Von heute an geben wir Gastautoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder gerne falsch eingesetzt wird – die man aber ständig hört oder liest, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Zum Auftakt dieser Reihe schreibt Jürgen Trittin über: die Politik.
„die“ Politik
Im Allgemeinen lässt sich besser schimpfen. Über die Politik, die Wirtschaft, die Presse oder das Volk. Solche Pauschalisierungen sind immer falsch. Sie sind ein Beweis eklatanter Denkfaulheit. Und sie sind gefährlich. Denn sie verdecken die wahren gesellschaftlichen Konflikte – und spielen denen in die Hände, die mit plumpen Parolen gegen eine plurale Gesellschaft kämpfen.
Es ist in Deutschland mehrheitsfähig geworden, die Politik insgesamt doof zu finden und die gewählten Politiker allesamt als korrupt, unfähig und bürgerfern zu verteufeln. Das geschieht nicht nur, wenn montags in Dresden gegen „das Parteienkartell“ gehetzt wird. Das geschieht auch immer mehr im Feuilleton, und es ist ein Mantra in manchem linken Kreis geworden.
Diese Denkweise ist äußerst problematisch. Sie impliziert, dass es einen Volkswillen gibt und eine Politik, die ihn umzusetzen hat. Doch die politischen Konflikte verlaufen gerade zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Interessen und Weltanschauungen.
Nehmen wir das Handelsabkommen TTIP, das derzeit zwischen der USA und der EU verhandelt wird. Ich bin gegen dieses Abkommen und finde, dass es gestoppt werden muss. Das ist überraschend, weil es doch angeblich die Politik, die Wirtschaft und die Amerikaner sind, die den einfachen Leuten TTIP einfach so aufdrücken wollen.
In den USA habe ich viele Menschen getroffen, die TTIP für unfair halten und eine große Mehrheit der mittelständischen Unternehmer*innen, mit denen ich spreche, sind gegen das Abkommen. Ja, es gibt Politiker*innen, die aus ihrer neoliberalen Ideologie oder auf Druck großer Konzerne dafür streiten. Es gibt auch eine Minderheit in der Bevölkerung, die das Handelsabkommen für gut befindet. Die Politik? Die Bevölkerung? Willkommen in der pluralen Gesellschaft.
In einem repräsentativen politischen System treffen Interessenskämpfe und Weltanschauungen aufeinander. Parteien, Verbände und andere Institutionen streiten um den richtigen Weg. Das ist gut so – auch wenn nicht immer die Seite gewinnt, auf der ich stehe. Der Idee, Politiker*innen sollten doch einfach „das Nötige“ tun, statt sich ständig zu zanken, liegt ein zutiefst reaktionäres Verständnis von der Einheit der deutschen Bevölkerung zugrunde.
Diese Einheit gibt es nicht. Wir sind viele Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Interessen. Und wir tragen diese Konflikte friedlich aus. Das nennt man Demokratie.
Davon, dass immer mehr Menschen diesen Prozess als anstrengend empfinden, profitieren gerade AfD & Co. Bei ihnen gibt es kein langes Für und Wider, sondern klare und einfache Antworten, auch wenn die Probleme noch so komplex sind. Sie propagieren einen gemeinsamen Volkswillen. Wer sich gegen ihn stellt, ist ein Volksverräter. Das ist das Gegenteil von Demokratie.
Es war im vergangenen Jahr immer wieder zu lesen, die demokratischen Parteien müssten angesichts dieses Angriffs von rechts zusammenstehen. Die Herausforderung der Aufnahme und Integration hunderttausender Geflüchteter sei zu groß, um in „Parteien-Klein-Klein“ zu verfallen. Wir dürfen diesem reaktionären Impuls nicht nachgeben.
