FDP-Vorsitzender Christian Lindner

„Wenn der Tiger im Raum ist, muss man ihn satteln und reiten“

Es hupt auf dem Flur. Immer wieder. Christian Lindner eilt zum Aufzug, er muss noch mal weg. Die Hupe ruft die Abgeordneten aus dem Berliner Jakob-Kaiser-Haus in den Bundestag, zum Hammelsprung. Sie sollen über die NATO-Strategie abstimmen. Da muss der FDP-Chef natürlich hin.

Als Lindner nach etwa einer halben Stunde zurück ist, will ein Fotograf noch Bilder machen für das Interview mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, das Lindner am Mittag gegeben hatte. Der FDP-Chef posiert, die Kamera schnattert. Dauert so eine knappe Minute, der Fotograf dankt. Dann sind wir dran.

Ein Donnerstag Anfang April. Eine Stunde hat Lindner Zeit, dann muss er wieder rüber, wieder abstimmen. Ob Mariana Harder-Kühnel von der AfD Vize-Bundestagspräsidentin werden soll. Was sie dann nicht geworden ist. Aber Lindner kam immerhin noch mal raus an die Sonne. Er gehe lieber „obenrum“ in den Reichstag, sagt er, über die Straße. Statt untenrum, durch den Tunnel.

Lindner bittet in sein großzügiges Eckbüro. Viel Fläche, viele Fenster. Alles sehr repräsentativ. Schwarzes Ledersofa, großer Schreibtisch. Dahinter stehen ebenso große Deutschland- und Europa-Flaggen stramm. Hinter ihnen ein Blick auf den Reichstag, für den Lindner bei Airbnb irre Monatsmieten verlangen könnte.

Er nimmt Platz, wundert sich, „dass Sie ein Interview mit mir machen wollen“. Natürlich um mit ihm über Medien zu reden, welchen Journalisten er Interviews gibt und welchen nicht, über die Art, wie er Shitstorms befeuert – und ob er bei all dem eine Strategie verfolgt. Hätten wir ihn jetzt getroffen, nach dem Parteitag, hätten wir das Interview natürlich auch komplett auf Chinesisch geführt.


Schwarz-weißes Foto von Christian Lindner, Porträt
Das aktuelle Pressefoto von Christian Lindner

Übermedien: Herr Lindner, Sie beklagen einerseits eine Überreizung der Debatte und dass man sich nicht mehr ruhig über politische Ideen austausche. Andererseits befeuern Sie auch gern einen Shitstorm. Neulich etwa, als es um den Vorschlag eines Mobilitätsforschers ging, wie man Flugverkehr reduzieren könnte. Ein Bundestagsabgeordneter der Grünen nannte das „sehr interessant“ – Sie aber sprachen sofort von der „Verbotspartei“ und halfen, eine überreizte Debatte auszulösen.

Christian Lindner: Wir haben offenbar ein unterschiedliches Verständnis, was eine lebendige Debatte und was eine Überreizung ist. Ich habe den Vorschlag, Flugreisen zu rationieren, als Beleg für das Denken dieser Partei thematisiert. Ich habe dem Kollegen aber nicht die Worte im Mund herumgedreht, seine Position verfälscht oder unlautere Motive unterstellt. Das passiert leider zu oft. Hier ging es darum, eine demokratische Richtungsentscheidung darzustellen: Man kann Klimaschutz erreichen mit Verzicht, Verbot oder Staatsintervention. Oder, wie wir glauben, mit einem durch CO2-Bepreisung ausgelösten Ideenwettbewerb zur Vermeidung von Klimagasen und technischen Neuerungen wie dem Wasserstoffflugzeug.


Aber Sie haben sofort „Verbotspartei“ gerufen.

Wer rationieren will, der zeigt das alte Gesicht einer Verbotspartei. Dabei bleibe ich. Wir können das als richtig erkannte Ziel auf einem freiheitsschonenden Weg erreichen. Bei der Anklage, einen Shitstorm ausgelöst zu haben, plädiere ich daher auf nicht schuldig.

Die forderten aber gar kein Verbot. Es ging explizit darum, eine „Möglichkeit“ zu diskutieren. Ihre Überinterpretation hat sich dann auch „Bild“ zu eigen gemacht. Das ist eine kurze Linie von einem Tweet zum „Bild“-Leitartikel. Wie hätten Sie früher eine Botschaft in „Bild“ bekommen?

