Der Gesprächspartner

Christopher Resch ist Pressereferent von Reporter ohne Grenzen (RSF) mit Fokus auf die Lage der Pressefreiheit im Nahen Osten und Südosteuropa.
Jedes Jahr zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai veröffentlicht die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) ihre „Rangliste der Pressefreiheit“. Deutschland belegt in diesem Jahr mit knapp 84 von 100 möglichen Punkten Platz 11 – laut RSF keine „gute“, aber eine „zufriedenstellende Lage“.
Doch wie aussagekräftig ist diese Rangliste überhaupt, wenn Länder teilweise nur deswegen nach vorne rutschen, weil sich die Lage in anderen Ländern verschlechtert hat? Wie werden die Werte ermittelt? Und gibt es Hoffnung, dass sich die weltweite Lage der Pressefreiheit verbessert? Fragen an Christopher Resch, Pressereferent von Reporter ohne Grenzen.
Deutschland ist in der „Rangliste der Pressefreiheit“ dieses Jahr einen Platz nach unten gerutscht. Warum genau um diesen einen Platz?
Das wollen immer alle wissen. Aber die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Dazu muss man verstehen, wie die Rangliste entsteht: Wir errechnen mit einem umfangreichen Fragebogen einen Score, also einen Punktestand für die Pressefreiheit in jedem Land. Neben der Anzahl von Übergriffen auf Journalisten, von Festnahmen über Inhaftierungen bis hin zu Morden, spielt die politische, rechtliche und ökonomische Situation des jeweiligen Landes eine Rolle, aber auch gesellschaftliche Tabus oder der Einfluss von Religion. In Deutschland ist vieles in Ordnung. Wir hatten allerdings in den letzten Jahren Probleme mit dem BND-Gesetz, das unter anderem die Beziehung zwischen Medienschaffenden und ihren Quellen nicht ausreichend vor Überwachung schützt. Wir haben in Deutschland auch Übergriffe auf Journalisten, wenn auch keine sehr schweren. All diese Faktoren führen zum Ranglisten-Platz 11 für Deutschland.
Christopher Resch ist Pressereferent von Reporter ohne Grenzen (RSF) mit Fokus auf die Lage der Pressefreiheit im Nahen Osten und Südosteuropa.
Deutschland erreicht diesen 11. Platz mit 83,85 von 100 möglichen Punkten. Aber Pressefreiheit ist doch kein Wert, den man einfach so berechnen kann. Wie kommt Reporter ohne Grenzen auf diese Zahl?
Ein Grundrecht zu messen ist schwierig. Wir versuchen das anhand der oben genannten Indikatoren: politischer Kontext, rechtlicher Rahmen, wirtschaftlicher Kontext, soziokultureller Kontext und Sicherheit. Die ersten vier Bereiche erfassen wir mit einem Fragebogen, zum Indikator Sicherheit beziehen wir zusätzlich die konkrete Zahl von Übergriffen, Festnahmen und Morden an Journalisten mit ein.
Welche Fragen werden in den Fragebögen gestellt?
Eine Frage im Bereich Politik lautet: „Wie leicht kann die Regierung die Entlassung von … erwirken?“ Dann kann man zum Beispiel bei „Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ fünf Antwortmöglichkeiten von „sehr leicht“ bis „überhaupt nicht leicht“ ankreuzen. Zum Indikator Recht fragen wir unter anderem: „Garantiert das Gesetz Journalisten das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren?“ Oder für den Indikator Wirtschaft: „Wie stark ist der Besitz von Medien konzentriert?“ Insgesamt sind es über 120 Fragen und Teilfragen.
Solche Fragen sind nicht unbedingt leicht zu beantworten. Schon gar nicht auf einer Skala von „ja, absolut“ bis „nein, überhaupt nicht“. Wer beantwortet die Fragen?
Wir befragen festangestellte und freie Journalisten, andere Medienmitarbeitende, Rechtsexperten, Richter, Menschenrechtsverteidiger und Forscher. In den meisten Fällen sprechen wir die Leute für unser Panel gezielt an. Die Zusammensetzung des Panels ändert sich alle paar Jahre und wir versuchen, es recht divers zu besetzen. Im Grunde sind das alles Experten für die Pressefreiheit im jeweiligen Land. Dadurch, dass wir die Leute selbst auswählen, ist das keine zufällige Stichprobe. Wir versuchen aber, uns hohen wissenschaftlichen Standards anzunähern und werden auch von Wissenschaftlern begleitet.
Wie viele Leute werden pro Land befragt?
