In der Serie „Fleabag“ war es noch erfrischend, dass Phoebe Waller-Bridge direkt in die Kamera spricht und dem Publikum vielsagende Blicke zuwirft. Deutsche Produktionen haben das Durchbrechen der „vierten Wand“ endgültig überstrapaziert. Unsere Autorin ist genervt: Fällt ihnen nichts Neues ein?
Guckt immer: Marc Hosemann als Thorsten Kruse in „Die Discounter“ Foto: Dennis Dirksen
In der Prime-Video-Serie „Die Discounter“, die in einem Supermarkt in Hamburg-Billstedt spielt, gucken die Schauspieler:innen ständig in die Kamera, um das Geschehen zu kommentieren: Lia (Marie Bloching) rollt mit den Augen, wenn sie von ihrem Chef Thorsten (Marc Hosemann) genervt ist, also ziemlich oft. Security-Mann Jonas (Merlin Sandmeyer) schaut unsicher Richtung Zuschauer:innen, als er gerade von der echten Anke Engelke geküsst wird, als wollte er fragen: Habt ihr das auch gesehen?
In der Netflix-Serie „Achtsam morden“ blickt der Anwalt Björn Diemel (Tom Schilling) in die Kamera und zieht die Augenbrauen hoch, wenn ihm seine Frau erklärt, wie er das Müsli für seine Tochter zubereiten soll. Und in der neuen Staffel der ZDF-Serie „Deadlines“ macht Elif (Jasmin Shakeri) dem Publikum eine direkte Ansage: „Ich bin Elif Uluc, Mann. Ich kann alles.“
Man könnte endlos Beispiele aufzählen: Das sogenannte Durchbrechen der „vierten Wand“, also dass die spielenden Personen mit ihrem Publikum kommunizieren, war mal ein charmantes Stilmittel. Doch inzwischen ist es so überstrapaziert, dass es nervt.
Ursprung im Theater
Die Idee stammt aus dem Theater. Mitte des 18. Jahrhunderts prägte der Philosoph und Schriftsteller Denis Diderot den Begriff der „vierten Wand“: Die Darsteller:innen sollten so spielen, als trenne eine Wand sie vom Publikum. Vorher sah man das nicht so streng. Im antiken Griechenland verband ein Chor Schauspieler:innen und Publikum. Im 20. Jahrhundert wurde die imaginäre „vierte Wand“ im Theater dann wieder „eingerissen“, unter anderem von Bertolt Brecht.
Auch in der Filmgeschichte wurde immer wieder damit gespielt. Oliver Hardy guckte nach Mitleid suchend in die Kamera, nachdem er eine Flasche über den Kopf bekommen hatte. In Woody Allens „The Purple Rose of Cairo“ stieg Jeff Daniels durch die Leinwand in einen Kinosaal. Im Fernsehen stieß Bugs Bunny oder Will Smith als „The Fresh Prince Of Bel-Air“ durch die „vierte Wand“. Es kamen im Laufe der Jahre viele Beispiele zusammen, doch immer war es etwas Besonderes, eine gute Pointe, aber vor allem: eine Ausnahme.
Der Boom der „fourth wall breaks“
Im Streaming-Boom ist das Stilmittel zum beliebigen Massenphänomen geworden. Dazu beigetragen haben vor allem zwei Produktionen, deren „fourth wall breaks“ bis heute auf Youtube gefeiert werden: zum einen die US-Serie „House of Cards“, in der Frank Underwood (Kevin Spacey) schon in der ersten Szene zum Publikum spricht. Im Laufe der Serie rechtfertigt er seine Grenzüberschreitungen, Intrigen und Verbrechen immer wieder auf diese Weise und macht die Zuschauer:innen zu seinen Komplizen.
Wenig später perfektionierte Phoebe Waller-Bridge in ihrer Serie „Fleabag“ das Spiel mit der „vierten Wand“. Sie teilt vielsagende Blicke mit dem Publikum, ordnet für die Zuschauer:innen zum Beispiel die Penisgröße ihres Liebhabers ein. Die Hauptfigur ist nach dem Tod ihrer besten Freundin einsam und fühlt sich von ihrem Umfeld oft nicht verstanden; im Publikum sucht sie Verständnis und Nähe.