So, wie Sie die Kollegen der Grünen vor mir in Schutz nehmen, würde ich es mir umgekehrt auch einmal wünschen. Ich bin da härtere Bandagen gewohnt, bis hin zur Verfälschung von Wahlplakaten. Aber zur handwerklichen Frage zurück: Überwiegend ist es so, dass Journalisten, egal welchen Mediums, anfragen: Wir machen eine Geschichte zu diesem oder jenem Thema – bekommen wir ein Zitat? Oder die klassische Recherche: Ein Regierungsvorhaben steht an, und dann wird rundgerufen bei der Opposition: Können Sie drei Sätze schicken? Eine „Dazu-Erklärung“: „Dazu erklärt Jakob Mierscheid, MdB…“. Und es gibt natürlich Themen, die man an Medien gibt. Aber wenn Sie darauf hinaus wollen, es gäbe so etwas wie eine Art verlängerte Werkbank, dass man ein Thema hat und sagt: Mach doch mal dazu etwas, und du kriegst ein Zitat – das kommt zumindest in meiner Medienpraxis nicht vor.

„Ich habe im Moment keine Klage zu führen“

Bei vier Oppositionsparteien im Bundestag: Wie sehr müssen Sie jeden Tag, auch mit Hilfe von Social Media, um Aufmerksamkeit kämpfen?

Es ist klar, dass die Medien sich auf die Regierung konzentrieren. Das ändert sich vor Wahlen wieder. Sie sprechen aber auch mit dem Vorsitzenden einer Partei, die vier Jahre in der außerparlamentarischen Opposition war. Als niemand mit uns gesprochen, über uns geschrieben oder gesendet hat. Im Vergleich dazu muss ich sagen: Ich habe im Moment keine Klage zu führen.

Ich fand es aber fragwürdig, wenn ein Sender wie das ZDF im vergangenen Jahr bei den Oppositionsparteien zu einer Verzerrung kommt, weil eine Partei stark überrepräsentiert wurde: die Grünen. Die kleinste Oppositionspartei wurde mit deutlichem Abstand am häufigsten in der „heute“-Sendung präsentiert. Man kann die Regierung aber nicht nur von grünlinks, sondern auch aus der liberalen Mitte heraus konfrontieren. Ich habe den Eindruck, die Redaktion war am Ende selbst etwas erschreckt über die eigenen Zahlen. Ich glaube jedenfalls an die Kraft der Selbstkorrektur im Qualitätsjournalismus.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat kürzlich die Möglichkeit gelobt, sich ganz ohne Journalisten in der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Die AfD will dafür einen „Newsroom“ aufbauen. Ist das moderne Pressearbeit – oder ein gefährlicher Versuch, die Vermittler auszuschalten?

Ich sehe es differenziert. Natürlich gibt es Partei-Medien. Der SPD gehören ja sogar Verlage! (lacht) Und es gibt auch „Vorwärts“, die SPD-Parteizeitschrift. Das gab es immer, und das setzt sich jetzt fort, weil soziale Medien, Podcasts und anderes ermöglichen, viele Leute mit selbstproduzierten Inhalten zu erreichen. Das verändert etwas, und ich halte es für legitim, zumal es erkennbar ist. Bei meinem Podcast weiß man, dass der nicht Grundsätzen der Presse folgt, sondern ein parteiisch gefärbtes Medium ist, das ich übrigens nicht für ein Marketing-, sondern Informationstool und eine Dialogplattform halte. Für die Rezipienten ist klar: Es gibt einen Unterschied zwischen der „Süddeutschen Zeitung“ und den Newslettern der FDP. Da sehe ich kein Problem.

Problematisch finde ich, wenn Parteien oder Politiker absolute Kontrolle gewinnen wollen über das, was unabhängiger Journalismus verbreitet. Sprich: Man lässt keine Kameras in Parteiveranstaltungen und schreibt Medien vor, nur von der Partei produzierte Bilder zu verwenden. Wir würden das nicht machen, weil das die Freiheit der Berichterstattung einschränkt. Auch Details zu zeigen, die die Partei vielleicht nicht gesendet haben will, gehört zur journalistischen Freiheit. Im Übrigen waren die Bilder von CDU-TV, naja – von Frau Kramp-Karrenbauer sah man ihren Rücken.

