„Ich hoffe, dass wir nicht auf Donald-Trump-Niveau landen“
Am Sonntag treffen sich die vier Kanzlerkandidaten zum Schlagabtausch bei RTL und ntv. Auf Stern.de soll es dazu einen „Live-Faktencheck“ geben. Warum nur dort? Und wie soll es gelingen, während der Sendung Aussagen zu prüfen? Wir haben bei Finn Rütten von Stern.de nachgefragt.
Am Sonntag treten die Spitzenkandidaten von Union, SPD, Grünen und AfD zum „Quadrell“ bei RTL und ntv an, befragt von Günther Jauch und Pinar Atalay. Stern.de begleitet das mit einem „Live-Faktencheck“; die Seite gehört zur RTL-Gruppe. Überprüfte Aussagen sollen also nicht, wie üblich, erst am nächsten Tag erscheinen, sondern während der Sendung.
Übermedien: Herr Rütten, wieso haben Sie sich bei Stern.de entschieden, einen Live-Faktencheck zu dem Schlagabtausch der Kanzlerkandidaten zu machen?
Finn Rütten: Als wir uns dazu entschieden haben, war noch ein Duell zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz geplant. Dass es nun vier Leute sind, erhöht noch mal den Schwierigkeitsgrad. Und der Optimalfall wäre natürlich, den Faktencheck während der Sendung für die Moderatoren transparent zu machen. Damit haben wir schon experimentiert, in einer „Stern-TV“-Sendung. Allerdings haben wir gemerkt, dass es unfassbar schwierig ist, bei der laufenden Diskussion zu bleiben. Man braucht mindestens fünf Minuten, selbst wenn man sehr schnell ist. Und sobald man in der Lage wäre, dem Moderator den gesicherten Fakt aufs Ohr zu spielen, ist die Diskussion schon woanders. Noch mal zurückzuspringen, ist kaum möglich, das funktioniert im Fernsehen nicht. Deshalb machen wir es jetzt in einer quasi Live-Situation auf einer Parallel-Plattform und ordnen dort Aussagen ein, die nicht oder nicht ganz der Wahrheit entsprechen. Die Hoffnung ist, dass wir deutlich dichter dran sind als bei einem herkömmlichen Faktencheck, der in der Regel erst am nächsten Tag erscheint.
Der Gesprächspartner
Foto: Jana Mai / „Stern“
Finn Rütten, Jahrgang 1988, arbeitet seit 2008 als Journalist. Nach einem Volontariat im Pressebüro econ-text studierte er Sportjournalistik an der Medienakademie Hamburg und arbeitete unter anderem für die ARD-Reportagereihe „#Beckmann“. Seit 2014 ist er beim „Stern“, er war Redakteur vom Dienst und Nachrichtenchef. Seit Ende 2023 leitet er die Digital-Redaktion.
Und das läuft nur bei Stern.de – oder auch bei ntv und RTL?
Als Faktencheck in Form eines ständig aktualisierten Artikels auf Stern.de, aber den Kolleginnen und Kollegen von ntv und RTL stellen wir alle geprüften Informationen zur Verfügung. Und wir werden Facts gegebenenfalls auch einzeln auf Social Media verbreiten, wenn wir sehen, dass dort Falschbehauptungen aus der Sendung die Runde machen. Das wird am Sonntag ein großes Ereignis für uns: Es wird analytische Einschätzungen von Kollegen geben, einen kommentierenden Live-Blog mit Beobachtungen – und den Live-Faktencheck.
Glauben Sie wirklich, dass die Fernsehzuschauer gleichzeitig auf Stern.de verfolgen, was denn nun stimmte?
Das hoffen wir sehr. Wir werden am Sonntag herausfinden, wie viele Menschen wir tatsächlich rüberlocken können. Es wird ja auch in der Sendung darauf hingewiesen.
Aber wäre es nicht sinnvoll, wenn wenigstens am Ende der Sendung noch mal ein paar Fakten nachgereicht würden? Da erreicht man die Zuschauer ja direkt.
Das haben wir bisher nicht vorgesehen.
Die Redaktion von „hart aber fair“ sagt, so eine Diskussions-Sendung sei viel zu turbulent und zu schnell, um Aussagen live zu prüfen. Wie wollen Sie das hinkriegen?
Wir wissen aus Tests und der Vergangenheit um die Schwierigkeit und werden nicht jede Aussage überprüfen können, das wäre undenkbar. Erst mal selektieren wir: Zwei Kollegen, ein Verifizierungsexperte und ein Politik-Redakteur, verfolgen die Diskussion, um Behauptungen rauszufiltern. Zwei Faktoren sind da interessant. Erstens: Lohnt es sich? Also, gibt es voraussichtlich ein Interesse bei den Zuschauern, zu einer Behauptung eine journalistische Einschätzung zu bekommen? Und, zweitens: Lässt sich das schnell und belastbar überprüfen? Deshalb sitzt in dem ersten Team auch ein Faktenchecker, um das einzuschätzen. Anhand dieser beiden Faktoren findet die Vorauswahl statt. Das zweite Team besteht dann aus weiteren erfahrenen Verifizierungs- und Politikexperten. Das sind etwa ein Dutzend Menschen, die sich auf die Behauptungen stürzen, um sie zu prüfen. Unser Ziel ist es, jeweils nach fünf bis zehn Minuten etwas zu veröffentlichen.
