vier.
@Holger: Ich hab das oben schon mal geschrieben und bleibe dabei: Relotius hat in großem Stil Zitate, Personen, Begebenheiten erfunden. Moreno war vielleicht an ein paar Stellen ungenau oder hat Dinge nicht genug überprüft. Das ist nicht dasselbe.
Das heißt nicht, dass das okay ist oder unproblematisch, und warum es genau an dieser Stelle besonders problematisch ist, habe ich ja oben geschrieben, insofern erscheint mir diese Auseinandersetzung hier jetzt auch ein bisschen merkwürdig. Dass Moreno auch nur irgendein „Märchen“ aufgeschrieben hat, ist aber zumindest vorläufig auch noch unbewiesen. Soviel Genauigkeit darf dann auch sein.
Wie wäre es denn, einfach mal abzuwarten, wie die Gerichte entscheiden (dort liegt der Fall nun ja, nach Relotius‘ Klage auf Unterlassung)?
Dort wird sich dann voraussichtlich entscheiden, ob Moreno auf Basis von Hörensagen „eine Schleife gebunden“ hat – oder ob Relotius einfach weiter lügt. Also z.B. gar nicht in Therapie (weder in Süddeutschland, noch sonstwo), sondern radelnd in Hamburg war. Soviel Geduld MUSS sein.
Sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang: Morenos Auftritt an den MTM – spür- und nachvollziehbar „angefasst“ ob des Umstandes, dass man ihn in eine Schublade mit dem Grossfälscher Relotius stecken will:
https://www.youtube.com/watch?v=E190iX-3678
Wenn man ein wenig recherchiert, findet man den Anwalt Schertz als keynotespeaker bei der UFA, auf der Gaesteliste von Produzententreffen und bei diesem Syposium (Veranstaltungen im Fachbereich 4
25.01.2019 Frankfurt UAS – Aktuelles
Symposium zu Presse- und Medienfreiheit in der EU) Dort steht, dass Schertz gegenwaertig ( also zum Zeitpunkt des Symposius die UFA vertritt. Wir erinnern uns, die UFA wird den Film ueber Relotius realisieren. Kann man annehmen, dass die UFA gerne Relotius fuer den Film verpflichten wuerde? Denke schon. Mal sehen.
Gamz allgemein gesprochen. Wenn ich mir einen Anwalt nehme möchte ich schon sicher sein dass mein Anwalt meine Interessen vertritt und nicht über Umwege die eines anderen Mandanten der Kanzlei.
Liebe PRINTjournalisten, im Gegensatz zu uns Fernsehfritzen habt Ihr einen echt easy Job. Ihr müsst recherchieren, mit paar Leuten reden oder telefonieren, ne Geschichte schreiben – zack, fertig. (An diesem Punkt beginnt UNSERE Arbeit überhaupt erst) Ihr seid alleine unterwegs-kein Tonassi sagt Euch hinterher: Alter, das hat der so nie gesagt! Wir Fernsehfritzen aber REDEN zumindest mit unseren Protagonisten – ohne die es keinen Film gibt. (Ja, wir schneiden uns hinterher das raus, was wir wollen-aber wir treffen die immerhin persönlich!) Ich verstehe überhaupt nicht, wie man als Journalist Bücher oder Artikel über Leute schreiben oder über sie reden kann, ohne ihnen je begegnet zu sein. okay, Mick Jagger oder der Pabst, über die kann man auch so schreiben. Aber über einen Kollegen, der in derselben kleinen Company arbeitet und der täglich übern Gang läuft, den man beim Essen und aufm Klo trifft und mit dem man grosse Projekte gemeinsam bearbeitet!?! Echt jetzt!? Den ruft auch nach seinem Ausscheiden keiner mal an ( War das nicht der netteste von allen Spiegel-Fredis?!?)) oder konfrontiert ihn so wie Journalisten das mit Menschen tun, die sich weit weniger zu Schulden haben kommen lassen? Warum schickt ihr nicht nen Kollegen von der Bild oder nen Detektiv oder fahrt selbst hin, um rauszufinden ob er in Reha ist oder in Hamburg Party macht -das ist doch nicht so schwer. Sowas klär ich doch, bevor ich darüber in einem Buch spekuliere .. (@Juan: Ich kenne Leute, die haben Elvis an der Supermarktkasse in Wuppertal getroffen..haben sie mir erzählt. Ehrlich. Der kauft dort immer Toastbrot.. Fürs TV schwierig umzusetzen-aber ich könnte eine Knaller-Story schreiben..,)
Also ich würde das immer checken. Erst recht, wenn ich jemand vorwerfe, er schreibe Geschichten über Leute, die er nie getroffen hat…
Die Einwände gegen Moreno sind ja weitgehend Peanuts. Aber, warum ist er nicht hingegangen, und hat die Preise, die Relotius mal gewonnen hat, einfach nachgezählt? Okay, ist vielleicht ein, zwei Stunden eher fade Internetarbeit. Das sollte man als Leser jedoch erwarten dürfen – gerade bei einem Top-Rechercheur und Spiegel-Reporter.
