Der Autor
Carsten Wolf ist freier Journalist aus Berlin. Er arbeitet unter anderem für „Correctiv“ und den Deutschlandfunk. Außerdem ist er Redakteur und Podcast-Host beim „Mediendienst Integration“.
Buntstifte. Pommes. Tiktok und Dieselautos. All das hat die EU schon einmal verboten. Oder sie war kurz davor – zumindest, wenn man deutschen Medienberichten glaubt. Am Ende war dann oft nicht viel dran an den vermeintlichen Verbotsplänen. Aber Empörung über die EU geht offenbar immer gut im medialen Rennen um Aufmerksamkeit.
Carsten Wolf ist freier Journalist aus Berlin. Er arbeitet unter anderem für „Correctiv“ und den Deutschlandfunk. Außerdem ist er Redakteur und Podcast-Host beim „Mediendienst Integration“.
Spricht man mit Korrespondenten und Experten, scheint es tatsächlich grundsätzliche Probleme mit der EU-Berichterstattung deutscher Medien zu geben. Dabei kommt dieser eine besonders wichtige Funktion zu. Schließlich sei die EU „nicht direkt erfahrbar und immer medial vermittelt“, wie die Politikwissenschaftlerin Claudia Huber in einem Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt. Soll heißen: Was wir über die EU denken, hängt wesentlich davon ab, wie Medien über sie berichten. Wie steht es also wirklich um die Qualität dieser Berichterstattung?
Derzeit arbeiten rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutscher Medien in Brüssel (105 insgesamt, davon 96 Korrespondenten). Das klingt erst einmal viel. Ein großer Teil davon, nämlich mehr als ein Drittel, arbeitet für öffentlich-rechtliche Sender, vor allem für ARD und ZDF (25). Sie stellen im EU-Vergleich die mit Abstand meisten Journalisten in Brüssel.
Große private Zeitungen und Fernsehsender haben deutlich weniger Power: „Spiegel“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ leisten sich jeweils drei Korrespondenten. „Die Zeit“, RTL oder „Bild“ haben nur eine Person in Brüssel. „Es gibt eine dramatische Unterversorgung von Brüssel mit Korrespondenten“, sagt Maximilian Henning, freier EU-Korrespondent zu Digitalthemen in Brüssel.
Hennings Einschätzung leuchtet vor allem mit Blick auf die steigende Relevanz des politischen Geschehens in Brüssel ein. Allein 2023 wurden dort 576 Gesetze verabschiedet. Die Bedeutung der EU für den Alltag der Menschen in Europa wächst, vor allem bei den Themen Umweltschutz, Migration, Arbeitsrechten oder Online-Handel. Und auch, wenn man den konkreten Anteil nur schwer beziffern kann, schätzen Experten, dass etwa 40 bis 50 Prozent der deutschen Gesetze auf EU-Impulse zurückgehen.
Die Zahl der deutschen Korrespondenten in Brüssel hält mit diesem Bedeutungswachstum allerdings nicht mit, sondern stagniert seit Jahren. Wie stark der mediale Fokus weiter auf nationaler Politik liegt, wird deutlich, wenn man die EU-Redaktionen mit den Hauptstadt-Redaktionen vergleicht. So haben ARD und ZDF dreimal so viele Angestellte in Berlin wie in Brüssel. Beim „Spiegel“ ist das Verhältnis Brüssel-Berlin 3 zu 20. Bei der SZ 3 zu 15. Bei der „Zeit“ sogar nur 1 zu 19.
Im europäischen Vergleich sieht es sogar noch düsterer aus: Insgesamt hat sich die Zahl internationaler Korrespondenten in Brüssel im letzten Jahrzehnt halbiert. Vor zehn Jahren, im Jahr 2013, waren es 1330. Anfang 2024 waren es nur noch 730. Zum einen lag das am Brexit, zum anderen sparen Medien in der Krise häufig zuerst bei den Korrespondenten.