Wir müssen einen „schmutzigen Deal“ wie das EU-Türkei-Abkommen auch weiter scharf kritisieren, auch wenn wir bei anderer Gelegenheit Angela Merkel gegen Horst Seehofer verteidigen. Gerade jetzt ist es wichtig, dass die demokratischen Parteien zeigen, wie Demokratie funktioniert. Wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen, aus Angst vor den Rechtspopulisten deren Erzählung von der etablierten Politik zu bestätigen.
Jürgen Trittin (Grüne), geboren 1959, ist seit 1998 Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Er hat in Göttingen Sozialwissenschaften studiert und unter anderem frei für die „Göttinger Stadtzeitung“ geschrieben. Von 1998 bis 2005 war er Bundesumweltminister.
Muttersprache: Deutsch/Bremisch
Als Hasswort wählte er nicht: Dosenpfand
Lustigerweise ist gerade die AfD einer der zerstrittensten Haufen. Eigentlich tun die nichts anderes als streiten und nur nebenbei NPD-Rotz mit einem bisschen FDP-Schleim zusammenzuschmieren.
“Ja, es gibt Politiker*innen, die aus ihrer neoliberalen Ideologie oder auf Druck großer Konzerne dafür streiten. “
Erfrischend, mal einen solchen pluralistisch orientierten Text zu lesen, der gegen Pauschalisierungen streitet und kontroverse Fragen differenziert betrachtet.
Danke, Muriel, genau an der Stelle habe ich auch mit meinen Augenbrauenmuskeln herumgealbert. Herr Trittin, sind es also pauschal DIE NEOLIBERALEN, die anderer Auffassung sind? Sind „solche Pauschalisierungen“ nicht „immer falsch“? Sind sie ein „Beweis eklatanter Denkfaulheit“? Oder ist es das irgendwie etwas anderes, wenn man abweichende politische Ansichten einer Gruppe zu ordnet, die man als verbohrte Neoliberalisten markiert, damit der ein oder andere Bürger nicht aus seiner Denkfaulheit herausgerissen wird, und er sich nicht mühselig entscheiden muss, auf welcher Seite der widerstreitenden Interessen er sich verorten möchte? Wer möchte schon bei den Neoliberalen mitspielen? Also ich nicht. Meine Stimme haben Sie.
L’idéologie, ce sont les autres.
Mist, falsch zitiert. Immer wenn man mit seiner Bildung prahlen will…
Wo, bitte, steht „DIE NEOLIBERALEN“? Ich finde bloß: „Ja, es gibt Politiker*innen, die aus ihrer neoliberalen Ideologie oder auf Druck großer Konzerne dafür streiten.“ Das heißt nicht zwangsläufig, dass _alle_ Neoliberalen (genderneutraler Plural kann so einfach sein, ätsch) für TTIP sind, sondern, dass Neo-Liberalismus ein Grund sei, für TTIP zu sein. Was wohl auch zutrifft.
Aus der Aussage, es gäbe Schotten, die Porridge ohne Zucker äßen, wird ja auch nicht zurückgeschlossen, dass Leute, die ihn mit Zucker essen, keine (wahren) Schotten seien.
Ein sehr kluger Beitrag von Herrn Trittin, ganz der Gegensatz zu den Kommentaren 2-5.
Ich freue mich trotzdem auf die Fortsetzung der Reihe und bin gespannt auf die nächsten Gastautoren. Die Serie verspricht mehr intellektuelle Substanz als „Ulfis Welt“!
Well that escalated quickly.
Da formuliert Trittin korrekt und pauschalisiert nicht und dann wird ihm vorgeworfen, zu pauschalisieren.
O tempora o mores.