MARC RITTER
29. OKTOBER 2019 UM 16:12 UHR:
(…)
Sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang: Morenos Auftritt an den MTM – spür- und nachvollziehbar „angefasst“ ob des Umstandes, dass man ihn in eine Schublade mit dem Grossfälscher Relotius stecken will:
https://www.youtube.com/watch?v=E190iX-3678
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Danke für den Link, habe es mir gerade angeschaut und es war schon interessant.
Und wie es der Teufel will: Genau die letzte Szene mit dem Fahrrad spielte ja auch dort eine zentrale Rolle, als der Interviewer gleich zu Beginn fragte, womit er denn beim Buch jetzt anfangen soll, mit dem Anfang oder mit dem Schluss?
Danach hat ihm der Moderator wirklich sehr viel Zeit gegeben sich zu äußern, Moreno hat auch sehr viel gesprochen aber jetzt ganz ehrlich:
Überzeugend fand ich das alles von Gefühl her irgendwie nicht.
Besonders als der Moderator ihn fragte, ob er denn zwei unabhängige Quellen für die Fahrradgeschichte hat und Moreno sich zu der Behauptung verstieg, er hätte nicht nur zwei, sondern sogar dreißig Quellen, denn die Sekretärin hätte es ja ungefähr so vielen Leuten erzählt, das fand ich nicht nur lächerlich, sondern da rutschte es wirklich schon ins alberne ab.
Also Selbstkritik ist seine Stärke jedenfalls schon mal nicht, scheint mir.
Das richtig Blöde an der ganzen Geschichte ist aber, dass sich mittlerweile bei mir ein leises aber eben doch wahrnehmbares Gefühl des Mitleids mit Relotius einschleicht, ich kann mir nicht helfen. Es ärgert mich, das dies so ist, es ist nicht rational und trotzdem:
Wenn jetzt alle, aber auch wirklich alle wie der Teufel auf ihn eindreschen, dann denke ich mir, hier stimmt doch irgendwas nicht.
Relotius wird quasi als die Inkarnation des Bösen an sich hingestellt und das allerdings scheint mir nun aber wirklich zuviel des „Guten“
Herrgott, hätten die Leute beim Spiegel – egal ob Dokumentation oder seine Vorgesetzten – ihre Arbeit richtig gemacht (zu der nun mal auch Kontrolle gehört!) , dann hätte es niemals so weit kommen können, das wäre vollkommen unmöglich gewesen.
Relotius mag eine Sumpfblüte sein, aber selbst die braucht zum Wachsen ja nun mal zwingend auch einen Sumpf und der ist meistens unendlich größer als die Blüte, allerdings eben nicht so auffällig. Alle aber schauen nur auf die Blüte und zerreißen sich über die das Maul.
Eine Blüte zu knicken geht auch schnell, einen Sumpf trocken zu legen aber, das macht sehr viel mehr Arbeit und das muss man auch erstmal wirklich wollen – und dann natürlich auch noch können.
Was ich sagen will: Relotius hat viel Schuld auf sich geladen aber er ist nicht der allein Schuldige und diejenigen, die Relotius erst möglich gemacht haben, durch Inkompetenz, Bequemlichkeit, Preisverliebtheit und vieles mehr, die sollten gefälligst ihren Teil dieser Schuld jetzt auch übernehmen.
Aber bei allen Diskussionen geht es (von sehr seltenen Ausnahmen mal abgesehen) immer nur um Relotius, der Spiegel wird bestenfalls am Rande mal mit erwähnt und dann oft auch noch lobend, wo Lob nun aber gerade das letzte ist, was hier angebracht wäre.
Alle lassen sich besoffen machen von der ach so tollen und rücksichtslosen Aufklärung und Selbstkasteiung des Spiegel und vergessen dabei, dass diese ja keineswegs freiwillig erfolgte, sondern erst, als Moreno damit drohte, dann eben alleine an die Öffentlichkeit gehen zu wollen.
Erst da, als den Verantwortlichen dort klar wurde, dass der Skandal so oder so nicht mehr zu verhindern ist und Moreno das wirklich ernst meint, entschied man sich (in letzter Minute!) für den klügsten Weg, nämlich sich an die Spitze der Lawine zu setzen, um nicht von ihr überrollt zu werden.
