Merz-Aussage zu Asylbewerbern

So war das mit den Faktenchecks nicht gedacht

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Na, langsam die Nase voll von Faktenchecks? Ich könnte es Ihnen nicht verübeln, denn nach den vergangenen Tagen geht es mir zunehmend selbst so.

Aber nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich bringe aus Überzeugung als Trainer Nachwuchsjournalist:innen bei, wie sie Fakten checken und wie sie Faktenchecks anfertigen. Ich habe selbst als Faktenchecker (bei der dpa) gearbeitet – wenn ich es nicht gar noch irgendwie (bei Übermedien) tue.

Denn die Idee des Formats ist nach wie vor gut: Tatsachenbehauptungen, die in der Öffentlichkeit zirkulieren, werden mit ergebnisoffener Recherche untersucht. Soll ja um die Wahrhaftigkeit, also die Fakten gehen. Die Ergebnisse werden nachprüfbar veröffentlicht und zwar am besten dort, wo auch die Aussage zu finden ist. Wozu das Ganze? Damit etwa User:innen in sozialen Netzwerken oder in den Medien erfahren, wie viel Wahres oder Falsches in einer Aussage steckt, ehe sie sich ungeprüft in unser aller Köpfe manifestiert.

Bis hierhin trockene Theorie – und jetzt bitte nicht erschrecken – die auch in der Praxis mitunter bewusst spröde daherkommt. Nehmen wir beispielsweise einen Faktencheck aus meiner Zeit bei der dpa.

In den sozialen Netzwerken wurden im Sommer 2021 immer wieder Bilder von Menschenmassen zusammen mit der Behauptung geteilt, diese Menschen gingen gerade alle aus Protest gegen die Pandemie-Maßnahmen auf die Straße. In diesem Fall soll das in Frankreich so gewesen sein.

Im Faktencheck geht es nur um den überprüfbaren Wahrheitsgehalt und eine sachliche Bewertung. Meine sah in diesem Fall so aus: „Das Foto ist aus dem Kontext gerissen und schon vor drei Jahrzehnten entstanden – und zwar nicht in Frankreich, sondern in Moskau. Die Behauptung ist falsch.“

Schon in der Überschrift formulierte ich nicht etwa die Frage, ob das Foto wirklich aus Frankreich sei, sondern: „Foto von Menschenmasse ist 1991 in Moskau entstanden.“ Warum? Ein Faktencheck, der einer Falschbehauptung keinen weiteren Raum geben will, sollte sie nicht erneut zum Aufhänger machen. Auch nicht, wenn das besser klickt. Er sollte schlicht, transparent und ohne persönliche Note geschrieben sein.

Eine wichtige Faustregel ist auch: Es sollte für die reine Überprüfung einer Aussage keine Rolle spielen, von wem sie stammt und was ihr Urheber politisch, wirtschaftlich oder sonstwie zu erreichen versucht. Schon, um einen Confirmation Bias in der Recherche zu minimieren. Außerdem gibt es für die Einordnung ja andere journalistische Formate.

Letzteres scheint diese Woche bei so manchen in Vergessenheit geraten zu sein. Und damit sind wir bei Friedrich Merz.

Der CDU-Chef hat im Talk des Fernsehsenders „Welt“ am Mittwoch behauptet:

„Die werden doch wahnsinnig, die Leute, wenn die sehen, dass 300 000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“

Gut, da atmet man als Privatperson schon mal tief durch, erinnert sich vielleicht an den klugen Text von Samira El Ouassil zu Merz‘ Vokabular, setzt sich dann aber den Faktencheck-Hut auf und stellt nüchtern fest:

Teile dieser Aussage könnten nicht nur die Bevölkerung verunsichern, sondern vor allem überprüfbar sein.

Weniger, ob und wie viele Leute nun genau wahnsinnig werden. Aber ob nun 300.000 Asylbewerber die vollen Leistungen bzw. die volle Heilfürsorge bekommen: Das sollte sich herausfinden lassen. Und vielleicht auch, ob es stimmt, dass sich Asylbewerber „die Zähne neu machen“ lassen und die „deutschen Bürger nebendran“ keine Termine bekämen.

Es ist also kein Wunder, dass sich etliche Faktenchecks zu Merz‘ Behauptungen finden lassen.

Schlagzeilen zu Merz-Aussage über Asylbewerber beim Zahnarzt.

Diese Auswahl zeigt die Faktenchecks von „Welt“, „Rheinischer Post“, „Spiegel“, „Hamburger Abendblatt“ (identischer Text bei der „Berliner Morgenpost“), „ZDF heute“, „MDR aktuell“, „t-online“ und „n-tv“.