Bei „Fleabag“ waren die Brüche noch erfrischend. Sie gehörten zum Konzept und fügten der Serie eine neue Ebene hinzu. Seit einiger Zeit ist das Phänomen auch hierzulande angekommen. Und wie das so ist mit Dingen, die man neu für sich entdeckt: Die Gefahr ist groß, dass man es übertreibt.
In deutschen Produktionen wird die „vierte Wand“ inzwischen ständig und ohne Sinn oder Mehrwert gebrochen. Es ist zur unausweichlichen Regieanweisung geworden, dass sich mindestens eine Figur mindestens einmal direkt ans Publikum wendet. Sowohl Mockumentarys wie „Die Discounter“ als auch Serien wie „Achtsam morden“ oder „Deadlines“ gewinnen dadurch nichts. Es wirkt einfach nur irritierend und überflüssig.
In „Sexuell verfügbar“ zum Beispiel will die Hauptfigur Miki (Laura Tonke) im Taxi rauchen. Als der Fahrer es ihr untersagt, beginnt sie zu diskutieren. Der Dialog reicht völlig, um zu kapieren: Hier ist eine Frau, die es satthat, (in ihren Augen) willkürliche Ansagen und Regeln zu akzeptieren. Trotzdem startet sie den Monolog Richtung Kamera:
„Die ganze Welt sagt nein, das ganze Leben ist ein einziges, riesengroßes Nein. Kinder sagen nein, Eltern sagen nein, Banken sagen nein, Finanzämter, Anwälte, Politiker, Grüne, Hunde, Autos, Exfreunde, alle sagen die ganze Zeit nur nein. Wo ist das scheiß Problem? Ich meine, wenn selbst so ein scheiß Taxifahrer nein sagen kann.“
Laura Tonke als Miki in „Sexuell verfügbar“ Screenshot: ARD
Liebe Leserin, lieber Leser, stellen Sie sich vor, die Autorin dieses Textes guckt Sie in diesem Moment an, rollt genervt mit den Augen und schüttelt den Kopf. Das kommt Ihnen jetzt zu unvermittelt und unelegant? Und Sie wussten ja vorher schon, was die Autorin mit diesem Text eigentlich sagen will? Eben.
Ja, schon kapiert…
Das deutsche Fernsehen macht sich allgemein nicht viel aus „Show, don’t tell“. Es neigt dazu, Motive und Wendungen überdeutlich zu erklären und das Publikum dabei zu unterfordern. Die „vierte Wand“ kommt da gerade recht.
Dazu passt ein weiterer Trend im deutschen Fernsehen: Es ist gerade Mode, dass eine der beteiligten Figuren die Geschichte aus dem Off kommentiert. Wie zum Beispiel die RTL+-True-Crime-Serie „Ich bin Dagobert“ über den Kaufhauserpresser Arno Funke (Friedrich Mücke). Sie beginnt mit Funke, der gerade eine Bombe in einem Laden platziert und sagt: „Verbrechen lohnt sich nicht, außer – verheißungsvolle Pause – Sie sind gut darin.“ Danach sieht er – Überraschung! – direkt in die Kamera und zieht die Augenbrauen hoch. Man hätte die Handlung auch so verstanden, aber naja. Der Geschichte verleiht das nicht mehr Wucht, im Gegenteil, es entzieht sie ihr.
Auch im „Tatort“ ist das Stilmittel längst nichts Besonderes mehr. Dabei wirkt das Durchbrechen der „vierten Wand“ gerade in solch konventionellen Fernsehformaten oft bemüht „modern“. Zuletzt wandten sich im Köln-„Tatort“ „Siebte Etage“ drei Sexarbeiterinnen ans Publikum, um ihre Biografien zu erklären. Im Wien-Krimi („Tod an der Donau“) sahen zuerst Mordopfer (vorwurfsvoll), dann Verdächtige (entsetzt, als fühlten sie sich überführt) einer surrealen Sequenz in die Kamera.
Bei Brecht ging es um Interaktion
Oft wirkt das Stilmittel künstlich. Selten passt es zu dem, was die Macher*innen sagen wollen – wie in der RTL+-Serie „Angemessen Angry“, in der das Zimmermädchen Amelie (Marie Bloching) nach einer Vergewaltigung Superkräfte entwickelt. Als ihr Freund Tristan (Bless Amada) fragt, warum sie nicht bei der Polizei war, blickt Amelie entnervt in die Kamera. Es werden Schlagzeilen eingeblendet von zahllosen eingestellen Ermittlungen gegen prominente Männer. Im Lauf der Serie bricht Amelie immer wieder die „vierte Wand“, sucht und findet so Verbündete.
