Kein Lerneffekt: „Bild“ hält unzulässigen Suizid-Bericht für „mustergültig“
Die Entscheidungen des Presserates sind keine Dokumente der Leidenschaft. Nüchtern und bürokratisch listen sie Argumente und Positionen auf. Das Höchste der Gefühle, das die Beschwerdeausschüsse sich in ihren Berichten erlauben, ist ein Erstaunen darüber, was Medien veröffentlicht oder wie sie die Veröffentlichung gerechtfertigt haben.

Die Rüge, die der Presserat am 3. Dezember 2024 gegen die „Bild“-Zeitung aussprach, ist ein solcher seltener Fall, und man kann die Verblüffung, die das Gremium in seiner Entscheidung ausdrückt, leicht als Fassungslosigkeit interpretieren.
Am 5. August 2024 berichtet „Bild“ über den mutmaßlichen Suizid eines Managers. „An dieser Eiche endete ein Streit ums Sorgerecht“, titelt das Blatt. „Bild“ zeigt das Foto von der Stelle, wo der Mann mit seinem Auto gegen einen Baum gerast ist, und darin eingeklinkt ein Portraitbild des Mannes. Seinen Nachnamen kürzt „Bild“ ab, nennt aber Vornamen, Alter, Arbeitgeber, Wohnort: Er ist für alle, die ihn kennen, sofort zu erkennen und für alle anderen extrem leicht zu identifizieren.
„Tragisch“: Suizid-Bericht als Abo-Werbung
„Bild“-Redakteurin Lena Zander nennt in ihrem Artikel Ort und Straße, wo es passierte, zitiert aus einer „letzten Nachricht“, die der Mann an Freunde und Bekannte verschickt hatte, und schildert ausführlich die Anschuldigungen, denen er sich ausgesetzt gesehen habe: Seine Ehefrau soll ihm den sexuellen Missbrauch seines Kindes vorgeworfen haben – zu Unrecht, wie „Bild“ nahelegt. Zu einem Gerichtsurteil kam es nicht mehr.
Vor der Paywall erwähnt „Bild“ die Hinweise auf den Suizid, fragt, ob der Mann „wegen Missbrauchswürfen nicht mehr weiter wusste“ und wirbt für den Abschluss eines Abos: „Lesen Sie mit BILDplus die ganze Geschichte hinter einem Sorgerechtsstreit, der offenbar tragisch endete.“
Im Pressekodex heißt es in Ziffer 8 („Schutz der Persönlichkeit“):
„Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung.“
In der Richtlinie 8.2 über Opferschutz steht:
„Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich.“
Und die Richtlinie 8.7 über Selbsttötungen mahnt:
„Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“
Presserat rätselt über Springer-Argumentation
Zwei Personen haben sich beim Presserat beschwert. Die Rechtsabteilung der Axel Springer SE rechtfertigt die „Bild“-Berichterstattung damit, dass der Tod des Managers schon von dessen Arbeitgeber öffentlich gemacht worden sei, mit Foto. Mehrere Branchenportale hätten darüber berichtet. Allerdings erwähnten diese Artikel, wie der Presserat anmerkt, weder den Suizid noch die Missbrauchsvorwürfe.
Die Axel-Springer-Leute behaupten trotzdem, dass diese Veröffentlichung des Arbeitgebers schon eine Einwilligung darstellte, identifizierend über die Todesfahrt des Managers zu berichten. Sie beziehen sich auf die Formulierung im Pressekodex: „Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben (…).“
Der Presserat widerspricht: Ein Unternehmen sei keine „sonstige befugte Person“, die eine Einwilligung zur Veröffentlichung von identifizierenden Fotos geben könne. Die Redaktion hätte vor der Übernahme der Fotos die Angehörigen um Erlaubnis bitten müssen.
Die Axel-Springer-Leute argumentieren weiter, der Artikel habe schon deshalb nicht gegen die Richtlinie zur Berichterstattung über Selbsttötungen verstoßen können, weil die Schilderungen der konkreten Umstände „äußerst detailarm ausgefallen sei.“
Der Presserat erinnert an all die Details im „Bild“-Artikel und fügt verblüfft hinzu: „Was an dieser Schilderung ‚detailarm‘ sein soll, ist den Mitgliedern des Beschwerdeausschusses ein Rätsel.“
Der Fall Robert Enke
Die Rechtsabteilung von Springer verweist auf den Fall Robert Enke, den Torwart, der 2009 Suizid beging. Das ist schon erstaunlich genug, da der ehemalige Nationaltorwart eine ganz andere Prominenz hatte als der Manager. Noch bemerkenswerter ist aber, wie die Axel-Springer-Leute die Berichterstattung über Enke in Erinnerung haben.
