Berichte aus Japan

Das Märchen von den vielen Hundertjährigen

Seit Jahren behaupten Medien immer wieder, dass auf Okinawa in Japan so viele Hundertjährige leben wie nirgends sonst auf der Welt. Dabei gehen sie einer Erzählung auf den Leim, die längst widerlegt ist. 
Screenshot eines Artikels der „Süddeutschen Zeitung“ mit der Überschrift: „Mach die Dinge, solange du kannst“.
Screenshot: sueddeutsche.de

Was kann man von sehr alten Menschen für sein Leben lernen?

Diese Frage stellte Anfang des Jahres eine Autorin der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) und suchte nach der Antwort im Dorf Ōgimi auf der Inselgruppe Okinawa in Japan. Denn dort, so steht es im Teaser des SZ-Textes, „sollen besonders viele Hundertjährige leben“. Was auch in mehreren Beiträgen auf Instagram zu dem Artikel wiederholt wird.

Der einzige Beleg, den der Text dafür liefert, ist  „ein großer Stein am Rand der Straße“, der mit seinen eingravierten Schriftzeichen auf eine Besonderheit hinweise: „Ōgimi ist das Dorf der Langlebigkeit“. Hier sollen die Menschen so alt werden wie nirgends sonst auf der Welt. Wie viele Menschen es sein sollen und warum, sagt der Text nicht.

Eine bessere Quelle als ein Stein am Straßenrand ist die Bevölkerungsstatistik der Präfektur Okinawa. Laut dieser lebten in Ōgimi im vorigen Jahr 2.960 Menschen, davon 17 Frauen und drei Männer, die älter als einhundert waren. Jedoch gibt es bereits in derselben Präfektur zwei andere Dörfer, die im Langlebigkeits-Ranking vor Ōgimi stehen. Noch aussagekräftiger ist der Blick auf den landesweiten Vergleich: In einer Liste der Präfekturen mit den meisten Hundertjährigen liegt Okinawa nur auf Platz 32 von 47.

Dennoch hält sich der Mythos, dass auf Okinawa die Menschen besonders alt werden, hartnäckig in deutschen Medien.

In den vergangenen zwölf Monaten fragte zum Beispiel der „Tagesspiegel“ in seiner Überschrift: „Die Insel der Hundertjährigen – warum werden Menschen auf Okinawa so alt?“; die Rheinpfalz titelte: „Okinawa und das Geheimnis der Hundertjährigen“; der „Stern“ schreibt vom „Schlüssel zu einem langen Leben“ und dass besonders viele Hundertjährige auf Okinawa leben sollen, ebenso wie tagesschau.de – wenngleich dort auch Kritik an dem Narrativ erwähnt wird. Gemeinsam haben alle Beiträge, dass sie dieselbe Quelle für die Behauptung nennen: den US-Journalisten Dan Buettner.

Tagesspiegel-Artikel über die angebliche Blue Zone Japas.
Screenshot: tagesspiegel.de

Die Vermarktung der „Blauen Zonen“

Buettner hat die sogenannten „Blauen Zonen“ populär gemacht, also Regionen, in denen die Menschen besonders alt werden und lange gesund bleiben sollen. 2005 schrieb er einen Artikel für „National Geographic“ und stellte drei Orte auf der Welt vor: Sardinien in Italien, Loma Linda in Kalifornien und Okinawa in Japan. Drei Jahre später erschien sein Bestseller „The Blue Zones: 9 Lessons for Living Longer from the People Who’ve Lived the Longest“, in dem er zwei Orte in Costa Rica und Griechenland ergänzte. Buettner hat fünf weitere Bücher über „Blauen Zonen“ geschrieben, es gibt eine vierteilige Dokumentation auf Netflix mit ihm. Die Markenrechte für „Blue Zones“ hat er sich gesichert und 2020 weiterverkauft. So kann man auf bluezones.com unter anderem ein Dreierpack „Blue Zones Hot Sauces“ für 39,95 Euro für ein langes Leben bestellen.

Buettner hätte allerdings wissen können, dass an seiner These zumindest mit Blick auf Okinawa Zweifel angebracht wären. Denn bereits vor seinem Text in „National Geographic“ erschien 2003 ein Artikel im „Asia Pacific Journal of Public Health“, der zwar beschreibt, dass bis Ende der 1990er Jahre die Lebenserwartung in Okinawa tatsächlich eine der höchsten in Japan gewesen sei. Allerdings sei dies nun nicht mehr der Fall, die Präfektur sei im landesweiten Ranking nicht mehr über dem Durchschnitt.

Tatsächlich gelten seit 20 Jahren die Menschen auf Okinawa weder als die Ältesten in Japan, noch als die Gesündesten: Sie haben das geringste Einkommen im Land und die höchste Rate an Übergewicht.

Mangelnde Aktenführung

Genau wie Buettner hat auch die Präfektur Okinawa ein Interesse daran, dass an dem fürs Marketing bestens geeigneten Mythos nicht gerüttelt wird. Sie hat sich das Ziel gesetzt, bis 2040 wieder führend bei der Lebenserwartung in Japan zu werden.

