Hasswort (60)

Zeitlos

Moderedaktionen lieben das Wort „zeitlos“. Es verspricht einen Stil, der über Zeit und Raum erhaben ist. Doch in Wahrheit geht es um maximale Anpassung.

Wir schreiben das Jahr 3085. Eine emsige, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erfundene Apparatur wühlt sich durch eine längst aufgegebene Mülldeponie der schon lange nicht mehr besiedelten Erde. Die Spannung steigt: Seit Monaten treibt einen Großteil des Universums die Frage um, worum es sich bei dem schwarzen Stück Stoff handelt, das irgendwo zwischen Atommüll und Autobahnleitplanken auf dem Grund eines tiefen Kraters liegt.

Der Greifarm bekommt einen Ärmel zu fassen und die Wissenschaftler*innen jubeln: ein Blazer! Sofort tritt die führende Modeexpertin in die Live-Schalte, alle halten den Atem an. Wie wird sie das Kleidungsstück datieren? Was kann es über das Leben der Menschen damals erzählen?

„Das Etikett verrät uns: Das Kleidungsstück wurde von einer Marke namens Zara gefertigt, die Qualität ist minderwertig. Doch datieren kann ich es kaum, denn dieser Blazer ist absolut zeitlos!“

Hoffnung auf immerwährende It-Pieces

Dieses Szenario malen sich wohl Menschen aus, die Funktionalität, Designsprache und ihre persönlichen ästhetischen Präferenzen hintangestellt haben – zugunsten der Vorstellung, dass ihre neu angeschaffte Stoffhose ewig tragbar bleiben wird. Auch die Modeindustrie weiß natürlich von dieser Hoffnung. Deshalb wird in Modezeitschriften alles Mögliche mit dem omnipräsenten Schlagwort „zeitlos“ versehen, von den Eulenketten der 2010er-Jahre bis hin zu den gerade angesagten Oversize-Trenchcoats.

Es gibt Menschen, die sich nach einer vermeintlich einfacheren, für sie besseren Zeit sehnen und deswegen nicht nur konservativ denken, sondern sich auch so kleiden. Es gibt Menschen, die wollen Teil der Avantgarde sein und in der Berghain-Schlange aussehen wie Zeitreisende aus der fernen Zukunft. Das kann ich mir erklären. Aber woher kommt das Bedürfnis, modisch über Zeit und Raum erhaben zu sein?

Bloß nicht „out“ sein!

Ich verstehe schon: Zeitlos klingt sexy. Es klingt objektiv. Es klingt nach Geschmack und nach dem Selbstbewusstsein, nicht jedem Trend hinterherlaufen zu müssen. Vielleicht entsteht das Bedürfnis dahinter aber eher aus der Angst, out zu sein, ohne es zu merken.

„In“ und „out“ sind zwei kleine Wörter, die erstaunlich viel verraten über unsere kollektive Angst, ausgeschlossen zu werden. Der Begriff „zeitlos“ scheint das Gegenteil zu versprechen: etwas, das immer gültig bleibt, etwas, das man nie hinterfragen muss. Weiße Bluse, blaue Jeans, schwarze Lederjacke: Mit diesen Teilen, so das Versprechen, sei man vom 8. bis zum 88. Lebensjahr immer richtig angezogen. Es ist eine Art modische Risikovermeidung, gerade wenn man daran denkt, wie viele stilistische Ausdrucksmöglichkeiten uns heute zur Auswahl stehen.

Viele greifen nicht nur aus modischen Gründen zu dem, was als zeitlos gilt, sondern aus einem durchaus ehrbaren Motiv: Sie verbinden es nachvollziehbarerweise mit Nachhaltigkeit. Kleidung, die nie aus der Mode kommt, so die Hoffnung, wird länger getragen und damit verantwortungsvoller konsumiert. Klingt logisch. Aber mal ehrlich: Würde die Modeindustrie dieses Buzzwort so oft verwenden, wenn sie damit ihr eigenes Geschäftsmodell abschaffen würde? „Timeless pieces“, wie es im Marketing gern heißt, finden sich in jeder Kollektion – von Luxusmodehäusern bis zu Fast-Fashion-Giganten.