Sie argumentieren, auch damals habe es natürlich etwa Fotos vom Ort des Geschehens gegeben; für „presseunethisch“ seien all die Berichte ihres Wissens aber nie erklärt worden, vermutlich, weil die Redaktionen damals in aller Regel sehr verantwortungsvoll mit dem sensiblen Thema umgegangen seien – wie im aktuellen Fall.
Meine Wahrnehmung des Umgangs mit Enkes Tod fiel damals in Nuancen anders aus. Ich schrieb von „flächendeckend grotesk verantwortungsloser Berichterstattung“:
„Man könnte den Eindruck haben, eine ganze Branche hätte sich zu einem großen Feldversuch entschlossen, einmal zu testen, wie weit sich die Zahl der Selbstmörder in die Höhe treiben lässt, wenn man jeden einzelnen Ratschlag zur Suizidprävention ignoriert.“
Das „SZ-Magazin“ berichtete 2010, dass nach der ausufernden Berichterstattung die Zahl der mutmaßlichen Nachahmungstäter deutlich angestiegen sei, und sprach vom „Enke-Effekt“.
„Bild“ über Enkes Suizid: 85 Beiträge in drei Wochen
Eine Analyse des Institut für Publizistik der Universität Mainz im Jahr 2013 bestätigte das und kam zu dem Befund, dass sich die drastisch gestiegene Zahl von Suiziden nach Enkes Tod „ohne Einfluss der Medienberichterstattung kaum erklären“ ließe. Die von ihnen untersuchten Medien „Bild“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“, „Zeit“, „Bunte“, „Stern“ und „Spiegel“ hätten sich durchweg nicht an die Empfehlungen zur Suizidprävention gehalten. Die meisten Artikel hätten gegen die fundamentalsten Ansprüche an die Suizidberichterstattung verstoßen.
Besonders negativ sei, so die Kommunikationswissenschaftler, „Bild“ aufgefallen, sowohl was Umfang, als auch Aufmachung ihrer Artikel anging: Sie berichtete innerhalb von drei Wochen in 85 Beiträgen über den Suizid Enkes – also durchschnittlich fünf Artikel pro Tag. Die enthielten besonders viele problematische Details und missachteten auch häufiger Appelle wie den, Angehörige nicht zu befragen.
Nun muss man bei „Bild“ natürlich nicht die Einschätzungen von Medienkritikern und Medienwissenschaftlern teilen. Und der Presserat hat damals tatsächlich nur die „Titanic“ für einen Witz über Enkes Tod gerügt.
Bereits 2020 „Bild“-Bericht über Enke missbilligt
Zu behaupten, die Berichterstattung über Enke sei nie als „presseunethisch“ erklärt worden, zeugt dennoch von erstaunlicher Chuzpe. Denn der Presserat hat einen Bericht, der zum zehnten Todestag Enkes erschien, beanstandet, und das beanstandete Medium war – richtig: „Bild“, worauf der Beschwerdeausschuss das Blatt in seiner Entscheidung jetzt sachte „hinweist“:
„Die Mitglieder [des Beschwerdeausschusses] weisen darauf hin, dass die Redaktion 2020 für genau diese Art der Berichterstattung bereits eine Missbilligung erhalten hat. Selbst bei einem prominenten Fall wie dem von Enke bewertete der Presserat die Veröffentlichung von Details damals ebenfalls als unethisch und sprach eine Missbilligung aus: https://www.presserat.de/entscheidungen-finden-details/0971-19-2-6775.html.“
Damals urteilte der Presserat über einen Bericht, den „Bild“ zum zehnten Todestag Enkes veröffentlicht hatte:
„Die Redaktion verletzt die [im Pressekodex] gebotene Zurückhaltung bei der Berichterstattung. Ausschlaggebend ist die Schilderung näherer Begleitumstände, wie das Zitieren aus dem Abschiedsbrief, Details zur Bahnstrecke, Zugnummer, das Nachzeichnen der Route, die Enke nahm, seine letzten Handlungen etc. In der Gesamtschau wird der Leser in die Perspektive eines Selbstmörders versetzt und kann szenisch dem Geschehen beiwohnen. Dies hätte vermieden werden müssen.“
Im aktuellen Fall argumentieren die Springer-Anwälte schließlich noch, dass die Öffentlichkeit ein großes Berichterstattungsinteresse an dem Thema habe, welche dramatischen psychischen Folgen Missbrauchsvorwürfe bei zu Unrecht beschuldigten Vätern haben könnten. Der Presserat erwidert, dass das keine Identifizierung des Opfers rechtfertige.
