Virtual Reality im Journalismus

Eine begehbare Nische

"Virtual Reality" sollte den Journalismus revolutionieren, doch der große Durchbruch lässt auf sich warten. Aber es gibt sie, die Projekte, die die besonderen Möglichkeiten nutzen, das Publikum scheinbar mitten ins Geschehen zu führen.

Von außen gleicht Amaieds Haus einer Ruine. Der Boden im Eingangsbereich ist staubig, im Haus selbst nur das Nötigste: kleine Sitzecken, eine Kochecke, ein alter Fernseher. Der Hausherr führt durch die Zimmer und erzählt dabei seine Geschichte. Eine Erzählung von Angst und Gewalt, von der Belagerung durch den IS, von dessen Rückzug und den unzähligen Sprengfallen, die viele Häuser in seiner Heimatsstadt – Falludscha, Irak – unbewohnbar machen. Der Boden des ersten Stocks ist mit grünen und roten Teppichen ausgelegt, weiter die Treppe hoch, rauf aufs Dach. Plötzlich ein lautes Geräusch, eine Detonation, Pfeifen in den Ohren. Alles wird weiß, die Sicht verschwimmt.

Felix Gaedtke und Gayatri Parameswaren von NowHere Media

Was wie eine Szene aus einem Kriegsfilm wirkt, ist in Wahrheit eine Virtual Reality-Produktion der Journalisten und Dokumentarfilmer Gayatri Parameswaran und Felix Gaedtke von NowHere Media. Ihr Film „Home After War“ erzählt die Geschichte von Ahmaied und seiner Familie, die durch den IS vertrieben wurde und nun nach der Rückkehr mit unzähligen, versteckten Sprengfallen zu kämpfen hat, die einen seiner beiden Söhne töteten. Das Besondere an dem Projekt: Parameswaran und Gaedtke erzählen die Geschichte in Virtual Reality. Die Zuschauer können virtuell durch Ahmaieds Haus laufen oder teleportieren, die Kochecke und die einzelnen Stockwerke begutachten, den Mann selbst kennen lernen, seine Welt betreten.

Virtual Reality beschreibt streng genommen eine am Computer generierte Welt, in die Zuschauer mittels VR-Brille oder am Smartphone eintauchen können. Die meisten Anbieter bieten unter dem Überbegriff VR auch 360-Grad-Videos an. Der Hauptunterschied: Hier können Nutzer nicht herumlaufen. Die eigene Position im Video ist die der Kamera. Bei „Home After War“ benutzten Parameswaran und Gaedtke einen Mix aus beidem.

VR bietet völlig neue Möglichkeiten der journalistischen Aufbereitung von Inhalten. Die Technologie wird seit Jahren gehypt, auf Medienkonferenzen wie der re:publica gibt es etliche Panels zum journalistischen Potenzial, vereinzelte VR-Projekte werden vorgestellt. „Es deutet einiges darauf hin, dass mit VR das mächtigste und endgültige Medium kommt,“ schrieb der Journalist und Softwareunternehmer Lorenz Matzat Anfang 2016. Aber – wo ist er denn, der ganze VR-Journalismus?

Es gibt ihn.

Die „New York Times“ produziert seit 2015 VR-Content, vor allem 360-Grad-Videos, die über die eigenständige App NYT VR abrufbar und auf dem Handy oder mit einer VR-Brille angesehen werden können. Der britische „Guardian“ hat ein ähnliches Angebot.

Im OP-Saal, auf der Skischanze

Aber auch deutsche Medien machen VR, die „Süddeutsche Zeitung“ zum Beispiel. SZ-Nutzer finden sich mitten in einem OP-Saal wieder und können einer OP beiwohnen oder das Skispringen in Oberstdorf aus der Perspektive der Sportler erleben. Zwischenzeitlich hatte die SZ eine eigene VR-App, die jedoch vor etwa einem Jahr wieder eingestellt wurde. Arte hat seine VR-App – ARTE360 VR – noch und bietet dort Konzerte, Dokus und fiktionale Inhalte an.