Lieber Herr Trittin, Ihre Ausführungen gehen am Kern des Problems vorbei. Mit dem Pauschalurteil über „die“ Politik wollen die meisten Menschen und Medien nicht ausdrücken, dass alle Politiker gleich (korrupt, unfähig, bürgerfern) sind. Was sie damit sagen wollen (bewusst oder intuitiv), ist vielmehr: Unser bestehendes politisches System passt nicht mehr in unsere Zeit! Ein System, dessen Säulen immer noch der Nationalstaat und die indirekte Demokratie sind, funktionert nicht in einer Welt der Vielfach-Identitäten und globalen Vernetzung. Das spüren immer mehr Menschen (reflektiert oder unreflektiert) – und drücken es mit der Pauschalkritik „die“ Politik aus. Dass wir vor 100 Jahren Ländergrenzen nur soweit zogen, wie es Sprache und Logistik gerade noch zuließen, und dann Abgeordnete wählten, um „das Volk zu vertreten“, war unter den damaligen Gegebenheiten nachvollziehbar. Die Limits der Kommunikation ließen nichts Anderes zu. (Jedenfalls nicht, wenn man über die Grenzen eines Schweizer Kantons mit rigider Demographie hinausblickte.). Das Politiker sich aus allen Ecken des Landes an einem zentralen Ort einfanden, um dort pauschal Gesetze und Vordnungen für die Nation zu beschließen, war einfach das einzig (kommunikations-)technisch Machbare. Eine „Top-Down“-Politik für eine Welt, wo alles irgendwie „Top-Down“ war: die Wirtschaft (wenig Kapital, viele Arbeiter), die Energie (wenig Hersteller, viele Verbraucher), die Medien (wenig Quellen, viele Leser). Im 21. Jahrhundert ist das anders. Mit den heutigen Kommunikationsmitteln wäre es kein Problem mehr, eine direkte Demokratie einzuführen – online, stets am Puls der Wähler. Was hindert uns daran, dass Menschen ständig über alles mögliche „Politische“ abstimmen könnten? Manche würden das stark in Anspruch nehmen, manche gar nicht, manche sich auf ihre Fachgebiete fokussieren, andere nur bei „großen Themen“ wählen. Mal weniger, mal weniger aktiv, eine Web-Demokratie eben. Kurzer „Log-in“, dann stimmbereit. Sicherheitsbedenken? Online-Banking geht ja auch. Was uns trotz der technischen Möglichkeiten zaudern lässt, so ein Szenario mit bejahendem Geist aufzunehmen, gar umzusetzen, ist unsere Konditionierung: So ein Szenario verwirrt uns. Unsere Volksvertreter sind es gewohnt, in einem politischen System zu handeln, das für eine „Top-Down“-Welt gemacht ist. Politik in einer vernetzten Welt, wie soll das gehen? Wer darf da bestimmen, über was man abstimmen kann? Wer würde Manipulation und Missbrauch bei Abstimmungen verhindern? Der Vorschlag, dass nur jene abstimmen dürfen, die vorab einen kurzen Online-Test zum Thema gemacht haben, würden impulsartig den Ruf des antidemokratischen Elitismus hervorrufen. Fest steht aber: Manipulation und Elitismus gibt es schon heute zuhauf – und da darf man berechtigt pauschalieren: Warum, bitteschön, konnte sich ein dichtes Netz der (ungewählten) Interessensvertretungen so etablieren, dass es einem gewählten Politiker kaum noch möglich ist, es zu ignorieren? Warum sind die meisten Gesetzestexte heute so unverständlich geschrieben, dass selbst Juristen und Ministerialbeamte ohne „Beipack-Text“ ratlos sind? (Besonders bei den Direktiven aus Brüssel.) Warum sind Verordnungen in einer so schnelllebigen Welt so starr geblieben? Das ist es, was mit dem pauschalen „die“ Politik kritisiert wird – und das ist, leider, zunehmend auch pauschal so berechtigt. Sie schreiben: „In einem repräsentativen politischen System treffen Interessenskämpfe und Weltanschauungen aufeinander“. Vielleicht. Aber „standardisierte“ politische Interesse und Weltanschauung gibt es im 21. Jahrhundert kaum noch. Das macht Parteien und ihre Einordnung immer schwieriger, oft sinnlos. Und das macht ein repräsentatives Sytem zunehmend ungeeignet für unsere Gesellschaft. Das inflationäre Gerede von „die“ Politik will im Kern eines sagen: In Zeiten des Umbruchs, geprägt von einer massiven Kommunikationsrevolution, ist das aktuelle System der Politik zum Auslaufmodell verdammt. Was dem entgegensetzen? Ein positives Narrativ eines neuen Systems – offener, flexibler, direkter, klarer, transparenter! Utopie? Kurzfristig vielleicht. Langfristig keinesfalls. Doch wie schnell sich Dinge heutzutage verändern können, erleben wir mittlerweile alle – auch Politiker.