Sie finanziert unter anderem das Okinawa Research Center for Longevity Studies, das seit 1975 die Langlebigkeit in der Präfektur untersucht. An dem Institut arbeiten die Brüder Bradyley J. Willcox und D. Caig Willcox, Autoren des Bestsellers „The Okinawa Diet Plan“. Sie äußern sich regelmäßig, wenn aus der Wissenschaft Kritik an der These von der besonderen Langlebigkeit auf Okinawa laut wird.

Einer der Kritiker ist der Londoner Forscher Saul Newman. In einer noch nicht peer-reviewten, aber viel beachteten Studie kommt er zu dem Schluss, dass die häufigste Ursache für ein besonders hohes Alter in den sogenannten „Blauen Zonen“ mangelnde Aktenführung sei. „Ich habe 80 Prozent der Menschen, die weltweit vermeintlich über 110 Jahre alt sind, ausfindig gemacht (die anderen 20 Prozent stammen aus Ländern, die man nicht sinnvoll analysieren kann). Fast keiner von ihnen hat eine Geburtsurkunde“, sagte er gegenüber spektrum.de.

Eine Untersuchung der japanischen Regierung von 2010 stützt Newmans These. Demnach waren 82 Prozent der 230.000 Hundertjährigen im Land bereits verstorben – während ihre Angehörigen weiter eine Rente für sie bezogen.

Warum in der Ferne recherchieren?

Seit Jahrzehnten wird Buettners Konzept unkritisch von Medien übernommen. Dabei hat er selbst gegenüber der „New York Times“ zugegeben, dass der Ort Loma Linda in Kalifornien nur deshalb eine „Blaue Zone“ ist, weil sein amerikanischer Verlag einen Ort in den USA dabei haben wollte. Und unabhängig davon, wie wissenschaftlich haltbar die anderen „Blauen Zonen“ sind: Fakt ist jedenfalls, dass Okinawa schon lange nicht mehr als Beispiel für eine Region mit einem besonders hohen Anteil an Hundertjährigen taugt.

Für diese Erkenntnis müssen deutsche Journalisten übrigens auch kein Japanisch können. Eine kurze Google-Suche reicht. So informierte etwa die „Zeit“ ihre Leser bereits 2013 über das Verschwinden der Hundertjährigen, 2022 äußerte die Deutsche Welle Zweifel an der Geschichte.

So könnten sich Redaktionen künftig auch einfach Reisekosten sparen und für ihre Reportagen nach Würzburg fahren. Denn dort wohnen pro 100.000 Menschen die meisten Hundertjährigen Deutschlands – 0,046 Prozent der Einwohner sind 100 Jahre oder älter. Zu den 0,08 Prozent auf Okinawa ist das kein großer Unterschied.

5 Kommentare

  1. Denn dort wohnen pro 100.000 Menschen die meisten Hundertjährigen Deutschlands – 0,046 Prozent der Einwohner sind 100 Jahre oder älter. Zu den 0,08 Prozent auf Okinawa ist das kein großer Unterschied.

    Nun ja, immerhin 60 Prozent mehr. Aber die Statistik sagt ohnehin wenig aus, weil der Anteil der Uralten in überdurchschnittlich alten Gesellschaften (wie Japan oder Deutschland) natürlich höher ist als der in jungen Gesellschaften (wie Kenia oder Ägypten). Interessant wäre zu wissen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit an einem Ort ist, 100 oder älter zu werden.

    Aber egal: Ich habe mal irgendwo gelesen, man müsse nur jeden Tag ein Glas Kefir trinken, um 100 zu werden. Und meine Oma (wurde 97) trank nach dem Essen immer einen Schnaps. Wenn ich beides machen, werde ich bestimmt 197.

  2. Sehr interessanter Artikel zum Thema Narrative.
    Aber zum Vergleich Würzburg-Okinawa:
    46 ist etwas mehr als die Hälfte von 80, das wäre schon ein signifikanter Unterschied.
    Aber man wird sowieso nicht magischerweise 100, nur weil man kurz vorm statistisch erwartbaren Tod mit 80 in eine „blaue“ Region zieht, was die ganze Statistik nur mittelnützlich machte, selbst, wenn sie keine Fehler hätte.

  3. Danke für den Artikel! Ich war nach dem Teaser überrascht, was sich aus dem Thema alles rausholen lässt an Fakten basierten Informationen.

  4. Saul Newman hatte übrigens 2024 den IG Nobelpreis für seine akribischen Untersuchungen zur Demographie der Hundertjährigen bekommen.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Tr%C3%A4ger_des_Ig-Nobelpreises#2024
    Trotzdem gabs Ende 2024 dann auch eine ARD „Wissen vor 8“-Sendung, die den Mythos fleißig weiterverbreitete.
    https://www.ardmediathek.de/video/wissen-vor-acht-mensch/warum-gibt-es-so-viele-hundertjaehrige/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3dpc3NlbiB2b3IgYWNodCAtIG1lbnNjaC8yMDI0LTEyLTEyXzE5LTQ1LU1FWg

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