Gibt es für die Vorauswahl irgendwelche Kriterien?
Es wäre relativ schwierig, feste Kriterien zu vergeben. Das liegt im Ermessen der erfahrenen Kollegen, was ein interessanter Fakt ist und was eher nicht.
Kommen nur Menschen zum Einsatz oder auch Künstliche Intelligenz?
Wir nutzen Perplexity, RTL Deutschland hat da eine Partnerschaft. Das ist für einen ersten Eindruck. Das geht ja recht schnell, und das Ergebnis wird bereits mit Quellen versehen. Aber man muss die KI sehr genau fragen, also einen exakten Prompt eingeben. Sonst fragt man beispielsweise etwas zum Thema Messergewalt und kriegt Zahlen von 2015. Für einen ersten Überblick zu einer Thematik ist Perplexity gut. Aber dann wird natürlich von Menschen geprüft. Und ich hoffe, dass wir nicht auf einem Donald-Trump-Niveau landen, wo es fast nur darum geht, was gelogen oder erfunden ist. Wir rechnen damit, dass es eher um Auslegungen einer Thematik geht und um Dinge, die verkürzt dargestellt werden. Neulich etwa hat Friedrich Merz über Gruppenvergewaltigungen durch Zuwanderer gesprochen. Am nächsten Tag hatten wir dazu einen Artikel mit dem Tenor: Ja, es gibt Zahlen, die belegen, was man ungefähr so ausdrücken könnte wie Friedrich Merz. Er hat aber zum Beispiel nicht differenziert zwischen Zuwanderern und Personen mit Migrationshintergrund, die bereits hier leben. Das ist aber wichtiger Kontext.
Könnte man so einen Fall in fünf bis zehn Minuten in einem Live-Check verifizieren? Das ist doch ein komplexes Thema.
Das wäre schwierig, ja. Es gibt natürlich Quellen dazu, etwa die Polizeiliche Kriminalstatistik, aber manchmal wird kein Migrationshintergrund angegeben, dann muss man weitersuchen. Außerdem geht es um Tatverdächtige, nicht um Täter. Das ist schon kompliziert, da könnte ein Live-Faktencheck an seine Grenzen stoßen. Auch das wird sich am Sonntag zeigen: Wie gut das in der Live-Situation geht. Aber dazu muss man es halt mal machen. Zudem glauben wir, dass man sich bei einer politischen Diskussion auch gut vorbereiten kann. Für einen Faktencheck ist es hilfreich, dass die Kandidaten sich ja seit Wochen im medialen Dauerfeuer befinden und ständig Dinge sagen, auch immer wieder die gleichen. Das können wir schon mal checken und die Fakten dazu in der Hinterhand haben.
Haben Sie die Live-Situation schon geprobt?
Ja, wir haben das Duell vom vergangenen Sonntag für einen Testlauf genutzt, aber nicht als es bei ARD und ZDF lief. Gerade weil es so anspruchsvoll ist, wollten wir die Kolleginnen und Kollegen nicht schon unter Zeitdruck setzen, sondern sagen: Ihr könnt das unter Laborbedingungen ausprobieren, damit ihr schon mal seht, wo es vielleicht schwer wird, etwas in einer entsprechenden Geschwindigkeit darzustellen.
Gut. Das war eine wichtige Vorbereitung für die Kolleginnen und Kollegen. Der Sonntag mit vier Kontrahenten wird aber noch einmal anspruchsvoller.
Was ist überhaupt ein Fakt und wie kann er zweifelsfrei beurteilt werden?
Ich habe im Vorfeld immer mit Fakt und Behauptung gearbeitet, also: Welche konkreten Fakten werden genannt, die eins zu eins zu überprüfen sind? Und wo geht es um generelle Statements, die mit ein, zwei Fakten unterfüttert werden? Die kann man zwar prüfen, oft ist man dann aber in einem Bereich, wo es nicht Schwarz und Weiß gibt. Dann muss man einordnen: Ja, diesen oder jenen Fakt gibt es – er wurde aber aus dem Zusammenhang gerissen. Und da kommt man manchmal in einen subjektiven Bereich, wo es darum geht, eine erste Einschätzung zu geben.
Sie kommen im so genannten Faktencheck also oft erst mal nur zu „ersten Einschätzungen“, über die man dann wieder differenzierter diskutieren könnte?