In den meisten Fällen engagieren deutschen Medien Produktionsfirmen oder Videojournalisten, die eine Geschichte in VR oder 360-Grad umsetzen. Christiane Wittenbecher von der Berliner Produktionsfirma IntoVR ist eine von ihnen. Ihr Prestige-Projekt: ein 360-Grad-Erlebnis im letzten aktiven Steinkohlebergwerk Deutschlands. Gemeinsam mit dem WDR machte sie einen sterbenden Arbeitsplatz zwischen gewaltigen Maschinen und schwarzem Kohlestaub ein letztes Mal für die Zuschauer erlebbar. Bergmann Andreas nimmt die Nutzer mit unter Tage und zeigt die Zeche, bevor er sich endgültig von ihr verabschieden muss.

Screenshot: glueckauf.wdr.de

„Das Tolle ist, dass wir Geschichten einfach anders erzählen können“, sagt Wittenbecher. Es mache einen großen Unterschied, man sei quasi vor Ort – viel präsenter: „Ich bin woanders und tauche dort ein. Ich treffe dort Menschen und kann sie anders kennenlernen“, erklärt die Videojournalistin. Die Geschichte bleibe so besser in Erinnerung, weil „ich selber da bin“, sagt sie. Bei VR-Produktionen gehöre mehr Planung dazu: „Welche Szenen will ich drin haben, wie stelle ich die Kamera auf? Das muss ich etwas genauer vorbereiten bei diesem Medium“, sagt Wittenbecher.

Für Felix Gaedtke von NowHere Media liegt der Hauptunterschied zwischen VR und klassischem Film in der Macht, die er als Macher ans Publikum abgibt: „In einem Dokumentarfilm schneide ich Bild an Bild, Frame an Frame, ich bin Gott. Bei VR kann ich gar nicht viel bestimmen, sondern gebe Leute einen Raum und schaue dann, wie sie damit umgehen.“

Im Stasi-Gefängnis

Ein weiteres Projekt, an dem Wittenbecher und das IntoVR-Team entscheidend mitgewirkt haben, ist der 360-Grad-Film „Was wollten Sie in Berlin?“. Gemeinsam mit der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen wurde ein Film produziert, bei dem die Zuschauer in die Rolle eines Häftlings der DDR-Staatssicherheit schlüpfen. Christiane Wittenbecher hat dabei am Drehbuch mitgearbeitet. Der Film sollte die Ausstellung im Museum ergänzen. Die Besucher werden von Gefängniswärtern in original Stasi-Requisiten angeschrien, ausgefragt und ein einer Zelle eingeschlossen. Um die Geschehnisse für die Nutzer erlebbar zu machen, haben sich die Macher immer „sehr eng an Protokolle und Zeitzeugenaussagen“ gehalten. „Wir haben unser Storyboard immer wieder damit abgeglichen“, erklärt Wittenbecher. Nur so könne garantiert werden, dass die Zuschauer das Erlebnis so realistisch wie möglich wahrnehmen.

Der hohe Realismus von VR birgt aber auch Gefahren. „Es gibt Forschung dazu, dass in VR Erlebtes im Gehirn so abgespeichert wird, als hätte man es wirklich selbst erlebt.“ Man nimmt es also ganz anders wahr als einen Film. Das darf man als Storyteller nicht vergessen,“ sagt Gayatri Parameswaran.

