AfD-Gutachten

„Cicero“-Kolumnist findet „Geheimnisverrat“ plötzlich doch gut

Der „Cicero“ veröffentlicht das vollständige AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes – „im Namen der Demokratie“. Das ist ein erstaunlicher Sinneswandel: Als zuvor andere Medien Einblick in den geheimen Bericht erhalten hatten, wetterte das Magazin noch gegen den vermeintlichen „Geheimnisverrat“.

Zwei Schlagzeilen des Magazins „Cicero“, oben: „Einstufungsgutachten zur AfD aufgetaucht - Straftat im Namen des Rechtsstaats?“; unten: „“
Screenshots: „Cicero“

Seit gestern ist das eigentlich geheime AfD-Gutachten des Bundesverfassungsschutzes nicht mehr geheim. Es lässt sich in seiner ganzen 1108 Seiten langen Pracht unter anderem auf der Webseite des konservativen Politmagazins „Cicero“ herunterladen.

Das könnte für aufmerksame Leser des Magazins überraschend kommen. Noch vergangene Woche zeigte sich „Cicero“-Autor Mathias Brodkorb in seiner Kolumne völlig fassungslos darüber, dass der „Spiegel“ das Dokument nach eigenen Angaben bereits einsehen konnte:

„Man fragt sich nur: Wie kann das eigentlich sein? Wie ist es möglich, dass ein als geheim eingestuftes Gutachten auf Umwegen dennoch die Öffentlichkeit erreicht? Das ist nicht anders vorstellbar als dadurch, dass entweder Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums oder des Verfassungsschutzes diese Informationen und das Gutachten gestreut haben, um die mediale Berichterstattung über die Einstufung zu steuern. Und das ist eine handfeste Straftat namens ‚Geheimnisverrat‘.“

Für das Ansehen des Staates sei das „eine Katastrophe“, schrieb Brodkorb.

Bemerkenswerte geistige Flexibilität

Das stimmt aber nur halb. Denn für Brodkorb ist das alles offenbar nur eine „Katastrophe“, wenn der Bericht an andere Medien durchgesteckt wird. Im Begleittext zur gestrigen Gutachten-Veröffentlichung des „Cicero“, der ebenfalls von Brodkorb stammt, wird das Ganze nämlich plötzlich salbungsvoll zum demokratischen Akt umgedeutet: „Wir glauben daran, dass Demokratie nicht ohne Transparenz und kritische Öffentlichkeit funktionieren kann.“

Kannst du dir nicht ausdenken lol

[image or embed]

— Der Volksverpetzer (@volksverpetzer.de) 13. Mai 2025 um 23:20

Auf diese bemerkenswerte geistige Flexibilität haben bereits einige in den sozialen Medien hingewiesen, etwa das Magazin „Volksverpetzer“ oder Ann-Katrin Müller vom „Spiegel“. Und tatsächlich fragt man sich, ob Brodkorb dem „Cicero“-Informant auch erst einmal eine Moralpredigt gehalten hat, bevor er dann zähneknirschend das Ergebnis dieses „Geheimnisverrats“ angenommen und veröffentlicht hat.

Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass Brodkorb seinen ersten Text vor allem auf Einschätzungen des Strafrechtlers Reinhard Merkel stützt, der durchaus der Meinung ist, das Gutachten gehöre in die Öffentlichkeit. Merkel verweist auf die Dehnbarkeit des entsprechenden „Geheimnisverrats“-Paragrafen 353b StGB und auf die Möglichkeit, dass der Informant „quasi im ‚Notstand‘ und damit gegebenenfalls gerechtfertigt gehandelt hat, weil er die Geheimhaltung für einen Schaden an der Demokratie hielt“. Brodkorb widerspricht dem nicht.

Es ist also davon auszugehen, dass es dem „Cicero“-Kolumnisten gar nicht um den „Geheimnisverrat“ geht. Vielmehr unterstellt er dem Informanten, die mediale Berichterstattung steuern zu wollen, da das Gutachten eben zuerst beim „Spiegel“ landete. Gleichzeitig darf man bezweifeln, dass er dieses Argument anbrächte, würde eine Quelle exklusiv mit dem Material an den „Cicero“ herantreten.