Die fangen ja auch gerade erst an.

Aber ich halte das für ein Problem. Ich habe da gerne eine Batterie von Kameras unterschiedlicher Sender, den Zoom vielleicht auf eine einzelne Mappe oder auf einen Delegierten gerichtet, der Zeitung liest, während doch in Wahrheit die große Vorsitzende oder der große Vorsitzende redet. Das sind wichtige Impressionen und Stimmungen, die man einfängt, die der Partei vielleicht nicht gefallen, die aber notwendig sind.

Und Sie selbst sind gelassenen, was negative Aufmerksamkeit und Anfeindungen betrifft?

Ich bin seit 15 Jahren, also seit ich 2004 Generalsekretär der FDP in Nordrhein-Westfalen vor einer wichtigen Landtagswahl wurde, Ziel der Angriffe der politischen Gegner, kritischer Kommentierung oder spitzer Porträts. Ich führe eine Partei, die dem Mainstream oft widerspricht, ich spitze gelegentlich selbst zu und natürlich sind Medien Teil der demokratischen Machtauseinandersetzung. Da kann man nicht alles persönlich nehmen. Nicht alles, was gesendet oder geschrieben wird, stimmt ja auch. Es gab neulich ein Porträt in der „Zeit“; da war manches richtig, vieles spekulativ, und manches war in fast schon amüsanter Weise daneben. Dort stand etwa, ich würde Körperkontakt vermeiden! Die Leute, die mich privat kennen, aber auch Kollegen, die ich mit Umarmung im öffentlichen Raum begrüße, haben schallend gelacht. Und ich auch.

„Dass ich Dinge ignoriere oder geringschätze, ist nicht meine Art“

An Ihnen gleitet das anscheinend ab. Sagen Sie da nicht: Das kann nicht sein, da ruf ich jetzt an?

Szenisches oder Beobachtungen sind künstlerische Freiheit. Aber bei falschen Zitaten oder falschen Unterstellungen in der Sache schreibe ich zum Beispiel dem Leitartikler der taz oder der FAZ eine SMS und sage: Wunderbare Meinungsfreiheit, die wir haben – ich möchte aber meine Position noch einmal korrekt darstellen.

Antworten die Ihnen dann?

Warum nicht? Das sind doch normale bürgerliche Umgangsformen. Ihre Formulierung, dass es abgleite von mir, dass ich Dinge also ignoriere oder geringschätze, das ist nicht meine Art.

Von Geringschätzen haben wir nicht gesprochen.

Aber so könnte man es lesen. Ich habe kantige Meinungen und spitze gern zu. Das ist Teil meiner Persönlichkeit und meiner politischen Arbeit. Ich bin leidenschaftlich gerne Politiker. Für mich ist das nicht ein Job, sondern das, was ich vertrete. Daran glaube ich echt! (lacht)

Haben Sie Berater, die Ihnen sagen: Wir haben mal ausgewertet, was gut funktioniert und was Sie in Zukunft lassen sollten?

Auf meinen persönlichen Profilen in den Sozialen Medien ist viel intuitiv.

Eher Lust und Laune als Strategie?

So ist es. Es gibt aber Leute, die sich professionell damit beschäftigen und mir empfehlen, meinem Profil eine bestimmte Tonalität, vielleicht sogar eine wiederkehrende grafische Anmutung oder ein Farbklima zu geben. Aber ich bin ja kein Influencer. Ich nehme Einfluss auf öffentliche Meinung – aber ich bin kein Influencer im fachlichen Sinne des Wortes. Ich finde, dass meine Amateur-Fotos, die ich selber mache, und die Videos dem Ganzen Nähe geben. Die Kacheln, die gelegentlich auch gepostet werden, begeistern mich nicht so. Die sind dem Mangel an Zeit geschuldet, weil ein Parlamentarier eben nicht nur Produzent von Medien-Content sein kann.

Das Unkalkulierte ist Kalkül?

Das hört sich komisch an. Sagen Sie meinetwegen, dass Authentische sei Strategie.

Sagt das Ihr Medientrainer? Haben Sie einen?

Nein. Übrigens poste ich natürlich auch Dinge, um eine Debatte zu eröffnen, also die Twitter-Community anzuregen.

Nämlich?