@Mycroft: da steht aber, dass man entweder „neoliberal“ (aka böse) oder auf Druck von großen Konzernen (ebenfalls böse) handeln muss um für TTIP zu sein. Das würde ich auch als Pauschalisierung lesen. Auch sonst gab es einige Absätze, die mir eher nach Wahlkampf als Debatte klangen, aber er ist halt auch Politiker, da muss das wohl so sein.
Grundsätzlich Stimme ich der Aussage aber auf jeden Fall zu. Ich verstehe die Kommentare von wegen „jetzt zusammen stehen und kein Streit mehr“ auch nicht. Gerade jetzt muss man doch zeigen, dass es einen Unterschied gibt zwischen pauschal „Lügenpresse“ rufen und differenzierten Betrachtungen.
Ich frage mich gerade, wie breit gefächert dieses „Gastautoren“ sein wird. Ich fürchte, die Stoßrichtung ist jetzt schon klar und brauche auch die einzelnen Beiträge gar nicht zu lesen, um die Tendenz zu erahnen… aber ich lasse mich gerne überraschen:-) Man erkennt die Absicht und ist verstimmt? Hoffentlich nicht…
@11 Matthias: Ich weiß nicht genau, was Sie meinen, aber, ja: Lassen Sie sich überraschen!
@Boris: Moment mal, hast Du nicht die mit Merkel und den USA abgestimmte Namensliste bekommen?
@Boris und Stefan: ja, genau das habe ich erhofft:-) … to be continued…
Darf man sich auch Gastautoren wünschen? Bushido wäre doch mal originell, der kennt bestimmt tolle Hasswörter! Oder macht doch eine Auswahl, über die das zahlende Publikum abstimmen kann. Ein wenig mehr Interaktivität mit den Übonnenten erhöht die Bindungskraft!
@ichbinich,#10:
Ich sehe da kein „entweder“, nur ein „oder“. Gefühlter Subtext? Und einen Satz weiter „…_auch_“ eine Minderheit in der Bevölkerung“, die für TTIP ist. Aus der Formulierung entnehme ich, dass diese Gruppe weder zu den Neoliberalen noch zu den unter Druck gesetzten gehören soll.
Was man jetzt kritisieren kann, ist, dass da die Gruppe mal eben zur Minderheit erklärt wird, ohne Umfragen zu zitieren (er gibt seine Erfahrungen aus Gesprächen in den USA wieder).
Oder dass mögliche andere Gründe pro-TTIP nicht genannt werden, aber:
Weder wird explizit gesagt, dass ausschließlich Neoliberale und Druckopfer für TTIP sein können, noch ist das die zwingende Folge aus dem Gesagtem. Ergo keine Pauschalisierung.
@Hausherren: Wieso ist Trittin jetzt eigentlich auf der US-geprüften Liste gelandet?
Hab ich da was verpaßt ? Gehört der Trittin nicht zu den Neoliberalen ? Hab ich das geträumt, dass der bei der Einführung der Agenda 2010 und Hartz IV Bundesminister war ? Oder war der mittels ‚reservatio mentalis‘ gleichzeitig in der Opposition ? Fragen über Fragen.