Wir können leider weder eine Zahl nennen, noch können wir die Namen bekanntgeben, weil wir die Leute sonst gefährden würden. Wir haben auch abseits des Panels ein Netzwerk an Korrespondenten, die teilweise schwer bedroht werden, wenn bekannt wird, dass sie mit uns zusammenarbeiten. Ich verstehe, dass man die Leute kennen möchte, um eine Aussage über die Verlässlichkeit der Rangliste zu bekommen. Die Größe des Panels geben wir auch nicht bekannt, weil wir uns von autokratischen Staaten nicht angreifbar machen lassen wollen. Womöglich würden sie versuchen, die Aussagekraft der Rangliste gezielt anzuzweifeln und sie zu diskreditieren. Wir versuchen aber darauf hinzuarbeiten, dass die Zahl der Experten pro Land relativ gleich groß ist.
Wie wählen Sie die Experten aus?
Wir sind schon relativ lange in den Ländern unterwegs und haben dort gute Netzwerke. Im Hintergrund arbeiten wir mit lokalen Organisationen zusammen – wenn sie nicht staatlich korrumpiert sind. Für uns ist es sehr wichtig, dass die Leute seriös und unabhängig sind, was die Wahl in manchen Ländern sehr einschränkt. In Ägypten (Platz 170; 24,74 Punkte) gibt es eigentlich nur noch eine Redaktion, die es schafft, unabhängig zu arbeiten, auch ökonomisch. Auch durch mutige Redakteure wie dort bekommen wir Hinweise, wer für den Fragebogen geeignet wäre. Und dann müssen wir noch das Glück haben, dass die Leute ihn auch ausfüllen wollen.
Für die Rangliste sammelt Reporter ohne Grenzen auch die Anzahl von Übergriffen, Inhaftierungen und Ermordungen von Journalisten weltweit. Recherchieren Sie das selbstständig oder werden die Vorfälle gemeldet?
Wir haben derzeit 134 Auslandskorrespondenten, die Übergriffe in den Ländern dokumentieren. In Paris, dem Hauptsitz von Reporter ohne Grenzen, werden die Fälle dann verifiziert. Das ist unterschiedlich schwierig: In Deutschland gibt es Statistiken, in Kriegsgebieten wie in Gaza ist das deutlich komplizierter. Wir sind da sehr penibel und nehmen nur die Fälle auf, die wir wirklich nachweisen können, weil wir häufig gegen Morde oder Kriegsverbrechen an Journalisten klagen. In solchen Anklageschriften muss jedes Detail stimmen.
Die Pressefreiheit der ganzen Welt zu beobachten, ist eine ziemlich große Aufgabe. Wie stellt Reporter ohne Grenzen sicher, dass kein Land hinten runterfällt?
Es gibt immer mehr Übergriffe auf Journalisten und da kann es natürlich sein, dass wir nicht alle mitbekommen. Aber es ist unser Anspruch, dass das nicht passiert. Wir arbeiten dafür neben unserem eigenen Netzwerk auch mit anderen Organisationen zusammen, zum Beispiel dem „Committee to Protect Journalists“, dem „International Press Institute“ oder dem Netzwerk „Journalists in Distress“.
Die Pressefreiheit der USA liegt aktuell bei 65,49 von 100 Punkten, etwa ein Punkt schlechter als vergangenes Jahr. Wie kann es sein, dass die USA nur um einen Punkt schlechter abschneiden, während es zuletzt massive Einschränkungen für Journalisten gab?
Die Daten aus der aktuellen Rangliste beziehen sich auf das Kalenderjahr 2024. Die Entwicklungen, die Sie ansprechen, sind ja erst im neuen Jahr passiert. Trotzdem fließt eine Art Antizipation dessen, wie sich die Pressefreiheit unter einer Regierung Trump verändern könnte, mit in die Bewertung ein.
Inwiefern?
Der Fragebogen geht auch darauf ein, welche Entwicklungen Journalisten in den jeweiligen Ländern befürchten oder ob sie sich aus Angst vor Repressalien selbst zensieren. Ich verstehe aber, dass es unbefriedigend ist, wenn sich die aktuellen Entwicklungen in den USA nur bedingt in der Rangliste widerspiegeln.
Vergangenes Jahr kletterte Deutschland um elf Plätze nach oben. Das hatte aber weniger mit der besseren Lage hier als mit der schlechteren Lage in anderen Ländern zu tun, die auf untere Plätze abrutschten. Wie aussagekräftig ist so ein Ranglisten-Platz überhaupt?
Eigentlich widerstrebt uns der Gedanke, Länder in Ranglisten zu pressen. Es geht nicht darum, dass ein Land besser oder schlechter ist. Genau deswegen sind wir schon dazu übergegangen, in Interviews viel stärker den tatsächlichen Punktestand zu kommunizieren. Das ist nicht so leicht, weil die deutsche Medienszene sehr zahlenaffin ist und uns ganz oft zu den Plätzen und Verschiebungen auf der Rangliste befragt. In anderen Ländern ist das nicht so. Aber ja, es ist eine relative Rangliste, auf der es immer Verschiebungen geben wird. Das ist unbefriedigend, wenn sich ein Rang nur verändert, weil sich drumherum alles verschiebt. Aber so ist das bei Ranglisten.