Wenn man über Kleptokratie im Zusammenhang mit unserem steuereinnehmenden Staat spricht, drückt man auf ein paar Knöpfe. Aber: Manchmal denke ich, jetzt habe ich scharf provoziert, um eine Debatte anzustoßen – und es passiert nichts! Und dann denke ich, dass ich einen ganz konventionellen und seriösen Punkt gemacht habe, und stelle fest: Das kann auch ganz anders gelesen werden, und es gibt eine große Reaktion. Einen dritten Effekt gibt es auch: Etwas, das zuvor keine Reaktion ausgelöst hat und schon x-mal kommuniziert worden ist, löst plötzlich in einem bestimmten Moment eine Reaktion aus.

„Journalismus hat eine stärkere Durchschlagkraft als Social Media“

Wie wichtig ist das, was Sie da auslösen oder nicht auslösen? Können Sie das noch spielerisch machen oder hängt an einem Tweet möglicherweise zu viel Bedeutung?

Vielleicht wird es Sie überraschen, aber die Agenda der sendenden Medien und des Qualitätsjournalismus hat nach meinem Eindruck eine wesentlich stärkere Durchschlagkraft auf die öffentliche Meinung als die versammelten Social Media.

Aber die klassischen Medien stürzen sich dann auch wieder darauf.

Das ist der Verstärker-Effekt: Aus 150 Tweets wird eine Bewegung abgelesen, die dann über die klassischen Medien thematisiert wird. Darin liegt auch eine Brisanz, weil etwas, das sich auch kampagnenmäßig in sozialen Medien entwickelt, von Medien als eine Realität in der öffentlichen Meinung dargestellt werden kann. Das ist eine Gefahr, wie wir in anderen Gesellschaften gesehen haben: Desinformation, Trollverhalten.

Sie können sich diesen Effekt ja auch zunutze machen.

Zumindest in meiner Erfahrung waren die meisten viralen Erfolge zufällig. Ein Video eines Redeausschnittes aus dem Düsseldorfer Landtag, zum Beispiel, eine gewisse wütende Eruption von mir und einige scharfe Worte in Richtung der Umverteiler und Bevormunder…

„Das hat Spaß gemacht“, haben sie am Ende dieser Rede gesagt.

Den Redeausschnitt hatten wir gar nicht selbst eingestellt. An einem Sonntag rief mich mein damaliger Sprecher an und sagte: Du, von dir ist ein Video im Netz, und es verbreitet sich rasend schnell. Ich dachte: Um Gottes Willen! Ist es schlimm? Er sagte: Nein, im Gegenteil, die Leute finden es gut. Es ist die Rede, die du vor zehn Tagen gehalten hast.

Wie sehr ist Aufmerksamkeit das erste Ziel und eine positive Aufmerksamkeit nur das zweite?

Das ist nicht meine Philosophie. Meine Philosophie ist: lieber Ansehen als Aufsehen.

Wie passt dazu Ihr Satz über Greta Thunberg und dass Klimaschutz nur „was für Profis“ sei? War die Empörung darüber am Ende wirklich gute Aufmerksamkeit für Sie?

Screenshot: Bild

Es haben sich gar nicht alle aufgeregt, die Reaktionen waren 50:50. Tatsächlich war die Empörung aber auch völlig unbegründet. Ich habe schon oft in Reden und Interviews gesagt: Bürger, Politiker, Journalisten und eben Schüler sollen sich auf Ziele verständigen. Aber wenn wir die haben, etablieren wir Regeln und einen Mechanismus, in dem Profis wie Ingenieure, Techniker und Naturwissenschaftler den Weg finden, am günstigsten und am besten CO2 einzusparen. Das können diese besser als Politikwissenschaftler wie ich.

Der Gedanke auf einen Tweet und ein paar Zeilen in der „Bild am Sonntag“ im Zusammenhang mit den Schülerstreiks reduziert, hatte dann Zündstoff, vor allem die Kachel „‚Klimaschutz ist was für Profis‘ – und nicht für Kids auf der Straße“. Das war eine weitere Zuspitzung der BamS. Leider beschäftigen sich dann aber wenige mit der Position und Intention im Zusammenhang früherer Äußerungen, sondern es zählen die paar Zeichen eines Tweets. In Social Media ist das noch erklärbar, in journalistischen Einordnungen bedauerlich.

„Ich habe schon viele Dinge gemacht, die hochriskant waren“

Was machen Sie, wenn sich eine falsche Darstellung verselbständigt?

