Der Autor
Thomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.
Der Journalismus ist durch die „Causa Relotius“ zutiefst erschüttert. Die Kommentare spiegeln eine Mischung aus Ungläubigkeit, Entsetzen und Überraschung wider. Wie konnte er nur? Und wie konnte das überhaupt passieren?
Thomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.
Das Überraschtsein der journalistischen Zunft überrascht. Denn wieso sollte es im Journalismus anders, irgendwie sauberer, ehrenwerter oder integrer zugehen als in anderen gesellschaftlichen Bereichen? Priester misshandeln Kinder, Politiker machen Steuergeschenke an nahestehende Interessengruppen, Wissenschaftler manipulieren Forschungsergebnisse, Manager lügen. Das alles kommt vor, wie wir wissen. Überall, nur nicht im Journalismus?
Es ist keine Frage, dass der konkrete Fall um die Textmanipulationen von Claas Relotius aufgeklärt werden muss, worum sich der „Spiegel“ seit dem Bekanntwerden des Vorgangs ja auch nach Kräften bemüht. Der Raum, der diesem Vorgang aktuell in den Medien eingeräumt wird, und die Art der Kommentierungen erscheinen jedoch ohne jegliches Augenmaß für die Sache an sich. Was wir bislang wissen: Ein ehrgeiziger Journalist hat Geschichten manipuliert. Ob es sich dabei um einen Einzelfall handelt oder das Problem systemischer und damit verbreiteter Natur ist, wissen wir bislang nicht.
Es ist vor diesem Hintergrund daher befremdlich, wenn nun schon von einer Krise des Journalismus und von einem „Desaster“ gesprochen wird oder Vergleiche zu den gefälschten Hitler-Tagebüchern hergestellt werden und was noch alles. Der sich aufdrängende Eindruck ist: Aus den erfundenen Geschichten von Claas Relotius werden gerade flächendeckend Stories produziert, die Journalisten mehr interessieren als ihre Leserinnen und Leser. Und wesentlicher: es werden Schlussfolgerungen gezogen, bei der man die Sinnhaftigkeiten von Reportagen infrage gestellt und Journalisten eine Krise des Journalismus insgesamt heraufbeschwören. Womöglich gibt es sie, diese Krise, ob sie jedoch im Kern mit einem jungen Reporter zu tun hat, wäre zu klären, bevor sie herbeigeschrieben wird.
„Sagen was ist“ jedenfalls ist auch das nicht. Wir erleben gerade einen Journalismus im Panikmodus, in dem eher spekuliert und phantasiert wird, als dass sachverständliche Einordnungen der Vorkommnisse erfolgen. Hitzige journalistische Gemüter dürften weder für die Ursachenforschung noch für mögliche Problemlösungen allzu hilfreich sein.
Will man den Sachen angemessen auf den Grund gehen, gibt es eine erste zu klärende Frage: Ist der Betrug von Claas Relotius ein Einzelfall oder handelt es sich um ein umfassenderes, systemisches Problem? Gibt es weitere analog oder ähnlich gelagerte Fälle, die bislang einfach nur noch nicht aufgeflogen sind? Ist es ein Einzelfall, so gibt es keinen wirklichen Handlungsbedarf, weshalb man dann gerne wieder an die eigentliche journalistische Arbeit übergehen darf.
Liegen Hinweise auf systemische Probleme vor, und dies scheint die Befürchtung unter Journalisten, besonders auch des „Spiegels“, zu sein, gälte es einige Eckpfeiler einer Organisationsethik zu beachten:
Der „Spiegel“ gibt sich in der Aufarbeitung des Falles Relotius selbstkritisch und will die Qualitätskontrolle, die bei ihm über die Dokumentation sichergestellt wird, einer kritischen Prüfung unterziehen. Technisch formuliert handelt es sich dabei um ein Compliance-System, wie es auch in anderen Arten von Organisationen (zum Beispiel bei Unternehmen, in Krankenhäusern, bei Hochschulen) praktiziert wird: ein Set von Regeln, das unlauteres Verhalten definiert, kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert. So wichtig Compliance-Vorschriften sind und so raffiniert man diese auch gestalten kann – zum Beispiel in Kombination mit sogenannten Hinweisgeber- oder Whistle-Blowing-Systemen –, man sollte nicht der Illusion verfallen, damit wäre eine perfekte Kontrolle möglich.
