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Stoff für Geschichten

Auf den allerersten Blick wirkt „schluck“, „das anstößige Weinmagazin“, wie ein Punk-Fanzine. Das Cover getunkt in ein grelles Ü30-Party-Gelb. Darauf ein nicht mit Drucklack oder Cellophan veredeltes Schwarzweiß-Foto eines ineinander verschränkten Paares, bei dem der eine dem anderen eine Rieslingsektflasche bzw. ein Glas an Stellen setzt, wo sich üblicherweise primäre Geschlechtsorgane finden.

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Aber ist das heute noch Punk? Die Kraft der Normverletzung hat in den vergangenen 40 Jahren unter der schrittweisen Verschiebung der Provokationsschwelle schließlich sehr gelitten. Im Umfeld der vielen glatten, hellen, appetitlichen Koch-, Back- und Weinmagazine ist das Magazin allerdings durchaus ein willkommener Dorn im Auge. Kann aber auch der Splitter eines Barrique-Fasses sein. Das Design von Proxi.me aus Berlin schafft es, mit „schluck“ eine 28 mal 21 Zentimeter große Schneise in die Fressecke des Zeitschriftenregals zu fräsen.

Ein Umschlag-Einklapper erklärt das Titelbild: Das Foto ist die von Oliver Rath umgesetzte Interpretation eines Weinetiketts, das der französische Zeichner Bernard Verlhac für ein Weingut aus dem Bordelais entwarf. Diesem Kapitel französischer Flaschenkunst widmet „schluck“ seine Titelgeschichte, die unter der Headline „Das Label nach dem Tod“ steht: Die Zeichner Stèphane Charbonnier, Georges Wolinski und Bernard Verlhac gehörten zu den zwölf Menschen, die bei dem islamistisch motivierten Terroranschlag auf die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ am 7. Januar 2015 ermordet wurden.

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„Wir haben exklusiv ein paar dieser Kunstwerke sichergestellt und zeigen hier, dass Charlie Hebdo mehr war als das Witzblatt von ein paar Provokateuren“, leitet „schluck“ die Bildstrecke ein. Zu sehen sind „leicht sexistische Labels – wie es in Frankreich auch unter Linken Brauch ist“. Leicht ist jedoch noch dehnbarer als links. Da streckt eine nackte Rothaarige ihren Hintern in die Luft, in dem ein Korkenzieher steckt und schenkt mit der Rotweinpulle im Mund aus. Ein rotnasiger Herr entkorkt einen phallischen Flaschenhals zwischen seinen Beinen und grinst auf die Scham seiner Frau, die – quelle surprise – von einem dreieckigen Weinglas geformt wird. Beim „Saint Émilion“ schließlich quillt der Wein gleich ohne Umschweife aus den Brustwarzen einer Nackten.

Jetzt bloß nicht in die „Satire darf eben doch nicht alles“-Falle tappen, denn „schluck“ sagt doch: „In den Januartagen 2015 ist etwas sehr Wertvolles abhanden gekommen: die Freiheit des Spötters, die die Freiheit des Denkens ist.“

Wüsste man nicht, dass die Weinetiketten von den getöteten Zeichnern stammen, fiele es leichter, sie werkimmanent zu interpretieren: Der Mann auf einem der Etiketten, der in einem Fass steckt und aus einem Zapfhahnpenis Wein pinkelt, das ist so unglaublich gusseisern und vorhersehbar, dass man angesichts dieser vermufften Genitalfixierung nur noch sehr müde wird. So arbeitet das Pathos des Textes, der das schreckliche Ereignis mit dem bacchantischen Weingenuss des freien Frankreich verbindet, gegen die Schlichtheit dieser Gebrauchskunst. Aber vielleicht ist der Holzhämmerchen-Humor landestypisch, und es sind nur acht von 124 Seiten. Oder ein halbes Gläschen Wein aus einer 0,7er Flasche.