Das ist eine Gelegenheit, sich zu positionieren. Ich hatte selten zum Thema liberale Klimapolitik versus grüne oder linke Klimapolitik so viele Gesprächsgelegenheiten wie dadurch. Das macht ein bisschen Mühe, aber sonst hätte möglicherweise niemand wahrgenommen, dass wir zu dem Thema eine Antwort haben. Wenn der Tiger im Raum ist, muss man ihn satteln und reiten.

Twitter ist übrigens ein wirksames Medium, um etwas Machtgleichgewicht zwischen Journalismus und Objekt der Berichterstattung herzustellen. Einmal ist im „Spiegel“ ein Porträt erschienen mit einem unautorisierten Zitat. Die Grundthese basierte auf dem Zitat, ich würde nur Dinge machen, bei denen ich davon ausgehe, dass sie zu 100 Prozent funktionieren. Das tauchte auch noch als „Zitat des Tages“ in der Funke-Mediengruppe auf. Das ist aber komplett falsch. Ich habe schon viele Dinge gemacht, die hochriskant waren: Rücktritt als Generalsekretär, Spitzenkandidaturen bei Zwei-Prozent-Umfragen, vier Jahre APO, das Nein zur Jamaika-Koalition. Also habe ich getwittert: Nicht autorisiertes Zitat und falsch. Macht man das nicht, verselbständigt sich das und wird selbst zu einer Realität. Wer schweigt, stimmt zu.

Welche Rolle haben Medien beim Aufstieg der AfD gespielt? Und was müssten sie anders machen, um den Erfolg dieser Partei nicht weiter zu befördern – oder ist das gar nicht die Aufgabe von Journalisten?

Die AfD ist eine Partei, und es ist eine Aufgabe der Parteien des demokratischen Zentrums, mit diesem Konkurrenten umzugehen, sie im Wettbewerb zu stellen, durch eine andere Politik. Ich rate davon ab, eine mediale Großstrategie zu etablieren, um diese Partei klein zu machen. Das ist der beste Weg, sie groß zu machen. Wenn der Eindruck entsteht, dass das Establishment von Parteien und Medien sich verbündet gegen eine politische Kraft, um diese tot zu machen, ist das der beste Opfermythos, den man der AfD geben kann. Also: Keine Energie zuführen, indem man sich zu sehr über sie empört! Auch Medien nicht. Es ist keine Nachricht mehr, wenn aus der AfD ausländerfeindliche Ressentiments kommen. Das ist: „Hund beißt Mann“!

Findet man sich so nicht mit den Ressentiments ab?

Nein. Hat man das einmal klargestellt, ist es doch klargestellt. Es wird ja auch nicht jeden Tag darüber berichtet, dass ich fordere, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen – zu meinem Leidwesen. Weil eben Journalisten sagen: Bekannte FDP-Forderung! In der Fraktion haben wir verabredet, auf die Provokationen der AfD kühl, nüchtern, kurz zu antworten. Möglichst wenig Energie zuführen, weil die AfD eine Maschine ist, die diese Energie umwandelt. Die Empörungsenergie von Martin Schulz und Cem Özdemir wird sofort umgewandelt in die Verzückung der eigenen Anhänger. Das Zweite ist: Politische Inhalte müssen sich verändern, sodass niemand auf die Idee kommt, eine angebliche Alternative zu Parteien des demokratischen Zentrums zu brauchen. Es ist nicht Aufgabe von Medien, die Zusammensetzung des Bundestags zu verändern. Das ist eine Aufgabe für uns.

Lindner gegen Storch bei „Anne Will“ am 10.3.2019 Screenshot: ARD

Ist es richtig, dass in AfD-Vertreter in den Talkshows sitzen?

Die Öffentlich-Rechtlichen, der Qualitätsjournalismus generell, muss eine Debatte abbilden, und das ist ein relevanter Faktor, den man nicht ausblenden kann. Man sollte die AfD aber nicht nur zu Themen einladen, bei denen sie ihre Kampagnenpunkte macht, also Migration. Spannender ist doch, mit ihr über Bildung und Rente zu sprechen, über Konzepte zur Digitalisierung. Thomas Walde hat in den ZDF-Sommerinterviews voriges Jahr genau diese Versuchsanordnung gemacht. Er hat hart Themen vorgegeben, weshalb das Interview, das er mit mir geführt hat, in meinen Augen auch missglückt war: kein Erkenntnisgewinn, weil es nur ein Hauen und Stechen war und er uralte Klischees abfragte. Ich war aber im Nachhinein versöhnt, als ich verstanden habe, dass die Gespräche, die er mit mir und anderen geführt hat, die Vorbereitung waren für ein gleiches Gespräch mit Alexander Gauland von der AfD. Ich war Teil dieser Versuchsanordnung. Da heiligte der Zweck die Mittel.