Aus der Forschung zur Organisationsethik wissen wir, dass Compliance-Vorschriften und moralische Regelsysteme nur eine Seite der Medaille moralischen Handelns darstellen. Mindestens ebenso wichtig ist, erstens, die personale Integrität der Mitarbeiter (gleichgültig auf welcher Ebene der Organisation), zweitens, eine offene Atmosphäre der Kommunikation, einschließlich einer selbstkritischen Fehlerkultur (Fehler, auch in moralischer Hinsicht, dürfen gemacht, sollten aber korrigiert werden) sowie, drittens, Belohnungs- und Anerkennungsformen innerhalb der Organisation, die moralisches Handeln fördern (oder wenigstens nicht bestrafen). Bei dieser einfachen Trias ist wichtig, dass die Integrität (oder Nicht-Integrität) der Mitarbeiter nicht vom Himmel fällt, sondern durch die beiden letztgenannten Aspekte geprägt werden.
Viertens, Geschichten werden nicht nur in Blättern abgedruckt, Geschichten werden über bestimmte Begriffe und bestimmte Erzählweisen auch in jeder Organisation erzählt. Sie definieren die Identität von Organisationen. Welche Narrative hat der „Spiegel“ und haben andere Medien? Welche Geschichten erzählen sie intern und nach außen über sich selbst? Das wäre eine maßgebliche Frage zur Ursachenforschung. Gibt es eine „Moral von der Geschicht“?
Je nach Gestalt des organisationalen Story-Tellings, der Kommunikationsatmosphäre und der Anreizsysteme in Organisationen kann sich eine Moral ebenso wie eine Unmoral entwickeln. Im günstigen Fall einer hohen Integrität der Mitarbeiter kann man nahezu auf Governance-Mechanismen in Form von Compliance-Vorschriften verzichten. Im Fall einer etablierten Unmoral und einer Konkurrenz- und Misstrauenskultur wird man dieser selbst über die ausgeklügeltsten Kontrollmechanismen nicht mehr Herr werden.
Sollte es sich um systemische Probleme im Journalismus handeln, wäre höchstwahrscheinlich davon auszugehen, dass die Problembearbeitung nicht auf die interne Organisation von Medienunternehmen beschränkt ist, sondern eben in der Tat auch das System „Journalismus“ in einem umfassenderen Sinne betrifft. Eine solche Perspektive geht also über die redaktionellen Arbeiten hinaus und fragt beispielsweise: Welchen Typus von Journalisten „produziert“ der Journalismus? Welche Rolle spielt dabei das Freelancer-System? Wer schafft es in (die nur wenig vorhandenen) Festanstellungen als Redakteur – warum und mit welchen Mitteln? Welche Anreize gehen von Journalistenpreisen aus? Und so weiter, und so fort.
Es mag dem „Spiegel“ (und dem Journalismus insgesamt) schmecken oder nicht, Medien spiegeln uns nicht nur die Gesellschaft. Sie sind in moralischer Hinsicht auch selbst ein Spiegelbild der Gesellschaft, in denen moralische Verfehlungen vorkommen. Überraschen sollte das nicht.
Leider ist der Kommentar von Herrn Beschorner inhaltlich ohne Erkenntnisse. Seine bewusst ruhigen Fragen nach den Ursachen geben keine Antworten. Bin enttäuscht, dass Übermedien diesen belanglosen Kommentar veröffentlicht (sorry).
Zumindest ist es ehrenwert, dass dieser Kommtar hier erscheint, nachdem Herr Niggemeier Ende Dezember sinngemäß twitterte, dass der Skandal den Journalismus ändern würde. Genau diese Schlüsse hält Herr Beschorner ja für falsch.
Die ganze Argumentation scheint irgendwie dem Motto zu folgen: „Wenn zwei Dinge in der gleichen (schlimmen) Kategorie sind, dann sind sie auch gleich (schlimm)“. Der Wahrnehmung unterschiedlicher Abstufungen fehlt völlig. Beispiel gefällig?
„Priester misshandeln Kinder, Politiker machen Steuergeschenke an nahestehende Interessengruppen, Wissenschaftler manipulieren Forschungsergebnisse, Manager lügen.“
Mir ist völlig schleierhaft, wie man Kindesmissbrauch mit dem Erfüllen (sic!) von Wahlversprechen auf eine Stufe stellen kann. Und warum man den Kindesmissbrauch als Beispiel dafür heranzieht, dass die erfunden Geschichten „gar nicht so schlimm“ sind, ebenfalls.