Wie transparent müssen Medien sein?

Man kann an dieser Stelle aber darüber diskutieren, wie Medien mit solchen Dokumenten umgehen sollten. Halten sie es wie der „Spiegel“ oder die „Bild“, die das ihnen vorliegende Gutachten jeweils nicht vollständig veröffentlichten, nimmt Journalismus seine klassische „Gatekeeping“-Funktion ein, spielt also den Torwächter für Informationen. Die Redaktion hat dabei exklusiven Einblick in ein geheimes Dokument – und die Leser müssen darauf vertrauen, dass im Artikel dann wirklich das steht, was auch sie für relevant halten würden. Bei 1108 Seiten durchaus ein großer Vertrauensvorschuss.

Auf diesem Vertrauen basiert das Verhältnis von Medien und Publikum aber meist notwendigerweise, es ist ein zentraler Teil des journalistischen Nutzenversprechens – schließlich hat kaum jemand Zeit und Lust, jedes Thema selbst zu durchdringen. Aber dennoch muss es nicht immer der beste Weg sein.

Auch Aiko Kempen von „Frag den Staat“ hat im Übermedien-Podcast zuletzt argumentiert, dass es „demokratiestärkend“ wäre, wenn das Gutachten vollständig veröffentlicht würde: „Die ganze Diskussion darüber, ob dieses Gutachten fundiert ist, ob es politisch gewollt, gesteuert, in Auftrag gegeben ist, könnte man auf eine andere Ebene ziehen. Man wäre automatisch mehr in einer inhaltlichen Debatte darüber.“

Jetzt haben also konservative bis rechtspopulistische Medien vorgelegt. Neben dem „Cicero“ bieten auch „Nius“ und „Junge Freiheit“ das Dokument zu Download an. Rechtlich dürfte das alles in Ordnung sein. So heißt es etwa beim Fachmagazin LTO: „Journalisten sind nach § 353b Abs. 3a Strafgesetzbuch (StGB) vom Straftatbestand der Verletzung einer besonderen Geheimhaltungspflicht ausgenommen. Auch die umstrittene Vorschrift des § 353d StGB (Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen) gilt nicht für verwaltungsgerichtliche Verfahren.“

Zufällige Namensgleichheit

Allerdings irritierten Brodkorb und der „Cicero“ dabei nicht nur mit ihrem erstaunlichen Sinneswandel, sondern zunächst auch mit Blick auf den Quellenschutz. Denn während sich in den PDF-Dokumenten von „Nius“ und „Junge Freiheit“ keine Hinweise auf den Ersteller finden lassen, stößt man in den Metadaten im „Cicero“-PDF auf einen Namen. Googelt man diesen, landet man bei einem leitenden Mitarbeiter der Bundesdruckerei.

Auf Fragen dazu hat Mathias Brodkorb mittlerweile bei X reagiert. Er selbst habe den Namen eingetragen, es sei daher reiner Zufall, dass auch ein Behördenmitarbeiter diesen trage: „Hätte vorher nochmal googlen sollen, ob es eine solche Namensidentität irgendwo gibt. Wäre wohl besser, ich hätte ‚Max Mustermann‘ geschrieben. 😂 Habe daher den Kollegen gerade angeschrieben. Würde selbstverständlich eine eidesstattliche Versicherung abgeben, falls er Schwierigkeiten bekommt.“

Auf Nachfrage, warum er überhaupt einen Namen in das Feld eingetragen hat, statt es einfach freizulassen, hat Brodkorb bei X bisher nicht geantwortet.

8 Kommentare

  1. Sie schreiben: auf der Webseite des konservativen Politmagazins „Cicero“ und das Magazin „Volksverpetzer“ oder Ann-Katrin Müller vom „Spiegel“. Cicero ist also „konservativ“. Volksverpetzer und Spiegel sind “ „. Was ist “ „?