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Das Heft startet nämlich mit einer richtig guten Geschichte. Die Hauptfigur ist Raimond de Villeneuve, ein Winzer im südfranzösischen Roquefort-la-Bédoule, einem 5.000-Seelen-Örtchen zwischen Aubagne und La Ciotat. Sieben Minuten lang konnte er im Sommer 2012 von seinem Haus aus zusehen, wie seine komplette wirtschaftliche Existenz von einem Hagelschauer vernichtet wurde. Nur 15 Kilo Weintrauben seines 200.000 Tonnen schweren Durchschnittsertrages blieben von der Wetterkatastrophe verschont. Was Manfred Klimek (ja, es handelt sich um den Manfred Klimek, der schon im „Hohe Luft“-Magazin mit einem lesenswerten Beitrag vertreten war; im Fall von „schluck“ ist er sogar der Chefredakteur) beschreibt, ist die Geschichte einer Solidaritätsaktion unter Individualisten, die es normalerweise gewohnt sind, ihre Betriebsgeheimnisse, ihre Reben und ihren Ertrag streng zu hüten. Mit einer beispiellosen Hilfsaktion gelang es 35 Winzern, mit gespendeten Trauben das Weingut von Raimond de Villeneuve zu retten. Manfred Klimek erzählt diese Geschichte im passenden Hagelstakkato und mischt dabei Interview und Prosa.

Wer in „schluck“ Parker-Punkte und Medaillen erwartet, wird enttäuscht sein. Um genau zu sein – es wird nicht ein einziger Wein explizit vorgestellt. Stattdessen geht es um die Qualität und Ästhetik des Rauschs, um gute Musik, Lebensmittel-Erzeugung und -zubereitung und Architektur für Weingüter. Wenn der Wiener Architekt Andreas Burghardt über die Schwierigkeit spricht, eine Form zu finden, die in der Lage ist, allürenfrei einen physischen und gestalterischen Alterungsprozess zu überleben, dann ist das fast schon eine Metapher für das eigene Leben. Zum Glück verkneift sich „schluck“ selbst derartige Allüren und bleibt angenehm trocken.

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Es gibt eine prägnante Kolumne über die Verbalisierung des Geschmacks und die engen Grenzen, in denen sich Weinkenner und Sommeliers dabei freiwillig bewegen. Das immer gleiche „Bouquet aus dem Kräutergarten“ wird dabei um die Aufforderung ergänzt, die Geschmacks- und Geruchsnoten der eigenen Nase und Zunge zu benennen. Schließlich kann ein Wein auch nach Baumrinde riechen oder eben nach „dem Duft der Gaby Meyer“, wie der Text betitelt ist. In eine ähnliche Richtung deutet die Glosse, die die verklausulierte Sprache des Käufers, sein eigentliches Anforderungsprofil an den Stoff und die Auswahl des Weinhändlers in ein ultimatives Flussdiagramm packt.

Neben einer Food-Bildstrecke, die zwar opulent, aber durch die Unterschiedlichkeit der Bildautoren und Themen etwas beliebig wirkt, nähert sich das Magazin mit erstaunlicher Faktentiefe den geologischen Grundlagen des Champagners, dessen Rebsorten auf Kalkstein, Mergel und Kreide wachsen. Wie erbaulich hätte der Erdkundeunterricht sein können, hätte man damals schon erfahren, dass das Gestein aus dem Eozän ein Cuvée begünstigt, dessen Noten an Honig, Haselnuss und kandierte Früchte erinnern.

Unterm Strich ist „schluck“ mit seiner ersten Ausgabe – in einem halben Jahr soll das zweite Heft erscheinen – ein sehr handfestes und auch ohne Weinbegleitung lesbares Magazin gelungen. Bei extrem wenig Anzeigen findet sich zwischen Deckblatt und Rückseite so viel Inhalt, dass man schon jetzt gespannt sein darf, wie das zu wiederholen ist.

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schluck
124 Seiten
Verlag: Wineadventures UG, Berlin
Ausgabe 01/2016

 

2 Kommentare

  1. … Müsste das dann nicht Ausgabe 1-2016 und nicht 1-2015 sein?

    Interessanter Artikel in jedem Fall, danke für’s Vorstellen!

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