Wenn es um den Fall Reltious geht (der eigentlich „Fall Spiegel“ heißen müsste, aber hier versucht sich die ehrenwerten Hamburger völlig durchschaubar als Spin Doctors), würde ich ein anderes Äquivalent bringen: Wie wäre es, wenn die Postbank eines Tages vergessen würde, wieviel Geld Tante Erna auf ihrem Girokonto hat. Und das auch nicht durch irgendwelche Backups o.ä. wiederherstellen könnte. Unvorstellbar? Eben.
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Im Artikel steht: „man sollte nicht der Illusion verfallen, damit wäre eine perfekte Kontrolle möglich“.
Niemand behauptet eine „perfekte Kontrolle“ wäre möglich. Aber beim Spielgel hat es *trotz jahrelanger Beteuerungen* offensichtlich ÜBERHAUPT KEINE KONTROLLEN gegeben: Selbst einfachste Fakten wurden nicht nachgeprüft und selbst ein Kollege misstrauisch wurde wurde erstmal ihm mit Kündigung gedroht.
Seit Jahren nun sieht sich die Journalistische Zunft Anfeindungen durch die „Lügenpresse“-Heinis ausgesetzt (Danke Merkel!). In diesen Jahren hätte man alles daran setzen *müssen*, diesen Vorwürfen mit allen Mitteln den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und genau das haben die Verantwortlichen ja auch immer versprochen. Aber nun heißt es doch wieder: seht ihr, stimmte ja doch das mit der Lügenpresse. Danke Spiegel.
Nachtrag zu 1:
Stefan Niggemeier am 20.12.2018 auf Twitter:
„Ich glaube inzwischen, dass der Fall #Relotius noch so viel an die Öffentlichkeit spülen wird, dass er einen gravierenden Einschnitt darstellen wird – nicht nur für den „Spiegel“, sondern für den deutschen Journalismus.“
@ Adrian (2): Ich weiß wirklich nicht, wie Sie auf diese Schlußfolgerungen kommen, aber für mich steht da übersetzt einfach nur: „In jeder Branche gibt es Menschen mit unlauteren Absichten, warum sollte das im Journalismus also nicht so sein.“ – bezogen auf die ungläubige Überraschung, die einem allerorten entgegenschlägt.
@4 (Raoul):
Sicherlich ist es nicht überraschend, wenn beim Spiegel wie bei anderen Organisationen „Menschen mit unlauteren Absichten“ arbeiten.
Aber was wollen Sie damit sagen? Keine Überraschung → kein Grund zur Aufregung → gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen?
Überraschend ist ja nicht, dass es Leute wie Herrn Relotius gibt. Überraschend ist aber, dass so jemand damit durchkommt, ohne sich überhaupt richtig Mühe geben zu müssen. OBWOHL der Spiegel ja immer seine Faktentreue vor sich hergetragen hat („wir prüfen alles“ bla bla). Da reicht es eben nicht aus, wenn man mit den Schultern zuckt und sagt „woanders gibt es auch Probleme“. Deshalb habe ich oben ja geschrieben dass die ganze Geschichte eigentlich „Fall Spiegel“ und nicht „Fall Relotius“ heißen müsste.
Jens: Wie kommen Sie darauf, dass Herr Beschorner die Prognose, der Fall Relotius werde den Journalismus ändern, für falsch hält? Ich verstehe ihn eher so: Wenn die Medien versuchen, Antworten auf die Fragen zu finden, die Beschorner in diesem Text stellt, dann besteht sehr wohl die Chance, dass sich etwas ändert.
Deshalb teile ich auch Ihre Ansicht, Herrn Beschorners Text sei „belanglos“, nicht. Die richtigen Fragen zu stellen, ist manchmal wertvoller, als voreilige Antworten auf die falschen Fragen zu geben. Auch dem Journalismus täte es meiner Meinung nach manchmal gut, wenn die Journalisten Fragen, auf die es (vorläufig) keine Antwort gibt, offen ließen, anstatt so zu tun, als hätten sie immer sofort auf alles eine Antwort. Es sollte nicht überraschen, dass es eine Weile dauert, um aufzuklären, wie es möglich war, dass ein Reporter über Jahre Reportagen mit erfundenen Fakten, Personen und Orten an Medien verkauft und dafür auch noch mit Preisen überschüttet wird.