Aber zu seienm Haßwort: weshalb „das“ Volk immer „die“ Politiker sagt liegt ja daran, dass -egal wen „das“ Volk wählt – immer die gleiche Politik rauskommt.
#9, Thomas Clark
„Was hindert uns daran, dass Menschen ständig über alles mögliche „Politische“ abstimmen könnten?“
Der gesunde Menschenverstand. Denn dann würde man kaum noch eine mittelfristige, erst recht keine langfristige Politik mehr gestalten können. Der TED als Parlaments-Ersatz führt zu einem 24h-Buhlen um Wähler. Außerdem hätten wir dann ein durchgängiges Mehrheitswahlrecht, das Minderheiten gern außen vorlässt.
@Jürgen Trittin: An ihrem Kommentar erschreckt mich, dass wir in einer Zeit leben, wo solche Selbstverständlichkeiten einer Demokratie noch erwähnt werden müssen. Wer hätte noch vor zehn Jahren vorhergesagt, dass es zu einer derart massiven Rückentwicklung im Demokratie-Verständnis unserer Gesellschaft kommen könnte?
Einerseits haben wir ein nahezu unerschöpfliches Informationsangebot – andererseits postuliert ein nicht gerade unwichtiger Politiker, Jens Spahn, laut Spiegel, „man müsse die Bürger bei den Emotionen packen, nicht bei den Fakten“. Für mich ist das eine Kapitulationserklärung vor der AfD – und zwar nicht nur in der Flüchtlingspolitik, sondern auch im Hinblick auf die Grundwerte einer aufgeklärten, verantwortlichen demokratischen Politik schlechthin.
@was hat ein Umweltminister mit Hartz IV und der Agenda 2010 zu tun?
Oder machen Sie nun jeden Minister für die anderen Ressorts verantwortlich?
@19 Die Bundesregierung ist keine Ansammlung von Einzelressorts, sondern alle Ressorts zusammen bilden die Bundesregierung (Art. 62 GG). Parlamentarische Anfragen z.B. werden immer von der Bundesregierung beantwortet und nicht von einem einzelnen Ressort. Ein Minister kann also nicht sagen: ich bin nur für meinen Bereich verantwortlich, mit dem Rest habe ich nichts zu tun. Wenn Herr Trittin also z.B. die Agenda 2010 hätte nicht mittragen wollen, hätte er zurücktreten müssen, bzw. der Bundeskanzler ihn entlassen müssen. (aufklärender Artikel z.B. in der TAZ: http://www.taz.de/!5071450/)
Aber mir ist natürlich auch bekannt, dass das Gedächtnis bei „den“ Politikern zu den am wenigsten nachhaltigen Funktionalitäten gehört. Da gleichen sie im übrigen „dem“ Volk.
#Theo: Den richtigen Weg für eine direkte Demokratie unter Nutzung neuer Kommunikationsweg zu finden, ist bestimmt eine große Herausforderung, zugegeben. Andererseits: Finden Sie, dass im aktuellen System langfristige Politik gut machbar ist? Ich zweifle – und denke etwa an Bildungspolitik, dem Schlüssel für die (auch politische) Zukunft. Auch bei der Fiskalpolitik scheint das sehr schwer (Selbst in „goldensten Zeiten“ wie unseren ist die schwarze Null eine Herausforderung.). Ich glaube, was aktuell (noch) ganz gut funktioniert, ist „träge“ Politik. „Politisches Rumdaddeln“ auf hohem Wohlstandsniveau, sozusagen. Aber ich fürchte, das wird nicht mehr lange gut gehen – dazu ist der Druck des Umbruchs zu groß. Um jedoch Ihrem Einwand wieder mehr Vorausblickendes entgegen zu bringen: Ich glaube, die Menschen wären durchaus bereit, oft Ideen einzubringen, abzustimmen und stärker politisch engagiert zu sein. Was dafür notwendig ist, ist aber vor allem eines: Klarheit, Transparenz. Wer was zu einer Abstimmung präsentieren kann, muss natürlich gut geregelt sein. Aber das ließe sich, durch diverse Hürden, bestimmt machen. Jeder kann es individuell probieren, aber er kommt nur weiter (am Ende bis hin zu einer generellen Abstimmung), wenn er auch genug Stimmen bekommen hat. Ist bei jeder Petition ja auch so. Nun mögen Sie (oder andere) einwenden: Gut, das mag bei „emotionalen“ Themen vielleicht klappen, aber bei drögen „rechts-technischen“ Themen, dem täglich Brot des Parlamentarismus, wer macht da sinnvolle Gesetze? Nun, ich glaube, bei 80 Millionen Menschen (und 80-X Wahlberechtigten) gibt für alle Themen genug engagierte Spezialisten. Um es mit einem Beispiel konkreter zu machen: Wenn ich mir die Energie-Effizienz-Richtline der EU ansehe, die meines Erachtens weitgehend unlesbar ist (und ich habe Jura studiert + bei der EU-Kommission gearbeitet) und was dann, unterstützt durch Interessensvertretungen, als deutsches Gesetz dabei (eher oligarchisch als demokratisch-legitimiert) rausgekommen ist, wenn ich mir zudem überlege, wie viele Milliarden nun auf Basis dieses Gesetzes ausgegeben wird, (zu) vieles davon für (Rechts-)Beratung wegen legistischer und prozessualer Unverständlichkeit, dann glaube ich, dass es besser gewesen wäre, wenn der Staat um Gesetzesentwürfe für mehr Energie-Effizienz aufgerufen hätte, ein Voting gemacht und der beste Entwurf einen stattlichen Geldpreis bekommen hätte. Wenn bei so einem Thema am Ende nur 0,001% der Wahlberechtigten abgestimmt hätten (und es vielleicht sogar eine Art Wissens-Einstiegstext als Abstimmungs-Filter gegeben hätte), dann wäre es sehr gut möglich gewesen, das etwas Besseres mit viel effizienteren Mitteln rausgekommen wäre. Und wenn nichts dabei rausgekommen wäre – nun, dann sollte es vielleicht eben so sein. Aber meistens, so meine Mutmaßung, gibt es für jedes politische Thema genug Leidenschaft in der Bevölkerung. Denn dass sich die Leute heute vor allem auf moderne „Brot & Spiele“ konzentrieren (Fußball, Take-Away und Helene Fischer), hat nicht damit zu tun, dass sie dumm oder faul sind. Sondern vielmehr, dass sie (instinktiv) merken, dass sie politisch im aktuellen System zu wenig ausrichten können. Das fängt schon damit an, dass es immer schwerer wird, autoritative Information zu bekommen. Und wer in einem politischen System voller Intransparenz und Indirektheit lieber seine Zeit in Fußball-TV investiert (wo jedenfalls das Spiel an Klarheit nichts vermissen lässt) – nun, vielleicht ist ihm das auch nicht zu verdenken. Eines ist aber klar: Egal wie Sie oder ich die Chancen und Risiken bewerten, das (politische) System wird sich definitiv massiv ändern – das war bei jeder Kommunikations-Revolution so. Erste Anzeigen dafür sehen wir schon heute in politischen Wahlkämpfen. Das mögen wir gut oder schlecht finden, aber es bleibt, was es ist: Unaufhaltsam.
@20
Falsch. Es gilt immer noch die Ressorthoheit. Jeder Bundesminister würde sich eine, auch verbale, Einmischung verbieten. Desweiteren ist jede Koalition von Kompromissen geprägt, so dass sich Entscheidungen ergeben die man nicht vollständig mitträgt.
Solange Rainer Wendt keinen Gastbeitrag schreiben darf, bin ich voller Zuversicht.