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Warum halten Sie trotzdem an der Rangliste fest? Sie veröffentlichen auch eine Weltkarte, in der Sie mit einem Farbsystem gröbere Kategorien festlegen.
Die Weltkarte orientiert sich mit ihren Farben und Kategorien auch an dem Punktestand. Rutscht ein Land unter 85 Punkte, rutscht es von einer guten (grün) in eine zufriedenstellende Lage (gelb). Insofern folgt die Karte derselben Logik wie die Rangliste.
Aber anders als die Rangliste zeigt die Weltkarte nicht jede kleinste Veränderung im Punktestand auf. Ein Sprung in eine andere Farbkategorie ist deutlich aussagekräftiger als ein Sprung zwei Plätze hoch oder runter in der Rangliste.
Wir wissen natürlich, dass gerade die Rangveränderungen die Leute interessieren. In diesem Sinne ist das ein Zugeständnis an das Nutzerverhalten, weil das griffig ist.
Es ist also ein reines Kommunikationsmittel.
Es ist zu einem großen Teil ein Kommunikationswerkzeug, Medien können zum Beispiel über die „Top Ten“ berichten. Aber der Ranglistenplatz speist sich aus der Punktzahl und hat dadurch direkt damit zu tun. Außerdem richten wir uns mit der Rangliste nicht nur an Experten. Besonders eine junge Zielgruppe oder Menschen, die uns vielleicht nur auf Social Media folgen, kommen so mit dem Thema in Berührung. Das ist das, was wir eigentlich wollen. Wir brauchen heutzutage griffige Ansatzpunkte, um das zu erklären.
Seit Jahren ist die weltweite Lage der Pressefreiheit mehr oder weniger gleich schlecht. Wenn sich etwas verändert, dann nur zum Schlechteren. Warum macht sich Reporter ohne Grenzen überhaupt die Mühe?
Menschenrechtsarbeit ist immer sehr kleinteilig und auch nicht immer befriedigend. Man hat teilweise das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Trotzdem sind wir bei aller Kritik davon überzeugt, dass die Rangliste eine Wirkung hat, weil sich Leute dadurch tiefer mit dem Thema beschäftigen. Bei der politischen Lobbyarbeit werden wir nichts erreichen, wenn man mit der Rangliste wedelt – vor allem in Ländern wie Saudi-Arabien. Gleichzeitig muss man aber auch etwas in der Hand haben. Es ist unser öffentlichkeitswirksamstes Mittel.
Haben Sie Hoffnung, dass das politisch etwas zum Guten verändern kann?
Wenn es uns gelingt, die Gesellschaft für die Bedrohungen von Journalisten zu sensibilisieren, ist das zumindest ein kleiner Schritt. Denn wenn die Masse von einer Sache überzeugt ist, kann sie damit schon politische Zugeständnisse erreichen. In einer Demokratie passiert das vor allem über Gesetze, in einer Diktatur wie in Eritrea wird sich der Präsident nicht darum scheren, was das Volk will. Aber ich glaube, im Bereich dazwischen hat man eine Chance. Es kommt zum Beispiel immer wieder vor, dass wir in Gesprächen auch mit autokratischen Regimen gefragt werden: Was können wir tun, damit wir auf der Rangliste der Pressefreiheit besser dastehen? Das heißt, selbst solche Regime nehmen die Rangliste wahr, und es ärgert sie, wenn sie schlecht platziert sind. Natürlich ist es schwierig, jedes Jahr wieder verkünden zu müssen: Die Lage ist so schwierig wie nie. Aber das kann nicht bedeuten, dass wir deswegen aufhören, die Menschen über die Situation zu informieren, in der Journalisten weltweit sind.
Johanna Bernklau studiert Journalismus in Leipzig und war Autorin für die Medienkolumne „Das Altpapier“ beim MDR. In den Journalismus hat sie durch ein Volontariat bei der „Passauer Neuen Presse“ gefunden. 2022 und 2023 war sie Mitglied in der Jury des Grimme Online Awards. Für Übermedien betreut sie die Serie „Wieso ist das so?“. Wenn Sie ein Thema haben, dem wir nachgehen sollten, dann schreiben Sie Johanna Bernklau eine Mail.
Spannende Einblicke. Insbesondere der, dass eine Institution eine Rangliste etabliert, aber Ranglisten selbst nicht leiden kann. Fordert mir schon ein gerütten Maß an Ambiguitätstoleranz ab.
Was ich mich frage: Wird dann jährlich ein Gesamtscore gebildet, der die Entwicklung global mit einer Kennzahl abbildet (und falls nein: warum nicht)?