Adrian: Behauptet Herr Beschorner wirklich, Claas Relotius` erfundene Reportagen seien genauso schlimm wie sexueller Missbrauch von Kindern durch kirchliches Personal? Ich glaube nicht. Er will an diesem Beispiel nur zeigen, dass es in jeder Branche zu schwerwiegenden Verfehlungen kommt und jede Branche ihre Mittel und Wege finden muss, um diese Verfehlungen zu vermeiden.
By the way: Wenn Politiker ein Gesetz einführen, das wenigen nützt und vielen schadet, dann wird dieses Gesetz auch nicht dadurch besser, dass seine Einführung vor der Wahl versprochen wurde. Niemand zwingt Parteien dazu, sich vor der Wahl völlig absurde Versprechen auszudenken, die sie dann hinterher glauben erfüllen zu müssen, weil Versprechen ja schließlich Versprechen ist.
@6 (Phillip):
Wenn Herr Beschorner das tatsächlich so gemeint hat, wie Sie es schreiben, dann habe ich das in der Tat falsch verstanden. Entschuldigung dafür.
Aber auch Ihre Wiedergabe des Arguments („dass es in jeder Branche zu schwerwiegenden Verfehlungen kommt und jede Branche ihre Mittel und Wege finden muss, um diese Verfehlungen zu vermeiden.“) halte ich für verharmlosend. Denn der Spiegel hat jahrelang versprochen diese Mittel und Wege längst gefunden zu haben und pflichtbewusst umzusetzen. Die Erfindungen sind sowas von billig, die wären mit einem Minimum an „Fact Checking“ aufgefallen.
@ Adrian (7)
„Denn der Spiegel hat jahrelang versprochen diese Mittel und Wege längst gefunden zu haben und pflichtbewusst umzusetzen. Die Erfindungen sind sowas von billig, die wären mit einem Minimum an „Fact Checking“ aufgefallen.“
Da haben Sie Recht, und das macht es für den „Spiegel“ umso peinlicher. Aber das ist eben nicht Herrn Beschorners Punkt. Er spricht ja nicht für den „Spiegel“, sondern betrachtet die Sache ganz nüchtern als Professor für Wirtschaftsethik. Und als solcher hat er es, vermute ich mal, sehr häufig mit unterschiedlichsten Verstößen und Fehlleistungen in unterschiedlichsten Bereichen zu tun. Deshalb finde ich diesen unvoreingenommenen Seitenblick eines Nichtjournalisten durchaus bereichernd.
@Nr. 2 ADRIAN
„Aber nun heißt es doch wieder: seht ihr, stimmte ja doch das mit der Lügenpresse.“
Sag ich doch, ist eben nix anderes als ein verdammtes Lügenpressepack : )
Und ich bin ein unverbesserlicher Lügenpresse-Heini.
„Systemfehler oder Einzelfall“ ist eine falsche Dichotomie. Betrug kann durchaus häufig vorkommen, ohne dass er ein Systemfehler ist.
Ladendiebstahl ist auch kein Fehler des Systems Laden.
Wobei es Relotius in diesem Laden unnötig leicht hatte.
@PHILIPP DEMLING
Ist ein Nebenschauplatz aber:
„By the way: Wenn Politiker ein Gesetz einführen, das wenigen nützt und vielen schadet, dann wird dieses Gesetz auch nicht dadurch besser, dass seine Einführung vor der Wahl versprochen wurde. Niemand zwingt Parteien dazu, sich vor der Wahl völlig absurde Versprechen auszudenken, die sie dann hinterher glauben erfüllen zu müssen, weil Versprechen ja schließlich Versprechen ist.“
Doch. Denn dafür sind Politiker da. Wenn das Volk zu dumm ist die dann zu wählen selber schuld. Was wäre denn die Alternative? Nach der Wahl zu sagen: „na das was wir versprochen hatten war eigentlich ne doofe Idee, wir machen das daher doch nicht.“?
Ich glaube nicht, dass das besser funktioniert.
Blöd ist ja eher, wenn vor der Wahl ständig Sachen versprochen werden, die dann nicht erfüllt werden. Dass jemand meckert weil Versprechen gehalten werden ist mir relativ neu…
(sorry für off topic)
@Mycroft
Da hatte ich aufgehört zu lesen. Gibt nur a oder b ist unwissenschaftlicher Murks. Der kann interessant sein. Dann aber nicht von einem Wirtschaftsprofessor.