Wie gesagt, gehe ich nicht davon aus, dass die Kandidaten am Sonntag durchgehend mit Lügen um sich werfen. Es wird sicher klare Fakten geben, die man widerlegen kann. Aber zum Teil werden wir uns im Feld von Auslegungen und Graubereichen bewegen. Da geht es dann darum, schnell Hintergrundinformationen anzubieten, mit denen sich die Leserinnen und Leser ein besseres Urteil zu der Aussage bilden können.
Es wird ja immer wieder darüber diskutiert, wie neutral Faktenchecks überhaupt sind, also: Was wird überprüft, was nicht? Bei welchen Narrativen wird genauer hingesehen als bei anderen? Wie stellen Sie sicher, objektiv zu sein?
Indem wir erfahrene Journalistinnen und Journalisten einsetzen, die sich dieser Thematik bewusst sind. Mit den beiden erwähnten Selektionskriterien journalistische Relevanz und zeitnahe Umsetzbarkeit haben wir ja schon mal einen Rahmen.
Wie beugen Sie dem Vorwurf vor, zu einseitig Fakten zu checken? Dass sich am Ende zum Beispiel die meisten Punkte auf Alice Weidel von der AfD beziehen.
Natürlich soll es ausgewogen sein und sich nicht nur auf einzelne Personen konzentrieren. Es wäre aber schwierig, vorher eine Quote festzulegen und zum Beispiel zu sagen: Wir überprüfen fünf Aussagen von jedem Kandidaten. Das muss logischerweise der Verlauf der Sendung ergeben, wohin die Diskussion geht und wo die interessanten Fakten liegen, über die am nächsten Tag voraussichtlich diskutiert werden wird.
Hören Sie bei Alice Weidels Aussagen trotzdem besonders genau hin?
Das wird der Sonntag zeigen.
Faktencheck-Check
Wir gucken natürlich das „Quadrell“ am Sonntag – und den „Live-Faktencheck“ dazu. Mehr darüber lesen Sie dann Anfang der Woche hier bei Übermedien.
Der Autor
Boris Rosenkranz ist Gründer von Übermedien. Er hat an der Ruhr-Universität Bochum studiert, war Redakteur bei der „taz“ und Volontär beim Norddeutschen Rundfunk. Dort hat er über zehn Jahre als freier Autor für verschiedene ARD-Redaktionen gearbeitet, insbesondere für das Medienmagazin „Zapp“ und das Satiremagazin „Extra 3“.
3 Kommentare
Und schon am nächsten Morgen ist der Faktencheck hinter einer Bezahlschranke.
Ich bin für bezahlten Qualitätsjournalismus aber in diesem Fall wäre es ein Dienst an der Demokratie gewesen, den Faktencheck bis zur Wahl frei zugänglich zu machen, was er gestern Nacht noch war.
„Dass sich am Ende zum Beispiel die meisten Punkte auf Alice Weidel von der AfD beziehen.“
Weil sie am einseitigsten lügt?
Sagt Ockham.
Das designierte AFD-Wahrheitsministerium rät:
Faktenchecks sind undemokratisch, weil … ääääh…. Nix weil , is so.
Eine reißerische Überschrift (wo es doch eigentlich um Objektivität gehen soll!), ein kleiner Seitenaspekt des Interviews, aber gleich schon kräftig Stimmung gemacht.
Und warum eigentlich ist jetzt der ‚stern‘ mit einem Mal offenbar ein Leuchtturm für das Heraustreten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit?! Habe ich da einen Qualitätsschub verpasst?
Ein Letztes noch: Ich finde übermedien zunehmend flach; warum z.B. liest man nichts mehr von Frau El Ouassil? DAS waren Analysen!
Und schon am nächsten Morgen ist der Faktencheck hinter einer Bezahlschranke.
Ich bin für bezahlten Qualitätsjournalismus aber in diesem Fall wäre es ein Dienst an der Demokratie gewesen, den Faktencheck bis zur Wahl frei zugänglich zu machen, was er gestern Nacht noch war.
„Dass sich am Ende zum Beispiel die meisten Punkte auf Alice Weidel von der AfD beziehen.“
Weil sie am einseitigsten lügt?
Sagt Ockham.
Das designierte AFD-Wahrheitsministerium rät:
Faktenchecks sind undemokratisch, weil … ääääh…. Nix weil , is so.
Eine reißerische Überschrift (wo es doch eigentlich um Objektivität gehen soll!), ein kleiner Seitenaspekt des Interviews, aber gleich schon kräftig Stimmung gemacht.
Und warum eigentlich ist jetzt der ‚stern‘ mit einem Mal offenbar ein Leuchtturm für das Heraustreten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit?! Habe ich da einen Qualitätsschub verpasst?
Ein Letztes noch: Ich finde übermedien zunehmend flach; warum z.B. liest man nichts mehr von Frau El Ouassil? DAS waren Analysen!