Springer behauptet gegenüber dem Presserat, die „Bild“-Redaktion habe alle für Suizid-Berichterstattung geltenden presseethischen Gebote „mustergültig“ eingehalten.
Der Presserat hingegen urteilt, dass sie den Persönlichkeitsschutz des Betroffenen schwer verletzt und gegen das Gebot zur Zurückhaltung bei Selbsttötungen verstoßen habe, und spricht eine Rüge aus. „Bild“ hat sie unter dem Artikel veröffentlicht.
Damit ist die Sache erledigt. „Bild“ hat berichtet, der Presserat hat „Bild“ gerügt, „Bild“ hat die Rüge abgedruckt. Es ist Routine, insbesondere für die „Bild“-Zeitung, die unter Chefredakteurin Marion Horn gerade Rügen im Dutzend kassiert. Wenn man mag, kann man zu der Routine natürlich auch diesen Bericht über die Rüge zählen.
Inhaltliche Auseinandersetzung? Fehlanzeige.
Aber könnte so eine Rüge, gerade in einem so krassen Fall mit einer so erstaunlichen Rechtfertigung des gerügten Mediums, nicht auch ein Anlass für eine inhaltliche Auseinandersetzung sein? Wenn ich mich sehr anstrenge und meine rund 30 Jahre Erfahrung mit „Bild“ und mit dem Presserat ignoriere, kann ich mir vorstellen, dass ein Medium sich erklären oder der Diskussion stellen könnte. Fehler einräumen oder seinen Standpunkt verteidigen.
Wäre das nicht eigentlich der Sinn von einer Einrichtung wie dem Presserat und von öffentlichen Rügen? Was bringt es, wenn ein Medium aus den Beanstandungen nicht nur keine Konsequenzen zieht, wie ganz offenkundig „Bild“, sondern sie womöglich sofort wieder vergessen hat? Wenn es bei Axel Springer womöglich nicht nur an Verantwortung mangelt, sondern auch an Erinnerung und sie da in der Redaktion an ihren Suizidschilderungen sitzen und munter sagen: Na, bei Enke war doch auch alles knorke!
Sieben Fragen – knappe Antwort von „Bild“
Ich habe Christian Senft, dem Pressesprecher von „Bild“, ein paar Fragen geschickt (auch so ein Ritual):
- Hält „Bild“ die eigene Berichterstattung weiterhin für zurückhaltend, zulässig und „mustergültig“?
- Bleibt „Bild“ dabei, dass ein Unternehmen, das ohne weitere Hintergründe über den Tod eines Angestellten informiert, eine „befugte Person“ nach Richtlinie 8.2 darstellt, um ein identifizierendes Foto eines Suizid-Opfers zu zeigen?
- Inwiefern hat „Bild“ auf die Schilderung näherer Umstände des Suizids verzichtet?
- Was macht nach Ansicht von „Bild“ diesen Fall mit dem von Robert Enke vergleichbar?
- Gegenüber dem Presserat hat Axel Springer argumentiert, dass die Berichterstattungen über den Suizid von Robert Enke nach Wissen des Verlages nie für „presseunethisch“ erklärt worden seien. Tatsächlich ist jedoch die „Bild“-Berichterstattung über Robert Enkes Tod vom Presserat missbilligt worden. Ist diese Missbilligung im Verlag nicht bekannt?
- Hat „Bild“ aus dieser Missbilligung Konsequenzen gezogen für seine Berichterstattung über Suizide?