Würden Sie in Ihrem Podcast jemanden von der AfD einladen?

(Pause) Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich mache mit AfD-Politikern Streitgespräche in Medien. Aber möchte ich das in diesem Format, das von Unterschieden, aber auch von einer gewissen Sympathie, von Respekt geprägt ist? Ich lade die Leute ja quasi in mein Wohnzimmer ein. Möchte ich da jemanden von der AfD haben, die mich als Vertreter einer machtbesessenen, vom Volk entfremdeten Altpartei begreifen? Die nicht die Regierung verändern wollen, sondern gleich das politische System und seine Kultur als Ganzes? Ich würde einen Wähler der AfD einladen, der noch nicht radikalisiert ist, um mit ihm zu diskutieren. Aber niemanden, der Geld damit verdient, Menschen Angst zu machen und aus Krisen politisches Kapital zu schlagen.

„Das ist eine ganz andere Art der Kommunikation“

Wie viele Leute hören Ihren Podcast?

Das geht in die Zehntausend. Das ist für die „Bild“-Zeitung nicht viel, aber im Gegensatz zu Veranstaltungen mit 650 Leuten, bei denen ich sonst rede, treffe ich hier jemanden in meinem Büro und erreiche viele Tausend Leute. Das ist eine ganz andere Art der Kommunikation.

Fehlen solche Gesprächsformate in Medien?

Ja, ich finde, dass in Deutschland ein vertieftes Interview-Format fehlt. Diese alten Interviews von Günter Gaus sind großartig: Der Interviewer steht nicht im Zentrum, er hat auch nicht den Wunsch, sich mit Pointen und Gags gut darzustellen. Das ist ja eine Versuchung, der nicht nur ich als Politiker ausgesetzt bin, sondern auch männliche Gastgeber im Fernsehen. Gaus stellte einfach Fragen und hat Pausen ausgehalten. Franz Josef Strauß zum Beispiel, der als neugewählter CSU-Vorsitzender zu Gast war: Er bekommt eine Frage gestellt, hustet ausgiebig, räuspert sich, nimmt dann eine Zigarre hervor, schneidet sie ab, zündet sie an, beginnt zu paffen, um dann die Frage als „dumm“ zurückzuweisen. Das ist ja auch eine Botschaft.

Rauchend, hustend: Strauß bei Gaus.

Das müsste man mal bei „Anne Will“ machen.

Ja, aber das geht da nicht bei dem Tempo. Die Darreichungsform und das Repertoire der politischen Kommunikation – Schweigen, Gestik und so weiter – ist in den Formaten, die wir haben, nicht darstellbar. Leider. Ich frage mich allerdings, ob es dafür nicht doch einen Markt gäbe.

Würden Sie eigentlich der „Jungen Freiheit“ ein Interview geben?

Nein. Weil ich die journalistische Grundlinie ablehne und auch Zweifel an der Objektivität der Berichterstattung habe. Natürlich ist ein gewisser Haltungsjournalismus und Gesinnungsjournalismus, wie man das auch nennt, dieser Tage überall eine Prüffrage, aber die „Junge Freiheit“ geht über das zu tolerierende Maß hinaus.

Was ist mit dem „Neuen Deutschland“?

Auch nicht. Auch das ist kein objektiver Journalismus. Die Zeitung gehört ja sogar einer im Wettbewerb stehenden Partei, und ich glaube nicht, dass ich unter deren Leserinnen und Lesern so viele Leute für mich gewinnen könnte, dass es sinnvoll wäre, da viel Zeit zu investieren.

Was vermissen Sie im deutschen Journalismus?

Ich wünsche mir mehr Vielfalt der Meinungen. Ich denke, dass es zu bestimmten Themen schnell eine gewisse Färbung gibt.

„Vielleicht hat Jan Fleischhauer Recht“

Sie meinen: alles „Mainstream-Presse“?