Man wählte eine Vierergruppe, die das alles unabhängig untersuchen sollte, allerdings gar so unabhängig dann auch wieder nicht, zwei ehemalige Spiegel-Leute sollten wohl sicherstellen, dass die Richtung der Unabhängigkeit auch stimmte.
Und was der Spiegel dann gemacht hat, das war sehr schlau: Er hat eine Riesengeschichte daraus gemacht, die sich auch noch bestens verkauft hat, das kann ja nun keiner bestreiten.
Alle diese Selbstkasteiungen und Canossagänge waren nicht nur gut fürs Image, sondern durchaus auch fürs Geschäft, das scheint mir an der Zeit, das nämlich auch mal auszusprechen.
Und was ist denn aber nun mit dem Sumpf passiert?
Ein paar Leute mussten gehen, zwei wurden nicht befördert , das Gesellschaftsressort wurde in Reporter umbenannt und als Krönung der ach so unerbittlichen Maßnahmen darf das Gesellschaftsressort (Reporter) seine zentralen Seiten alle behalten, muss aber ab und zu auch mal einen Artikel aus anderen Ressorts dort Platz gewähren.
Das war’s auch schon im großen und ganzen. – Und genau das reicht meiner Meinung nach nicht.
Darüber sollte man mal (deutlich mehr als bis jetzt!) schreiben und diskutieren, als die gefühlt tausendste Hetzjagd auf Relotius zu veranstalten.
Ich will Relotius Schuld hier gar nicht relativieren, denn wenn man alle Umstände wirklich ehrlich und fair gewichtet, dann tun das die Tatsachen ganz zwangsläufig von alleine.
Egal, ob man nun will oder nicht: Am Ende einer ehrlichen Aufarbeitung bleibt nicht mehr der Teufel Relotius übrig, sondern allenfalls ein dunkelgraues Schaf in einer (halbwegs) hellgrauen Herde.
Relotius behauptet „Er würde sich seiner Verantwortung stellen“ Hat er sich bei den Millionen Lesern, die seine Märchen als bare Münze angesehen haben entschuldigt? Hat er sich bei den Spendern entschuldigt, die auf Grund seiner Geschichte über die erfundenen Waisenkinder Geld gespendet haben? hat er sich bei seinem Resort entschuldigt, und bei allen anderen Journalisten die wegen ihm unter Generalverdacht stehen? Hat er sich bei der Überlebenden der Weissen Rose entschuldigt, der er Sätze in den Mund gelegt hat, die nicht gefallen sind? hat er sich bei den Bewohnern von Fergus Falls entschuldigt, die er allesamt diskreditiert hat. Hat er sich bei seinen 2 Chefs entschuldigt? Der eine wurde gefeuert, der andere nicht wie geplant befördert? Hat er sich bei Dennis Betzold entschuldigt? etc etc etc. Sich seiner Verantwortung stellen würde genau dies beinhalten. Doch er geht zu einem Anwalt und erzeugt einen Spin um Moreno zu diskreditieren. Der Mann ist einfach nur erbärmlich. Ich glaub ihm gar nichts. Die 40 Reporterpreise stehen im Kommisoionsbericht. Nominierungen kann man sehr wohl als Preise ansehen, da muss nochmal gut gezählt werden. Die Geschichte mit der kranken Schwester stand auch im Vorabdruck im Spiegel. Da gab keine Aufregung. Aber erleuchte uns, welche Krankheit lieber Relotius hast du deiner erfundenen Schwester angedichtet, dass sie eine Anstellung beim Spiegel verzögerte durch deine Eigennützigkeit? Schon absurd die Lüge in der Lüge . Erbärmlich.
Wat se alle auf einmal persönlich angegriffen sind von der Tatsache, dass sich einer ein paar Stories gegen Geld ausgedacht hat.
Ich find’s ja schade, dass man dem schon iweder ne Plattform gibt.
Aber: Die Story verkauft sich, man hat einen gut gekleideten Bösen und der rechtschaffene Betrachter kann sich moralisch empören, ohne Konsequenzen ziehen zu müssen.
Die Geschichte mit der krebskranken Schwester stand im Spiegel zum Vorabdruck des Buches. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tausend-zeilen-luege-von-juan-moreno-warum-claas-relotius-nie-ein-reporter-war-a-1286635.html)
Die 40 Reporterpreise standen im Bericht der Kommission (https://www.spiegel.de/media/media-44564.pdf)
Warum ist der Anwalt nicht gegen den Spiegel vorgegangen?
„Die 40 Reporterpreise standen im Bericht der Kommission .
