Der NDR stoppt einen kritischen Beitrag über ein Partnermedium – und will das nicht begründen
NDR-Journalisten recherchieren monatelang zum größten weltweiten Investigativnetzwerk OCCRP und finden interessante Details zu dessen Finanzierung. Veröffentlicht wird die Recherche aber dann von vier anderen Medienhäusern. Sie werfen dem NDR nun „Zensur“ vor – und die Verteidigung des Senders überzeugt nicht.
Die Geschichte scheint alles zu haben, was ein handfester Medienskandal braucht. Es geht um ein weltweit agierendes Netzwerk von Investigativjournalisten, das Geld von der US-Regierung kassiert. Und um den Norddeutschen Rundfunk (NDR), der die Recherche dazu zwar selbst anstieß, sich dann aber aus nebulösen Gründen gegen eine Veröffentlichung entschied und dem nun Zensur vorgeworfen wird.
Zu lesen ist das in sehr ausführlichen Texten, die am Montag gemeinsam von „Mediapart“ (Frankreich), „Drop Site News“ (USA), „Il Fatto Quotidiano“ (Italien) und „Reporters United“ (Griechenland) veröffentlicht wurden. Diese wollen laut Überschrift bei „Mediapart“ „die versteckten Verbindungen zwischen einem Giganten des Investigativjournalismus und der US-Regierung“ aufdecken. Bei dem Giganten handelt es sich um das Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), dem nach eigenen Angaben weltweit größten Netzwerk von Investigativjournalisten.
Tatsächlich ist das OCCRP eine Institution mit Vorbildcharakter in der Szene des internationalen Investigativjournalismus. Gegründet nach eigenen Angaben 2007 in Sarajevo von dem amerikanischen Journalisten Drew Sullivan und seinem rumänischen Kollegen Paul Radu, hat das Netzwerk heute laut Webseite über 200 festangestellte Mitarbeiter, die auf der ganzen Welt verteilt sind.
Während es damals vor allem darum ging, zu Korruption und organisierter Kriminalität in den Balkanstaaten zu recherchieren und damit eine Lücke in der regionalen Medienlandschaft zu füllen, ist das OCCRP mittlerweile an fast allen großen internationalen Recherchen beteiligt. Bei aufsehenerregenden Datenleck-Projekten, wie den „Panama Papers“ oder „Cyprus Confidential“, arbeitet es mit renommierten Medien wie „New York Times“, „Guardian“ oder „Spiegel“ zusammen und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. 2023 wurde das Netzwerk sogar für den Friedensnobelpreis nominiert.
Abhängigkeit von US-Regierung
Doch dieses strahlende Vorzeigeprojekt soll auch eine Schattenseite haben, schreibt nun das Recherchequartett um Mediapart: „Während sich das OCCRP als völlig unabhängig präsentiert, hat sein Management es in eine Position struktureller Abhängigkeit von der US-Regierung gebracht, wie diese Recherche zeigt.“
Konkret lauten die zentralen Vorwürfe: Über die Hälfte des Budgets würde aus Mitteln der US-Regierung kommen, das OCCRP würde dies nicht ausreichend transparent machen. Die US-Regierung habe zudem ein Veto-Recht bei der Besetzung von Schlüsselpositionen des OCCRP. Und: Über Fördergelder würde die US-Regierung indirekt Einfluss auf die Berichterstattung nehmen, da diese an Recherchen in bestimmten Ländern gekoppelt seien – und zwar auch Länder, die Washington als Gegner betrachte. Im Gegensatz dazu werde die US-Regierung von den Rechercheuren weitgehend in Ruhe gelassen.
Noch mehr Brisanz erhält die Recherche durch einen weiteren Text, den „Mediapart“ ebenfalls am Montag veröffentlichte. Dieser wirft dem NDR „Zensur“ vor. So hätten Autoren des Senders die Recherche zum OCCRP selbst angestoßen, rund anderthalb Jahre verfolgt und zuletzt die vier Medien um „Mediapart“ als Recherchepartner ins Boot geholt. Als diese dann noch weitere Ergebnisse vorlegten und gemeinsam mit dem NDR das OCCRP erneut konfrontieren wollten, habe der Sender unerwartet einen Rückzieher gemacht: Die Story sei plötzlich nicht mehr relevant genug gewesen.
Das wirft etliche Fragen auf. Schließlich lautet der Kern der Geschichte: Die weltweit größte und einflussreichste Recherche-NGO bekommt seit Gründung einen Großteil ihrer finanziellen Mittel von der US-Regierung. Und selbst wenn sich das OCCRP nach eigenen Angaben von dieser Finanzierung nicht beeinflussen lässt, stellen sich allein aufgrund dieser Konstellation unweigerlich medienethische Fragen. Warum soll das für den NDR plötzlich uninteressant gewesen sein?
Es gab Versuche, den NDR zu beeinflussen
Dafür, dass im Sender „Zensur“ ausgeübt wurde, wie „Mediapart“ schreibt, haben die Autoren keinen Beleg: Es gibt keinen Nachweis, dass irgendwer im NDR explizit die Anweisung erteilt hat, die Veröffentlichung der Rechercheergebnisse zu stoppen. Es ist aber auffällig, wie schwammig und widersprüchlich sich die verantwortlichen Führungskräfte zu der Recherche äußern. Auffällig ist auch, wie wenig Interesse diverse NDR-Redaktionen an der hauseigenen Recherche zeigten – und wie intransparent der Sender in der Sache jetzt kommuniziert.
Unstrittig ist, dass es den Versuch gab, den Sender zu beeinflussen. „Mediapart“ berichtet über Dokumente, die zeigen, dass die Entscheidung gegen das Thema fiel, nachdem OOCRP-Chef Drew Sullivan Druck auf den Sender ausgeübt hatte. Welche Dokumente das sind, schreibt „Mediapart“ nicht, und nennt keine weiteren Details. Auch Sullivan bestätigte gegenüber „Mediapart“ schriftlich, Druck auf den NDR ausgeübt zu haben. Der NDR wiederum erklärt, „juristische Hinweise“ erhalten zu haben, er habe darauf aber nicht reagiert – was genau mit diesem Begriff gemeint ist und von wem diese „Hinweise“ stammten, ist unklar. Der Sender weist den Vorwurf, Druck nachgegeben zu haben, entschieden zurück, man habe auch keine Unterlassungserklärung abgegeben.
Fest steht auch: Der NDR hat selbst schon mit dem OCCRP kooperiert, laut Pressestelle zum ersten Mal 2021 im Projekt „Suisse Secrets“, zuletzt bis Februar 2023 in einer Recherche zu Transparenzregistern.