Keine Angst, wir gehen die jetzt nicht alle im Einzelnen durch. Schon an den Überschriften fällt auf, wem es mutmaßlich vor allem darum ging, Merz‘ Namen darin unterzubekommen. Und auch, dass „Spiegel“ und „n-tv“ lieber mal die Frage offen lassen, ob Merz Recht hat oder nicht, klick-klick, zwinker-zwinker. Bei „t-online“ lässt man dagegen keine Zweifel daran, zu welchem Urteil man kommt: Merz soll gelogen haben.

(Es fühlt sich fast ein wenig überflüssig an, zu erwähnen, dass die Beweiskette für eine bewusste Falschinformation aka Lüge wesentlich mehr benötigt als den Nachweis, dass eine Behauptung faktisch falsch ist. Der Text beinhaltet jedenfalls keinen Beleg dafür, dass Merz tatsächlich lügt und nicht einfach nur Unsinn verzapft.)

Ein reines Ärgernis wäre der sogenannte Faktencheck des „Spiegel“, könnte man an ihm nicht ganz wunderbar zeigen, wie sehr das Format mitunter missverstanden oder gar missbraucht wird.

Ja, der „Spiegel“ arbeitet in bewährter Manier zunächst die Merz-Aussagen heraus, um die es im Faktencheck gehen soll.

Ja, der Text beantwortet anschließend die Frage, welche zahnärztlichen Leistungen Geflüchteten gesetzlich zustehen. (Kurzfassung: Es hängt unter anderem davon ab, wie lange sie schon in Deutschland leben. In den ersten 18 Monaten gibt es in der Regel nur die gesundheitliche Akutversorgung. Danach entsprechen die Leistungen für geduldete Personen in etwa denen, die ein gesetzlich Krankenversicherter erhält.)

Ja, es wird auch mit der Behauptung eines schnelleren Zahnarzttermines für Geflüchtete (nein) oder einer allgemeinen Besserstellung (nein) aufgeräumt.

Ab dann beantworten sich die „Spiegel“-Autoren allerdings selbstgestellte Fragen, die mit der Behauptung nichts mehr zu tun haben. Sie zeigen, was der „Spiegel“ offenbar auch unter einem „Faktencheck“ versteht:

Wie finden die Zahnärzte diese Debatte?

Was will Merz mit diesem Punkt erreichen? Warum könnte die Argumentation verfangen?

Gab es die Diskussion nicht schon mal?

Welche Aussagen macht Merz noch? Stimmen die?

Und schließlich:

Das ist nicht die erste irritierende Aussage von Merz, oder?

Hier geht es nicht mehr um einen nüchternen Faktencheck. Stattdessen bekommen Leser:innen hier im Faktencheck-Deckmantel vom „Spiegel“ neben der Analyse auch zweierlei mit verhökert:

Zum einen Kommentierungen und Wertungen. So werden Merz’ aktuelle Aussagen eingeordnet als „populistisch statt fachlich fundiert“ und man erfährt, dass die Debatte alles andere als neu sei, „nur wird sie diesmal nicht von AfD-nahen Wutbürgern gespeist, sondern vom deutschen Oppositionsführer.“ Merz Aussagen aus dem Vorjahr („kleine Paschas“, „Sozialtourismus“) nennt der „Spiegel“ „markig“. (Ich hab mal nach Synonymen dafür geguckt, werde aber aus „kraftvoll“, „kernig“, „kräftig“ oder gar „nicht weichlich“ auch nicht klüger.)

Zum anderen dient der Text plattester Selbstbespiegelung: Denn Mühe gibt man sich beim „Spiegel“ nicht, den offensichtlich einzigen Sinn von Fragen wie „Gab es die Diskussion nicht schon mal?“ (mit Links zu einem hauseigenen Faktencheck aus dem Jahr 2016) oder „Das ist nicht die erste irritierende Aussage von Merz, oder?“ (mit gleich vier eigenen Artikel-Links) zu verbergen. Diese Fragen fristen ein wirklich bemitleidenswertes Dasein: Ihre einzige Existenzberechtigung besteht darin, möglichst viel alten Content neu an die Leserschaft zu bringen.

Kann man natürlich alles so machen. Nur braucht man sich dann nicht zu wundern, wenn der Begriff „Faktencheck“ immer mehr ausgehölt wird, was unter Kolleg:innen längst beklagt wird. Meine Behauptung (und die kann prüfen, wer will): Das Wort „Faktencheck“ ist nahezu bedeutungslos geworden.

2 Kommentare

  1. Kleine Anmerkung zum zitierten Satz „nur wird sie diesmal nicht von AfD-nahen Wutbürgern gespeist, sondern vom deutschen Oppositionsführer.“: Wer war nochmal bis 2021 Oppositionsführer?

  2. Es mag mit meiner gegenwärtig kurzen Schlafphase zusammenhängen: Den Zusammenhang von Artikel und der Frage “ Wer war nochmal bis 2021 Oppositionsführer?“ kann ich nicht erkennen.
    Sofern möglich bitte ich um Erklärung.

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