- Zieht „Bild“ aus der aktuellen Rüge Konsequenzen für die zukünftige Berichterstattung über Suizide?
Am folgenden Tag teilt der Sprecher mir mit:
„BILD berichtet in der Regel nicht über Selbsttötungen, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Außerdem verweist Bild bei jeder Berichterstattung auf konkrete Hilfemöglichkeiten.
Die vom Presserat zu dem genannten Beitrag erteilte Rüge wurde unter dem genannten Beitrag ergänzt. Wir haben diesen in Folge inzwischen depubliziert.“
„Bild“ hat den Artikel nach meiner Anfrage gelöscht. Damit ist jetzt auch die Rüge von der Seite verschwunden. Aber die muss, wenn der Artikel nicht mehr in seiner beanstandeten Form vorhanden ist, nur 30 Tage online sein.
Der Autor

Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Danke, Herr Niggemeier, dass Sie dranbleiben! So wird zumindest das Muster hinter der abstoßenden Bild-Berichterstattung deutlicher sichtbar und belegt.
Konsequenzen müssten andere ziehen. Ich frage mich, ob es dazu Untersuchungen gibt – also ob Menschen welche Bild kaufen, dass unterlassen, wenn sie von solchem Fehlverhalten erfahren.
@1:
„Angst, Hass, Titten und der Wetterbericht“
Die Zielgruppe kauft sich das ja nicht, um den Horizont zu erweitern, sondern um ihn mit Stacheldraht abzustecken. Bis hierhin und nicht weiter!
Die „Wir helfen!“ Kampagne 2015 war lt. Döpfner der größte finanzielle Reinfall für Friedes Medienimperium. Kognitive Dissonanzen mag der Bildkunde nicht; der Ausländer hat da die designierte Rolle zu spielen. Wenn nicht, wird was compacteres gekauft, da steht dann das drin, was man hören will und nachplappern kann.
Man darf halt nicht vergessen:
– Die AfD Wähler wandern von der DU / SU / FDP ab. Die wählen den, der ihnen sagt, was sie hören wollen („Der Ausländer ist Schuld.“ in verschiedenen Geschmacksrichtungen). Die AfD speist sich aus „enttäuschten Konservativen“, die aber m. E. eher nicht an Konservierung interessiert sind. Aber mit Aufrichtigkeit haben die es eh nicht so.
– Kramp-Karrenbauer ist aus dem Christenverein ausgetreten, als dieser die unmenschliche Politik der Unionsparteien kritisierte. Nicht aus der CDU. Die Message spricht doch für sich.
Vielleicht stimmt es ja wirklich, dass linksgrün Ideologen sind und rechtsbraun dann folgerichtig halt Opportunisten, die ihr Fähnchen in den Wind hängen.
Wie sagte Pispers noch sinngemäß „Die CDU kann nicht umfallen, die haben ja noch nie für etwas gestanden.“
Ich könnte mir vorstellen, dass das Motiv hinter diesem Artikel die Propaganda von sogenannten Väterrechtlern ist. Denen geht es unter anderem darum, Mütter zu diskreditieren und zu unterstellen, Gewalt- und/oder Missbrauchsvorwürfe gegen den Vater würden erfunden, um sich bei Sorgerechtsstreitigkeiten Vorteile zu verschaffen. Im Deutschlandfunk gab es einen Beitrag dazu bzw. zu dem unrichtigen Konzept der „Eltern-Kind-Entfremdung“: https://www.hoerspielundfeature.de/die-entfremdungs-luege-100.html
Ich möchte Anna unterstützen, das ist wahrscheinlich die Stoßrichtung. Das Anti-Woke richtet sich natürlich auch gegen Frauen und Frauenrechte.
Außerdem sieht man hier, was Trump und andere vormachen: einfach behaupten, man habe alles richtig gemacht. Eine Alternative Realität aufbauen. Sich mit Vorwürfen auseinandersetzen ist linksgrün, oder so. Presse zur Herstellung einer gemeinsamen Faktenbasis ist vorbei.
@Anna und Paddepat:
Theoretisch ja, aber die würden in der Praxis wohl so etwas schreiben wie: „Hat diese Frau (Nachname abgekürzt, aber Vorname, Alter, Wohnort, Beruf und natürlich der Vorname des Kindes) ihn in den Freitod getrieben?“