Weil Journalisten moralinsaure Moralapostel sind, die permanent den Zeigefinger erheben – zumindest im übertragenen Sinne und auf Papier – während sie dabei über andere urteilen!
@ICHBINICH (11)
Ja, das ist ein Nebenkriegsschauplatz. Deshalb ganz kurz: Es wäre doch hilfreich, die Dummheit mancher Ideen schon zu erkennen, bevor man sie zu Wahlversprechen macht. Dann würde man sich die Peinlichkeit ersparen, sie nach der Wahl entweder umsetzen zu müssen oder es zu lassen, weil man endlich bemerkt hat, dass es doch eine dumme Idee war.
Thomas Beschorner stimme ich nur soweit zu, dass man aus dem Versagen des Spiegel nicht gleich auf alle Journalisten und die gesamte Branche schließen sollte. Aber es geht hier eben nicht um einen einzigen „Betrüger“, der die Grundregel des Journalismus und des eigenen Blattes verletzt hat. Vielmehr hat er offensichtlich, mindestens: mutmaßlich die Regeln und Erwartungen seines Entdeckers, seiner Förderer und des Gesellschaftsressorts des Spiegel – in ihrer Sicht und der Jurys, die ihn reihenweise ausgezeichnet haben – aufs Vortrefflichste erfüllt: „Beschreibe Deine eigene ‚Wahrheit“ und die Realität, wie wir sie uns in unserer Einbildung vorstellen.“ Damit sind sie – nach meinen eigenen Erfahrungen – leider nicht allein. DAS ist das Erschreckende an dem „Fall“. Weil er nach den leidvollen Erfahrungen, die auch andere Kollegen schildern in priv. Gesprächen oder auf #sagenwasist eben gerade KEIN Einzelfall ist. Wenn er also etwas Gutes hat, dann, dass er uns Journalisten zum Innehalten und Nachdenken zwingt über unser eigenes Tun und das der Medien, für die wir arbeiten. Deshalb hat Niggemeier recht!
Die Vorkommnisse um Relotius führen aus mehreren Gründen zu solcher Aufregung in der Branche – es ist vor allem eine narzisstische Kränkung sowohl des Blattes als auch der einzelnen Journalist/innen enthalten: 1. Die Selbstwahrnehmung des Spiegel ist gestört worden, und das ist ein Segen. Man glaubte, wer das Spiegel-Niveau hat, hat recht. Noch immer hatte man dort nicht verstanden, dass was im 20. Jh State of the Art ist, im 21. Jh nicht mehr reicht – dass jetzt mehr Transparenz und ständige kritische Selbsthinterfragung nötig sind, auch in der Schreibe, dass „das kommt vom Spiegel, das muss stimmen“ nicht mehr gilt. 2. Doker/innen sind für Journalist/innen leidige Besserwisser und Korinthenkacker im epischen Krieg um „ich war da, das war so“ gegen „lässt sich nicht verifizieren“. Auch das Selbstverständnis der einzelnen Journalist/innen und das Selbstbewusstsein der Doker/innen wird sich ändern müssen und man darf die Zahl der Schreiber/innen reduzieren, aber nicht die der „Doker/innen“.
@PHILIPP DEMLING
Naja, wenn aber „das Volk“ gerne dumme Ideen umgesetzt haben möchte, was dann? Man kann sich dann ja nicht hinstellen und sagen : „ihr seid alle doof, wir machen das so nicht“ (zumindest nicht, wenn man nochmal gewählt werden will). Deswegen verstehe ich auch die Motivation dieser ganzen Symbolgesetze (z. B. Burkaverbot), die keine Relevanz haben außer ein Zeichen in irgendeine Richtung zu setzen. Auch wenn das mehr auf die eigenen Vorurteile — bzw. die der Wähler – – zielt als irgendein Problem zu lösen.
Und da schließt sich sogar wieder der Kreis zum Thema: offenbar war es hier auch so, dass die Leser — oder zumindest der Chefredakteur und die Juroren — gerne das lesen wollten, was ihre Vorurteile bestätigt und nicht, wie es wirklich ist.
Vermutlich ein generelles Problem unserer Zeit (oder vielleicht sogar der Menschen im Allgemeinen).
