WTF: Wenn Medien Social-Media-Posts nacherzählen
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Ende Januar setzte Kai-Gunnar Hering, Geschäftsführer der Hamburger Dewon Media GmbH, einen Post auf LinkedIn ab. Dieser beginnt emotional und grundsätzlich: „Ich bin sauer! 😡 Wir müssen endlich aufhören, so zu tun, als wäre Homeoffice jemals eine gute Idee gewesen.“ Eine Mitarbeiterin habe, behauptet Hering, im gemeinsamen Bürokalender „Friseur Strähnchen machen“ eingetragen, und das mitten in ihrer Arbeitszeit. Dazu gibt es ein angebliches Beweisfoto des Kalenders, wo der Eintrag rot umkringelt und mit „WTF“ kommentiert wird.
Für Hering ist die Geschichte Anlass für theatralische Entgeisterung („Wie bitte?“ „Irrsinn. Einfach Irrsinn.“), ein Beispiel dafür, was wohlmeinenden Arbeitgebern in der heutigen Zeit alles angetan wird. Er arbeite jeden Tag hart, stehe früh auf, sorge dafür, dass die Dinge laufen: „Und dann gibt es Menschen, die das Homeoffice als Freifahrtschein nutzen, um Termine in die Arbeitszeit zu legen und möglichst wenig zu arbeiten.“
Ein viraler Post zieht Medien sofort an
Herings Wutausbruch löste auf LinkedIn eine heftige Debatte mit tausenden – oft auch kritischen – Kommentaren aus. Unter anderem meldete sich Carsten Maschmeyer zu Wort. Ein solcher viraler Erfolg rief dann auch die Medien auf den Plan, die über den Fall berichteten. Neben Watson, T-online, Blick, Standard, Stern und BZ gehörte dazu auch der NDR, der dem erzürnten Unternehmer direkt einen Besuch abstattete.
Im Beitrag darf Hering dann noch mal streng in den Computer schauen und sein Leid klagen; dazu ein paar O-Töne von den Hamburger Straßen („Alle schummeln bei der Arbeitszeit“), ein Mini-Interview mit einem Anwalt für Arbeitsrecht und einer Kulturwissenschaftlerin und dann sind die zwei Minuten auch schon wieder um. Bleibt nur noch Zeit für ein paar letzte Bilder aus Herings Unternehmen und den Schlusskommentar, der Hering als strengen, jedoch gnädigen Chef erscheinen lässt: „Der Mitarbeiterin im Homeoffice mit den frischen Strähnen hat der Unternehmer Kai-Gunnar Hering aus Hamburg nicht gekündigt. Aber mit seinem Team ein ernstes Gespräch geführt.“
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Umfangreicher kommt Hering dann in eine…
Ich frage mich ja auch, wie viel Prozent der Gesamtbevölkerung C. Lindner wohl mit „100% geben – auch für meinen Job!“ zu erreichen glaubt?
Es können nicht alle Arbeitgeber sein, irgendwer muss ja auch arbeiten.
Aber Arbeitgeberverbände sind da wie Bauernverbände: Wenn die mal nicht klagen, ist was nicht in Ordnung.
Unter „Deindustrialisierung“ machen die es ja auch gar nicht mehr. Wetten, die Vokabel wird ab Sonntag 4 Jahre lang niemand mehr beutzen, außer AFD?
„100% geben“ ist übrigens die vertragsgemäße Erfüllung der Pflichten.
Aka. „Dienst nach Vorschrift“, aka. „The bare minimum“
Wenn mein Arbeitgeber mehr als 100% will, muss er auch mehr als 100% zahlen. Aber die Korrelation hören die Arbeitgeber nicht gerne.
Das miese immer an diesem ragebait:
Die Kommunikation ist immer, Schwache gegen Schwächere auszuspielen. Ausgenutzt wird das fehlgeleitete Gerechtigkeitsgefühl. Ähnlich, wie in der Bildzeitung: Den Arbeitslosen einreden, dass der Ausländer dran Schuld ist, weil er ja viel mehr vom Staat kriegt. *zwinkersmilie*
Anekdotisch:
A. darf seitens Abteilungsleiter 1 Tag HO machen. B. wollte auch am gleichen Tag HO machen, durfte nicht. B. rennt zu Ober-Chef „Die darf, aber ich nicht“. Jetzt darf keiner mehr, generell nicht.