Zeitlosigkeit ist eine Illusion

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Mode hat kein Ablaufdatum. Doch sie ist datierbar. Eine Weiße-Bluse-blaue-Hose-Kombination aus dem Jahr 2008 schmiegt sich eng an den Körper, während dasselbe Outfit heute locker um die Extremitäten schlackert. Kleidung schrumpft, wächst und formt sich mit dem gesellschaftlichen Konsens um den Körper. Das liegt in ihrer Essenz. Sie lebt von der Differenz zwischen dem Neuen und dem Alten, von den Träger*innen und den Menschen, die sich gegenseitig darin wahrnehmen. Sie verbindet, schreckt ab, rüttelt auf, kommuniziert permanent und genau das ist ihr Sinn.

In einer Welt, in der sich viele nach Gemeinschaft sehnen, können uns modische Gemeinsamkeiten Sicherheit bieten. Sie prägen ganze Generationen. 30 Jahre später erinnern sich diese dann pseudo-empört an ihre Modesünden und doch glänzen ihre Augen, wenn sie ihre alte Discohose wiederfinden oder nach dem dritten Glas Wein Fotos aus der Dauerwellenphase hervorholen.

Codewort für den Geschmack der Mittelschicht

Was wir hingegen als zeitlos empfinden, ist rein logisch nicht begründbar. Häufig handelt es sich um minimalistisch geschnittene Kleidungsstücke in neutralen Farben. Als Paradebeispiel für Zeitlosigkeit gilt außerdem der designsprachlich eher ausdrucksstarke Trenchcoat. Was beweist: „Zeitlos“ ist in Wahrheit ein Codewort für die Ästhetik der westlichen oberen Mittelschicht. Zeitlos ist nie laut, nie auffällig, nie von der Norm abweichend. Es ist das verlockende Versprechen, immer angepasst zu sein, in einer Welt, in der Auffallen im schlimmsten Fall gefährlich sein kann.

Andere Ästhetiken, die Subkulturen oder nicht-westlichen Kulturen entspringen, werden dagegen in Deutschland oft mit Skepsis beäugt. Im schlimmsten Fall sorgen sie sogar für Diskriminierung und Rassismus. Ironischerweise enthalten gerade viele subkulturelle Modeströmungen zeitlosere Elemente und Codes als die Mode der Mehrheitsgesellschaft. Man denke beispielsweise an die Punks, deren Ästhetik sich seit Jahrzehnten kaum verändert hat.

Modepublikationen hingegen loben zeitlose Basics in den Himmel und möchten uns trotzdem permanent das Gefühl vermitteln, dass wir, um ein echtes Individuum zu sein, einen superkreativen, einzigartigen Stil brauchen. Es ist verständlich, dass viele diesem Druck nicht standhalten wollen oder können. Am Ende setzen sich die Menschen so lange unter Druck, bis sie aufgeben und sich in ihrer Verzweiflung für eine Hose entscheiden, die angeblich auch in 100 Jahren noch cool sein wird – obwohl sie in Wahrheit nicht einmal 20 Waschgänge übersteht.

6 Kommentare

  1. Also, für mich bedeutet „zeitlos“ soviel wie „elegant und funktional“. Oder meinetwegen „schnörkellos“ oder „Bauhausstil“.
    Aber klar, Zeitlosigkeit ist das Gegenteil von Mode, schon von daher ist das ein besonders sinnloser Begriff.

  2. Nun ja, viel Wahres dran, aber mir zu einseitig. Hier die andere Seite: Es gibt durchaus „zeitlose“ Kleidungsstücke. Zum Beispiel habe ich einen Wintermantel aus den 1960ern, geerbt von meinem Großvater. Der könnte 100 Jahre alt sein oder erst vor wenigen Monaten produziert. Ziemlich zeitlos, meine ich.

    Aus Gründen der Nachhaltigkeit ist gut und fair produzierte Kleidung, die man lange tragen kann, kurzfristigen Trends jedenfalls vorzuziehen. Derzeit ist weit angesagt, in fünf Jahren wieder eng – Opas Mantel bleibt.