Das Wort ist kontaminiert, deshalb verwende ich es nicht. Aber es gibt ähnliche Lebensweisen, Berufswege, Milieus, auch eine ähnliche Ausbildung bei Journalisten. Daraus ergibt sich schnell auch eine, ich sage mal: Färbung. Vielleicht hat „Spiegel“-Kolumnist Jan Fleischhauer Recht, der sagt, dass die Kollegen mit abweichender Meinung in Redaktionen diese Meinung unterdrücken aus Angst, in der Kantine nicht mehr mit am Tisch sitzen zu dürfen. Ich würde mir mehr innere Pressefreiheit wünschen: dass innerhalb der Redaktionen mehr Unterschiede zugelassen sind.

Bei welchem Thema fällt Ihnen das besonders auf?

Ich überlege gerade mal ein Thema, wo nicht. (lacht)

Sie haben mal sehr abgeklärt beschrieben, wie Martin Schulz von den Medien erst überhöht und dann runtergeschrieben wurde. Dass beides totale Übertreibung gewesen sei und unterm Strich okay. Man könnte aber auch sagen, dass auch unterm Strich beides nicht okay war.

Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich das nicht wertend gemeint, sondern beschreibend als zu akzeptierenden Zyklus. Der Perserkönig Xerxes hat mal sein Heer angewiesen, das Meer auspeitschen zu lassen, weil das Wetter so schlecht ist. Ich habe mich mit bestimmten Mechanismen einfach abgefunden. Ein Mechanismus ist: Es gibt diese Erzählwellen. Hier war das: Martin, ich will eine Regierung von dir! Make Europe great again! Wie eine Partei sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht! Das begeistert die Partei, Medien berichten über die Begeisterung und dass das ja ein toller Mann sein muss. Das überträgt sich auf Umfragen. Dann wird über stark steigende Umfragewert berichtet. Dann wird das riesengroß, um sich dann irgendwann wieder der Realität anzupassen.

Sie warten also auch gelassen, bis sich die Grünen wieder auf Ihrem Umfrageniveau eingependelt haben?

Es gibt eben diese Wellenbewegungen. Das ist irgendwann auserzählt, dann wird getestet, überall gerüttelt, wo ist das Nächste? Ah, da könnte was sein! Und dann baut sich wieder was auf. Es gab eine Woche, da hatten FAS, „Focus“, „Spiegel“ und andere auf dem Titel: Das grüne Wunder. Da handelte es sich offenbar um einen starken Erzähl-Zyklus. Es ist interessant, sich zu erinnern, dass es das bei den Grünen seit 2005 in der Mitte jeder Wahlperiode gab – um sich dann zum Wahltag zu normalisieren.

Das Interview führten Stefan Niggemeier und Boris Rosenkranz.

10 Kommentare

  1. Der Vorspann als szenische Reportage gefällt mir. Nur: Ist das nicht in Verruf geraten? Anscheinend nicht, wenn selbst Übermedien schreibt, wie der SPIEGEL seit eh und je Ihre Reportagen. Schönster Satz: „Ein Donnerstag Anfang April.“. *Cordt Schnibben gefällt das*

  2. Schade, dass er hier unwidersprochen seine Lüge über die Grünen („Grüne wollen uns nur noch 6 Flüge im Jahr erlauben.“) als Wahrheit darstellen kann („Ich habe dem Kollegen aber nicht die Worte im Mund herumgedreht, seine Position verfälscht oder unlautere Motive unterstellt.“)

  3. Typisch Lindner, dass er meint, einen Tiger satteln zu können. Besser hätte er seine Realitätsverweigerung nicht paraphrasieren können, haha, was für ein Bild!

  4. Finde das Format und das Interview auch gelungen. Gerne mehr davon.
    @Tanja Faust: Es wird doch klar widersprochen: „Die forderten doch gar kein Verbot. … Ihre Überinterpretation…“ Dass Lindner trotzdem bei seiner Sicht bleibt, ist doch gerade das Spannende und auch Entlarvende in einem Interview.

  5. Tolles Interview, unabhängig davon, mit wem es geführt wurde. Ich mag, dass es sich Zeit nimmt, nachhakt, widerspricht bzw. einordnet und als Thema u.a. den Blick auf und Umgang mit Medien behandelt.
    Sehr gern mehr davon!

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