  2. die fast noch interessantere Frage ist, was eigentlich mit Mathias Brodkorb passiert ist, der einst die wichtige Seite „Endstation Rechts“ gründete mit dem Ziel, rechtsextreme Strukturen aufzudecken, und heute selbst im AfD-Vorfeld arbeitet.

  3. Oh nein, der neurechte Mainstream misst mit zweierlei Maß, ich bin empört und total geschockt … Bald merkt noch einer, dass die ganze Empörungskommunikation nur Mittel zum Zweck ist.

    Der Todfeind der AFD sagt zum Verbotsverfahren gegen die Rechtsextremen: „Das riecht mir zu sehr nach politischer Konkurrentenbeseitigung.“
    Ist doch super, wenn der eigene Todfeind exakt das Opernarrativ vorbetet (bzw. nachplappert), was man selbst verbreitet.
    Stilblüte siehe Kommentar #1 – Opfer eines Adjektivs.

    Wo ist dieser herbeiphantasierte linksgrüne Mainstream nur?

  4. Ist doch ganz klar:
    Die beim Cicero sind selbstverständlich die Guten, und die Guten dürfen das. NaTÜRlich.

    Dass das auf solche Umwege öffentlich wird, ist natürlich trotzdem suboptimal für den Staat.

  5. „VS (Verschlusssache) Vertraulich – Nur für den Dienstgebrauch“
    Der Vermerk unterliegt keiner größeren Geheimhaltung, außer man solle es nicht nach draußen tratschen.
    Eventuell wurde der Vermerk so gewählt, damit den Medien keine größeren Schwierigkeiten entstehen können.

    Bei Brodkorb un dem Cicero kann man sich wegen der „Änderung“ des Namens nicht sicher sein, ob es nicht weitere Änderungen gibt.

    Skurril finde ich gerade den „Plagiatejäger“ Weber, der in der Berliner Zeitung kritisiert, im Gutachten würden nur Urteile abgeschrieben und Zitate stehen.

    https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/plagiatsjaeger-weber-das-verfassungsschutz-gutachten-ueber-die-afd-ist-bloss-zusammenkopiert-li.2324889

  6. Bezüglich der Transparenz und „Gatekeeping“-Funktion lässt sich das dank des Internets heute sehr gut regeln. Es sollten entsprechende Dokumente, Studien, etc. entweder verlinkt oder zum Download angeboten werden, sodass diejenigen, die sich mit dem Gesamtwerk auseinandersetzen möchten, es tun können.

    Für alle anderen kann das Medium in Form von Texten weiterhin Zusammenfassungen, Kommentare, etc. anbieten, was wohl mehrheitlich wahrgenommen wird. Ein Nachteil entsteht dem Medium auf diesem Wege niemals meiner Einschätzung nach.

  7. Man reibt sich verwundert die Augen.

    „Das Gutachten zur AfD darf keine Geheimsache bleiben“
    titelte Detlef Esslinger 4. Mai 2025 in der Süddeutschen Zeitung.
    Gerade mal 10 Tage danach dreht er die Kanonen um und kritisiert auf dem gleichen Portal
    „Es ist leichtfertig, das Gutachten des Verfassungsschutzes zu veröffentlichen“

    Eine bemerkenswerte geistige Flexibilität. Weiß jemand, wie „das Magazin ´Volksverpetzer´ oder Ann-Katrin Müller vom ´Spiegel´“ das kommentieren?

    Obwohl, genaugenommen ist das gar kein Widerspruch. Die bei der Prantl-Prawda „sind selbstverständlich die Guten, und die Guten dürfen das. NaTÜRlich.“

    @freiwild
    Vielleicht bringt Nicolás Gómez Dávila des Rätsels Lösung:
    “You don’t become right-wing by listening to right-wingers, but by listening to left-wingers”

  8. Die Rechten legen sich die Sachverhalte immer so zurecht, dass sie gerade passen, oder passend gemacht werden. Von Konsequenz keine Spur.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.