    Als Paradebeispiel für Zeitlosigkeit gilt außerdem der designsprachlich eher ausdrucksstarke Trenchcoat. Was beweist: „Zeitlos“ ist in Wahrheit ein Codewort für die Ästhetik der westlichen oberen Mittelschicht. Zeitlos ist nie laut, nie auffällig, nie von der Norm abweichend.

    Diesen Absatz halte ich für den in sich widersprüchlichen Versuch, auf Schnittmuster komm raus irgendeine (identitäts-)politische Dimension reinzubekommen – wieso soll ausgerechnet ein ausdrucksstarker Trenchcoat „beweisen“, dass zeitlos nie „laut“ sei? Ein guter Trenchcoat zwischen all den Funktionsjackenträgern ist heutzutage ein ziemlich lautes Statement (für Stilbewusstsein, zum Beispiel). „Leise“ wären neben der Funktionsjacke Jeans und Sneaker.

    Es ist das verlockende Versprechen, immer angepasst zu sein, in einer Welt, in der Auffallen im schlimmsten Fall gefährlich sein kann.

    Dieser Satz ist ziemlich Prä-68. Eine Norm, wie es sie damals noch gab, ist heute außerhalb bestimmter Berufe nicht mehr existent. Man kann im Kapuzenpulli in die Oper gehen, und es kräht kein Hahn danach. Die „Gefahr“ hält sich doch in sehr engen Grenzen.

    Andersrum wird ein Schuh draus: Wer „zeitlose“ Kleidungsstücke wie einen schlichten Anzug mit Krawatte trägt, fällt heute in den meisten Kontexten mehr auf, als wenn er mit Jeans und Sweatshirt unterwegs wäre. Siehe Wolfgang M. Schmitt, den sein klassischer Modegeschmack zum bunten Hund bei YouTube macht.

  3. Zeitlos klingt sexy? Das ist eine sehr merkwürdige Auffassung dieses Worts… In meiner Welt klingt zeitlos vor allem nach langweilig – etwas, bei dem man nichts falsch machen kann – aber ganz gewiss nicht sexy…

  4. Den Begriff „zeitlos“ mit Bekleidung in Verbindung zu bringen, fällt mir sehr schwer. Budapester, ein marineblauer Blazer mit güldenen Knöpfen, Pelzmäntel (bitte nicht steinigen!)… mehr nicht.
    Zu Interieur fällt mir wesentlich mehr ein: Ligne Roset, cor, Braun, Bang & Olufsen, Vitra … manches fertig(t)en diese Firmen über Jahrzehnte hinweg nahezu unverändert.

  5. Das Wort transportiert die Aussage, dass ein bestimmtes Design lange „haltbar“ ist, sich die Investition also lohnt. Es gibt mit Sicherheit überall in Mode, Baustil, … irgendwas, das in jeder Epoche mal zur Verwendung kam, mal betont wurde, dann wieder nicht, aber nicht verschwunden ist.

    Die Gegenprobe (für Mode) wäre ja sich vorzustellen, ob man in das Jahr 1925 in dem Aufzug zurückreisen könnte, ohne dass man dort auffällt, gleichzeitig aber auch heute kein Hingucker wäre.
    Ganz konkret weiß ich das über einen „zeitlosen Hut“, den mein Uropa in genau diesem Jahr gekauft hatte. Die originale Kiste mitsamt Werbekarte und eben zeitlosem Hut steht bei mir im Regal, weil selbst Hüte an sich nicht zeitlos sind.

    Immerhin, Baskenmützen scheinen in meiner Generation langsam wiederzukommen.

  6. Auf meiner Zeitlos-Liste stehen:
    Budapester, Chucks, Doc Martins, Samba v Adidas, Pumps
    Weißes Herrenhemd und T Shirt für m und w. La Marinière, V Pulli
    Duffelcoat, Parker, (Motorrad)lederjacke
    501, Chinos
    Kleines Schwarzes, Dirndl, Hemdblusenkleid

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