Zimmermädchen Amelie (Marie Bloching) in „Angemessen Angry“ Screenshot: RTL+
Im Theater, zum Beispiel bei Brecht, ging es genau darum. Die „vierte Wand“ wurde durchbrochen, um das Publikum zum Nachdenken zu bringen und die Handlung kritisch zu reflektieren. Es ging um Interaktion, und auch um Komik. Solche stimmigen, durchdachten Brüche sind selten.
Der Boom der „fourth wall breaks“ wirkt oft nur noch, als wollten „Tatort“-Kommissare, Leinwand-Schurken und Serienheldinnen verzweifelt um Aufmerksamkeit buhlen. Als wollten sie sagen: Hallo! Hii-ier! Schaut hoch von euren Handys, guckt nicht Tiktok-Videos oder übt nebenbei mit der Sprachlern-App. Schade, dass die „vierte Wand“ nur in eine Richtung durchbrochen werden kann. Sonst könnten die Zuschauer:innen zurückzwinkern und antworten: Netter Versuch, aber lasst euch doch etwas Neues einfallen.
Die Autorin
Foto: Georg Jorczyk
Kathrin Hollmer arbeitet als freie Journalistin in München. Sie schreibt nicht nur über Filme und Serien, sondern diskutiert auch gern in Jurys darüber, insbesondere, wie Frauen und Diversität erzählt werden. Sie ist Vorsitzende der Nominierungskommission des Grimme-Preises für die Kategorie Fiktion. Für Übermedien spricht sie in der Serie „Sachverstand“ mit Expertinnen und Experten über deren Fachgebiet und wie Medien darüber berichten.
5 Kommentare
Bei der Konklusion am Ende musste ich lachen. Sehr guter und unterhaltsamer Artikel
Also ich finde das Durchbrechen der 4. Wand bei „Die Discounter“ genial. Ist halt ne Mockumentary. Das Stilmittel macht die Serie viel glaubwürdiger und meiner Meinung nach deutlich lustiger. Aber klar: Wenn’s die Amis machen, dann ist es immer direkt total progressiv bzw. „erfrischend“, bei deutschen Produktionen finden es viele aus Prinzip blöd.
Kann Jay Tabakovic nur voll und ganz zustimmen. Kritik unter dem Motto „dann lasst euch halt was anderes einfallen“ ist auch wirklich nicht originell…
Das ist nichts Neues mehr und deshalb ist es nicht mehr allein deshalb gut, weil es neu ist. Aber – wie viele andere – ist es inzwischen ein Stilmittel, das mal besser passt und mal nicht oder eben gar nicht. Das gilt aber sowohl für amerikanische, britische wie auch für deutsche Filme und Serien.
Bei der Konklusion am Ende musste ich lachen. Sehr guter und unterhaltsamer Artikel
Also ich finde das Durchbrechen der 4. Wand bei „Die Discounter“ genial. Ist halt ne Mockumentary. Das Stilmittel macht die Serie viel glaubwürdiger und meiner Meinung nach deutlich lustiger. Aber klar: Wenn’s die Amis machen, dann ist es immer direkt total progressiv bzw. „erfrischend“, bei deutschen Produktionen finden es viele aus Prinzip blöd.
Kann Jay Tabakovic nur voll und ganz zustimmen. Kritik unter dem Motto „dann lasst euch halt was anderes einfallen“ ist auch wirklich nicht originell…
Das ist nichts Neues mehr und deshalb ist es nicht mehr allein deshalb gut, weil es neu ist. Aber – wie viele andere – ist es inzwischen ein Stilmittel, das mal besser passt und mal nicht oder eben gar nicht. Das gilt aber sowohl für amerikanische, britische wie auch für deutsche Filme und Serien.
Ah, eine schöne Gelegenheit, um den komischsten Rant eines Comedians zu FLEBAG und das Durchbrechen der vierten Wand zu posten: Stewart Lee in „Basic Lee“. https://youtu.be/OZjIULHCQcU?si=fWw1uEZhbcTBfq6K&t=2731