Warum ist der Anwalt nicht gegen den Spiegel vorgegangen?“
——
Weil es erstens wenig Sinn macht, gegen eine Kommission vorzugehen, die sich längst aufgelöst hat, selbst dann nicht, wenn sie sich wirklich in einem Punkt geirrt, bzw. verzählt haben sollte.
Und warum ist der Anwalt nicht gegen den Spiegel vorgegangen?
Weil ein Anwalt letztlich eben nur gegen den vorgehen darf, gegen den sein Mandant auch vorgehen will.
Relotius will vermutlich aber nicht den Spiegel treffen, sondern Moreno.
Moreno hat die Sachen nun mal in seinem Buch verbreitet (der Spiegel hat letztlich nur aus diesem Buch zitiert) und außerdem gibt Relotius ihm vermutlich wohl auch die Schuld für alles was passiert ist. Ich weiss es nicht aber in die Richtung könnte das schon gehen, glaube ich.
Alles was im Spiegel stand geht durch die Dokumentation, auch der Kommisionsbericht und der Vorabdruck. Der Anwalt baut hier ein Szenario Relotius gegen Moreno auf. Richtig wäre Relotius gegen den Spiegel, gegen die Leserschaft. Es ist und bleibt eine üble Aktion, Schuldumkehr und Ablenkung. Relotius benimmt sich erbärmlich. Von Verantwortung übernehmen keine Spur. Auch nach dem Skandal lügt Relotius – nachweislich. Auch das steht im Buch von Moreno. Diese Stelle hat der Anwalt nicht moniert, weil es belegbar ist. Ich hoffe Moreno muss gewisse Sätze im Buch streichen, er wird es mit neuem Material auffüllen, das genau belegt, dass Relotius nachweislich immer noch lügt. Zu empfehlen das Buch von Dennis Betzold (Mit dir wird alles anders, Baby!) über das Zusammentreffen von Relotius mit Betzold. Niederschmetternd für Relotius.
@David: Der Kommissionsbericht ist allerdings nicht von der „Spiegel“-Dokumentation geprüft worden; bei dem Vorabdruck bin ich mir auch nicht sicher.
Der Kommisionsbericht ist beim Spiegel erschienen . Ausser Brigitte Fehle waren alle, die am Bericht mitgearbeitet haben Spiegel Redakteure. Alles was bei Spiegel veröffentlicht wird geht durch die DOK. Leider wurden beim Kommisionsbericht die Quellenangaben nicht veröffentlicht. Aus dem Bericht zu zitieren ist ja wohl legitim.
@David: Ja, es ist legitim, aus dem Bericht zu zitieren. Nein, der ist nicht durch die Dokumentation gegangen.
Lieber Stefan Niggemeier. Sie machen hier einen fantastischen Job, vielen Dank dafür.
Nach Jahren an der Seite eines Pseudologen, eines krankhaften Lügners also, der nicht nur mir, sondern mehr als einem Dutzend Menschen echtes Leid zugefügt hat, weiß ich um die psychischen Ursachen dieses Verhaltens. Ja, das Aufdecken der Lügen führt diese Menschen an einen Punkt, an dem sie häufig keinen anderen Ausweg sehen, als sich das Leben zu nehmen. Das war wohl auch bei Frau Hingst der Fall. Martin Doerry trifft m. E. keine Schuld an ihrem Tod. Dass diese Gefahr besteht, kann nicht bedeuten, dass u.U. viele andere Menschen völlig aus der Bahn geworfen werden oder sogar ihre Existenz verlieren, weil sie die Lügen nicht aufdecken dürfen. Sind es Journalisten, die lügen, weil sie psychisch krank sind, ist die Verantwortung, sie zu entlarven, genau so groß. Auch wenn darüber Familien oder einzelne Personen eigentlich keinen Schaden nehmen. Es ist der Berufsstand, der Schaden nimmt. Und das in einer Zeit, die in dieser Hinsicht nicht sensibler sein könnte. Meine Erfahrung ist: Die Kranken mit ihren Taten, ihren Lügen und den Folgen davon zu konfrontieren, ist das, was sie nicht ertragen. Sie ziehen – wenn es ihnen möglich ist – einfach weiter und setzen das Lügen fort. Dies zu verhindern, ist Opferschutz. Wenn sie völlig verzweifelt sind und nicht weiterziehen können, wählen sie den Freitod. Pseudologie ist leider praktisch nicht zu therapieren. Das sind nicht einfach Depressionen. Das ist eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung, die allem zugrunde liegt. Eine tragische Erkrankung mit mitunter tragischen Folgen.
https://www.tagesanzeiger.ch/news/standard/faelschen-fuer-den-meisterfaelscher/story/10949518