Ich bin daher auch eher nicht beim Autor sondern bei SN. Ich gehe auch fest davon aus, dass das ein generelles Problem ist und kein Einzelfall. Aber das werden wir ja sicher demnächst sowieso genauer erfahren…
@ Sonny:
Sie gendern überall, wo es um Begriffe ohne negative Konotation geht („Journalist/innen“, „Doker/innen“ „Schreiber/innen“); dort aber, wo es sich um negativ konnotierte Begriffe handelt, verwenden Sie das generische Maskulinum („Besserwisser und Korinthenkacker“). Vielleicht ein Zufall, aber weil das wohl öfter so gehandhabt wird, ist mir dies aufgefallen.
Entschuldigung dass ich mich doof anstelle, aber was ist ein „Doker“ oder eine „Dokerin“?
Mit Doker/in gemeint sind die Mitarbeiter der Dokumentations-Abteilung. Sprich: die Fakt-Checker, welche die Fakten in Texten prüfen (sollen), ob sie zutreffen und sich verifizieren lassen.
Es ist vor diesem Hintergrund daher befremdlich, wenn nun schon von einer Krise des Journalismus und von einem „Desaster“ gesprochen wird oder Vergleiche zu den gefälschten Hitler-Tagebüchern hergestellt werden und was noch alles.
Der Vergleich wäre auch reichlich beschönigend. Die Krise kommt ja nicht daher, weil eine Redaktion betrogen wurde und die Kritik regt sich nicht wegen ein paar falschen Fakten auf. Relotius war ein Teil eines System, dass über Dinge berichtet wie sie gerne gesehen werden. Er hat Preise dafür bekommen, dass er so schön formuliert hat, was alle denken was richtig wäre. Oder wie es der Gerhard Strate im Cicero ausgedrückt hat „wenn Haltung mehr zählt als die Wahrhaftigkeit“ (https://www.cicero.de/kultur/fall-claas-relotius-spiegel-journalismus-haltung-georg-restle)
Dafür wurde Relotuis gefeiert und mit Preisen überhäuft und das ist das Schlimme an dieser Affäre.
Ich habe über 15 Jahre den Spiegel regelmäßig gelesen und phasenweise sogar abonniert. Mittlerweile lande ich vielleicht einmal im Monat auf eine Artikel dort (meist der Kommentatoren). Wer Informationen über das was geschehen ist und wie die Beteiligten darüber denken, muss sich heute auf die Suche begeben um aus mehreren Stimmen eine Gesamtsicht der Dinge zu bekommen. Vom „Hochjournalismus“ wird man immer nur eine Sichtweise erzählt bekommen. Das ist genau das was Relotius gemacht hat. Auftragsarbeit für die, die in Journalismus einen Auftrag sehen.
Der Artikel dieses BWL-Profs leidet an mehreren Mängeln:
1.Offensichtlich will er dem Spiegel bzw. dem Bertelsmann-Konzern seine BWL-Firmenethik-Masche verkaufen (solches Zeug dient aber meist nur der Image-Pflege nach außen).
2.Der Prof wiegelt mit Verdrehungen ab: Relotius war nicht „ein jungen Journalist“, so wie irgend ein verlogener Manager: Er war DER Manager des Jahres: Der große Star, mit Preisen überhäuft, in den Himmel gelobt, als Tugendikone bejubelt, prominent publiziert (und dabei sicher auch mit nicht wenig Geld bedacht)… eben anders als Zehntausende andere „junge Journalisten“. Sicher, er konnte schreiben, aber das war nicht sein Geheimnis: Er konnte schreiben, was DIE hören wollten: Warum Putin und Assad die Schurken sind und wir die Guten, Trumps Wähler primitiver Abschaum und Hillary’s Wähler klasse… usw.
3.Der Prof. ereifert sich überschäumend wg. angebl. hysterischer Reaktionen. Ich fand das nicht. Eher sehe ich ein paar Artikel auf Kurzzeit-Empörung machen (man spürt oft dabei ein leises Seufzen, Gottseidank dass man UNS nicht erwischt hat). Beweis: Nach kurzem Stürmchen im Wasserglas hörte man ein paar Wochen später schon nichts mehr von Relotius. Wo sind die BILD-Papparazzi, die ihn jagen, sein Privathaus belagern usw., wie bei jedem unliebsamen Gewerkschaftsführer, der den Bossen die Stirn bietet?