Parameswaran und Gaedtke fragen „Home after War“-Zuschauer vorher, ob sie schon mal in einem Kriegsgebiet waren oder an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Für ein ähnliches Vorgehen plädiert auch Jeanny Gering vom Dart Center for Journalism and Trauma: „VR kann ein sehr wirkungsstarkes Medium sein. Wenn Inhalte extreme oder schockierende Bilder enthalten, sollten ihnen unbedingt Trigger Warnings vorausgehen.“

Die Macher von „Home after War“ haben sich außerdem dafür entschieden, die Explosion im Film nicht direkt zu zeigen. Für Parameswaran gilt: „Weniger ist mehr, nur um sicherzugehen.“ Sie betont aber auch, dass es noch keine festen Regeln für VR gibt, weil das Medium noch so jung ist. Man könne vielleicht anders vorgehen, sobald das Publikum sich an VR gewöhnt hat: „Das erste Mal, als Menschen in einem Kino saßen und auf der Leinwand einen Zug auf sich zufahren sahen, haben sie panisch das Kino verlassen, weil es auf sie so realistisch wirkte.“

Warten auf den Durchbruch

Aber: Wann gewöhnt sich das Publikum denn an VR? Wann kommt er, der lang erwartete Durchbruch? Für Gaedtke ist das Problem aktuell noch vor allem die Hardware. Es sei aber nur eine Frage der Zeit, bis „das iPhone der VR-Brillen“ der Technologie zum Durchbruch verhelfe.

Lozenz Matzat, der VR 2016 noch als das „endgültige Medium“ bezeichnet hatte, ist heute nicht mehr ganz so optimistisch. Das Potenzial sei zwar nach wie vor da, mit einem baldigen Durchbruch von VR im Journalismus rechnet er aber nicht mehr. Neben der fehlenden guten Hardware das größte Problem: Die Finanzierung. Den erhöhten Produktionsaufwand für VR könnten sich im Moment nur die Öffentlich-Rechtlichen wirklich leisten. Deshalb sei es „angesichts der zentralen und ungelösten Frage der Finanzierung des privatwirtschaftlichen Journalismus kaum vorstellbar, dass das Genre VR-Journalismus kurz- oder mittelfristig eine bedeutende Rolle spielt.“

Die problematische Finanzierung lässt sich am Bergwerk-Projekt des WDR illustrieren: Auf Anfrage gibt der Sender an, dass die Seite glueckauf.wdr.de bisher über eine halbe Million mal aufgerufen wurde. Demgegenüber stehen Produktionskosten „im mittleren sechsstelligen Bereich.“ Quasi: Ein Euro pro Klick. Für private Medienunternehmen dürfte das kaum finanzierbar sein.

Die SZ zeigt sich mit dem Erfolg ihrer VR-Abteilung zwar zufrieden, einzelne Projekte erreichen nach eigener Angabe sechsstellige Zuschauerzahlen. Wolfgang Jaschensky, Leiter der SZ-Entwicklungsredaktion, räumt aber auch ein: „Das Interesse auf dem Anzeigenmarkt ist geringer als gedacht.“

VR ist im Journalismus angekommen, viele experimentieren damit und produzieren heute schon teils beeindruckende Inhalte. VR-Journalismus als Massenprodukt ist aber derzeit nicht in Aussicht, den würde erst eine massenhafte Verbreitung guter VR-Brillen ermöglichen. Und davon sind wir noch weit entfernt. Matzat zieht den Vergleich zur Entwicklung des Mobiltelefons und sieht die VR-Brillen von heute auf ähnlichem Stand wie die „der Aktenkoffer-großen Mobiltelefone von Anfang der 90er Jahre.“

Bis sich das ändert, bleibt der VR-Journalismus eine begeh- und erlebbare Nische.

6 Kommentare

  1. Dass es diese virtuelle Bergwerkbegehung erst gibt, wenn die zugehörige Industrie zum reinen Museumsstück wird, ist schon etwas bezeichnend.