Herr Trittin,
Sie wünschen sich eine differenziertere Betrachtungsweise seitens der Bürger, auch gegenüber der Politik? Dann sollte die Politik vielleicht mal damit anfangen.
Sie schreiben „Diese Denkweise ist äußerst problematisch. Sie impliziert, dass es einen Volkswillen gibt und eine Politik, die ihn umzusetzen hat. “ Ja aber genau das wird doch regelmäßig von den Politikern auch so implizit behauptet, bestes Beispiel Wahlen.
Noch bevor die ersten Nachwahlbefragungen zu Koalitionen oder Sachthemen im Studio eintrudeln spekulieren die Spitzenkandidaten oder Vertreter aus Berlin bereits darüber was „der Wähler“ wollte oder warum „der Wähler“ dies oder jenes gewählt hat. Das da X-Millionen Wahlberechtigte eine Einzelentscheidung getroffen haben die sich dann in einem Gesamtergebnis manifestiert fällt nolens volens unter den Tisch.
Auf die Spitze getrieben hat es dieses Jahr Gauck mit seiner Aussage über das helle Deutschland und das Dunkeldeutschland. Noch mehr Simplifizierung kann man sich kaum vorstellen. Wenn Sie als Politiker vom Bürger Differenzierung verlangen, dann sollten doch die Spitzenpolitiker aller Parteien und andere (siehe Gauck) mit gutem Beispiel vorangehen und nicht immer wieder für Negativrekorde sorgen.
Tolle Idee, aber leider wurde mit dem ersten Beitrag direkt das Thema verfehlt, denn „die Politik“ ist bereits eine Wortgruppe und weder der Artikel noch das Substantiv bilden für sich genommen ein Hasswort für den Autor, er hat somit nicht über sein persönliches Hasswort geschrieben, sondern über seine persönliche Hasswortgruppe, was der Aufgabenstellung klar zuwider läuft.
@25 JUB 68: Wir hatten ausdrücklich Redewendungen oder andere zusammenhängende Formulierungen mit eingeschlossen. Deshalb ist das schon richtig so. Aber es kommen auch bald einzelne Hasswörter.
Ja, mir wäre es auch lieber, wenn statt „die Politik“ konkret, jederzeit und immer, die handelnden Personen nebst ihrer Partei benannt werden würden. Gerade und auch bei Misserfolgen.
Aber genau das hat Herr Trittin wohl nicht gemeint, schade.
So muss ich weiterhin konsterniert hinnehmen, wenn Vertreter „der Politik“ und „der Medien“ hinsichtlich fehlgeschlagenen Handelns generalisieren, dass „wir das nicht hinreichend beachtet haben“ oder dass „die damalige Politik das noch nicht auf dem Schirm hatte“.
Wie bspw. die bis heute gänzlich ungelöste Endlagerung atomaren Mülls:
Wer aus „der Politik“, die dafür nicht einmal so allgemein benannt wird (dann heisst es nämlich „wir“), hat uns diese Katastrophe gegen kurzerhand kriminalisierte Bürgerbewegungen mit Polizeigewalt denn durchgesetzt, Herr Trittin?
Derzeit heisst es immer so hübsch „die Deutsche Bank“ (zahlte bspw. ihren Führungskräften das Fünffache dessen, was die Aktionäre erhielten u.a. an Boni), statt den sattsam bekannten Hauptverantwortlichen dafür wie für die desaströse Lage dieses Geldhauses überhaupt namentlich zu benennen, wie hiess er noch, der Merkelfreund, der Günstling „der Politik“, ich komme nicht darauf, sein Name ist zu lange in Presse und Rundfunk nicht mehr gefallen, er wird seltsamerweise ü-ber-haupt nicht mehr erwähnt – und nun ist er mir glatt entfallen.
Wie, Herr Trittin, heisst bitte nochmal der individualisierte Hauptverantwortliche für international gut 6.000 gegen „die Deutsche Bank“ geführte Prozesse?