Schmankerl: B. ist im Personalrat.
Wat willste mit solchen Leuten?
Da denk ich dann auch direkt an den Deutschlandflüchtling vom Vermietertagebuch. Wie kann man sowas ernst nehmen?
Was durchaus auch möglich wäre, ist dass die Frau in ihrer Freizeit, aka „nicht eingelogged“, zum Friseur gegangen ist und ihre Abwesenheit eben im Teamkalender verkündet hat.
Kann dann natürlich auch sein, dass das gegen die vereinbarten Kernarbeitszeiten verstößt und deshalb genehmigt werden muss.
Wissen wir leider alles nicht, weil da nur Journalismus vorgetäuscht wird.
@Simon H
So habe ich mir das auch in etwa gedacht. Wäre schon sehr seltsam, wenn jemand während seiner abgerechneten Arbeitszeit zum Friseur geht und das noch für den Arbeitgeber sichtbar einträgt. Das dürfte ja mal mindestens ein Abmahngrund sein, wenn es vielleicht noch in Verbindung mit anderen Vorfällen steht, fliegt man womöglich sogar. Und dem entsprechenden Ausgangspost lässt sich dann auch tatsächlich entnehmen, dass der Chef einfach nur infragestellt, dass seine Mitarbeiterin angesichts eines Friseurtermins von 9-13 Uhr auf die vereinbarte Arbeitszeit kommt. Der Titel müsste also lauten: „Chef vertraut Mitarbeiterin nicht“. Oder auch: „Chef vertraut Mitarbeiterin nicht und ist auch nicht in der Lage, ihre Arbeitsergebnisse aus dem Homeoffice zu bewerten“. Klingt nach einer vielversprechenden Story…
Ich kenne einen Fall von: „Chef installiert Kontrollprotokoll auf HO-Laptop nicht. Chef misstraut Mitarbeiterin (angeblich). Chef droht, als diese den Aufhebungsvertrag nicht unterschreiben will, mit Strafanzeige wegen Arbeitszeitbetrug.“
Ihr Arbeitsrechtsanwalt so: „Do, or do not. There is no Anzeigeandrohung.“
Chefs sind oft auch einfach zu doof.
Ob der Rage-Chef den LinkedIn-Post wohl in seiner Arbeitszeit oder in seiner Freizeit geschrieben hat? Und wann wurde das Interview geführt – bestimmt außerhalb der Bürozeiten, oder?
Tja und wärend dessen stehen die lieben Kollegen und Kolleginnen im Büroflur und traschen ne Stunde jetzt und ne Stunde dann über die im Home Office tätigen und generell über die nicht anwesenden Kollegen. So viel zu Teamgeist und Teamgefühl. Ich jedenfalls bin über jeden Tag mobiles Arbeiten froh.
Hmmm, aber solch themenbezogenes Clickbait funktioniert soooo gut. Was juckt es mich in den Fingern, hier auch meine Meinung zu Gleitzeit und Homeoffice kundzutun. Nur mit Mühe kann ich mich zurückhalten, denn es geht hier ja gar nicht um Gleitzeit und Homeoffice, sondern um den journalistischen Umgang mit viral gegangenen Aussagen aus der Social-Media-Welt.
Tatsächlich war mein allererster Gedanke, dass 4h sich schon unrealistisch lang anhören, eine kurze Internetrecherche sagt, dass es max 90min dauert. Im Prinzip hat der Typ ja am Ende zugegeben, dass Ding erfunden zu haben, oder?
Insgesamt sehr treffend wieder dieser Artikel. Das gibt es auch oft in Kurzvariante, Promi XYZ (m/w/d) schreibt irgendwas auf X.com und da wird einfach ein Kurzartikel draus gemacht. (Besonders ärgerlich, weil es noch extra Aufmerksamkeit auf diese Hirntodplattformen lenkt, wobei X eher giftig fürs Herz ist und LinkedIn giftig fürs Hirn. Diese Posts dort sind unerträglich stumpf.)