  2. Was bezeichnet es denn?
    VR-Technologie ist ja erst in den letzten 5 Jahren groß geworden und bis heute noch nicht auf Release-Niveau. Dass das zeitpunktmäßig mit den letzten deutschen Zechenschließungen einher geht, ist wohl eher ein bisschen zufällig, oder übersehe ich etwas?
    Ich habe vor >15 Jahren schon im deutschen Museum in München eine virtuelle Bergwerksbegehung gemacht, ganz ohne VR-Brille ;)

  3. Dass „die“ Kohleindustrie, bzw. die Kohlearbeiter, ganz zum Schluss noch rührselig werden. Bzw., letztens kam der Vorschlag, St. Barbara in NRW als Feiertag einzuführen, weil: Bergbauschutzheilige und so.
    Ansonsten kann ich Sie noch unterbieten: vor >25 Jahren habe ich eine nicht-virtuelle Museumsbegehung unter Tage gemacht. (Ok, 20 m unter Tage ist nicht so tief…)

    Zum eigentlichen Thema: für Museumszwecke oder sehr aufwendige Dokus ist das sicher eine tolle Technik, aber für den „journalistischen Alltag“? Der Überfall auf die Sparkasse, die Diskussion im Bundestag, der DAX, das Wetter?

  4. Stimmt schon, bis das im journalistischen Alltag ankommt, muss die Technologie so leicht und günstig zu erhalten sein, wie ein Smartphone.
    VR ist da ja ein bisschen wie Fusionstechnologie: In 10 Jahren funzt’s! ;)

    Ich unterbiete noch mal: Graphitbergwerk, >100m.
    Müsste Kropfmühl gewesen sein. Allerdings auch vor ca. 15 Jahren .. vor 25 Jahren war ich erst 6, davon weiß ich nicht mehr so viel ;)

  5. Erinnert sich noch jemand an die Audiotex-Anwendung „Die Villa“ des Chaos Computer Clubs (CCC)?

    Das war Anfang der 1990er Jahre. Die Postreform in Deutschland war gerade in ihrer heißen Phase. Aus der Fernmeldesparte der Deutschen Bundespost wurde erst die Deutsche Bundespost Telekom und etwas später die Deutsche Telekom AG. Die Postreklame wurde der Telekom als Tochterunternehmen zugeschlagen und firmierte um in den neuen Namen DeTeMedien. Zusammen mit dieser Tochter führte die Telekom einen Feldversuch mit sogenannten „Mehrwertdiensten“ in der dafür neu geschaffenen Rufnummerngasse 0190 durch, die zunächst nur im Vorwahlbereich 02 erreichbar war.

    Einer der Anbieter von Diensten in der Rufnummerngasse 0190 war der CCC mit seinem Autiotex-System „Die Villa“. Über die Zifferntastatur seines Fernsprechapparates konnte man sich darin in einem fiktiven Gebäude durch verschiedene Etagen und Räume bewegen und dabei auch mit den anderen dort jeweils anwesenden Teilnehmern sprechen.

    Ich habe das selbst zwar nie genutzt, aber die technische Entwicklung anhand von Presse- und Radioberichterstattung interessiert verfolgt. Im Gedächtnis geblieben ist mir die in einem Radiobericht vorgespielte Begrüßung am Anfang, wo der Besucher im Eingangsbereich des gebäudes steht und ihm die Situation kurz beschrieben wird. Es wird beschrieben, wie der Flur aussieht, wohin Türen und Treppen führen und daß sich im Gebäude Toiletten befinden „nach Geschlechtern getrennt selbstverständlich“. Das ist mir im Gedächtnis geblieben, weil es mich geärgert hat, daß der CCC, der sich so sehr als gesellschaftskritisch und rebellisch präsentiert, es als ganz selbstverständlich bezeichnet, daß Toiletten nach Geschlechtern getrennt werden.

    Dieses System war auch schon Virtual Reality: Der Anwender hat sich durch eigene Entscheidung durch eine fiktive Realität bewegt und konnte dabei mir dieser Realität und mit anderen Anwendern interagieren. Und das vor mittlerweile rund 25 Jahren!

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