Aber muss man überhaupt in Brüssel sein, um über die EU zu berichten? Korrespondent Henning ist sich jedenfalls sicher, dass man vieles nur mitbekomme, wenn man vor Ort sei. „Brüssel ist eigentlich ein Eldorado für Journalisten“, sagt er. Man müsse sich nur in eine Bar setzen und die Chancen seien groß, dass man am Nachbartisch eine Diskussion von Abgeordneten mitbekommt. Zudem könne man sich in Hintergrundgesprächen jederzeit über den Stand von Gesetzen informieren: „Viele EU-Institutionen sind sehr transparent.“
Auch die Investigativjournalistin Charlotte Wirth ist der Meinung, dass sich die von Hennings diagnostizierte „Unterversorgung“ direkt auf die Arbeit der EU-Korrespondenten auswirke. Wirth arbeitet unter anderem für den „Stern“ in Brüssel und war selbst Korrespondentin. Sie findet, dass die EU-Berichterstattung oft einförmig sei. In fünf verschiedenen Zeitungen lese sie die gleichen Berichte über dieselben EU-Themen. Die Einförmigkeit liege aber nicht daran, dass die Medien keine guten Journalisten vor Ort hätten, sondern daran, dass diese alles abbilden müssten, was im Brüsseler Polit-Karussell passiere.
Mit Blick auf die personelle Ausstattung der meisten großen Medien sagt Wirth: „Das reicht vielleicht gerade so für einen Abriss dessen, was gerade läuft.“ Viele kämen aus dem „Karussell“ von täglichen Briefings, neuen Gesetzen und anstehenden Gipfeln aber gar nicht mehr raus. Nur wenigen bliebe die Zeit, um Gesetzentwürfe im Detail zu lesen, über die sie berichteten. „Dafür hast du keine Zeit, wenn du in ein Mittags-Briefing der EU-Kommission musst und danach noch über drei Gesetze und parlamentarische Kommissionen schreibst“, so Wirth. Oft lese man daher in Artikeln Formulierungen wie: „Sprecher A sagt das und Person B sagt das.“
Das führe manchmal zu handwerklichen Fehlern, so Wirth. „Ich habe damals einmal einen Text zur Medikamentenverordnung geschrieben. Am nächsten Tag fragte mich ein Kollege in der Themen-Konferenz: Warum hast du das so geschrieben? Alle anderen schreiben das Gegenteil. Die Antwort war: Ich hatte die Zeit, den Gesetzentwurf Wort für Wort zu lesen. Die anderen hatten vor allem aufgeschrieben, was ein Sprecher im Mittags-Briefing darüber gesagt hatte. Was ich geschrieben hatte, stimmte.“
Der Zeitdruck mache es außerdem einfacher für Politiker und Lobbyisten, den Berichten ihren „Spin“ mitzugeben. Sie bieten Journalisten exklusive Informationen an und wollen dann im Anschluss zitiert werden, sagt Wirth. „Man ist dann gegebenenfalls zu empfänglich für das Narrativ, das man von allen Seiten gefüttert bekommt.“ Diese gegenseitige Nähe findet Wirth problematisch.
In der Konsequenz geht es oft nur um vermeintliche „Skandale“: So wie beim „Bierflaschen-Skandal“ im Mai vergangenen Jahres. Ein gutes Beispiel dafür, wie schnell sich negative Nachrichten über die EU verbreiten. Anlass war die neue Verpackungsrichtlinie. Ein klassisches EU-Gesetz: relevant, aber unsexy. Als Teil des European Green Deal soll die Richtlinie Verpackungsmüll bis 2030 deutlich reduzieren.
Ende Mai 2023 titelte allerdings die „Bild“: „Brauer schlagen Alarm: Müssen wir Milliarden Bierflaschen vernichten?“ In dem Aufmacher ging es um die befürchteten Folgen der neuen Richtlinie für deutsche Bierfans.
Die Zeitung warnte: Milliarden Bierflaschen müssten vernichtet werden, weil Etiketten ablösbar seien und die EU das nicht erlauben wolle. Grundlage war eine Pressemitteilung des deutschen Brauer-Bunds, die nicht überprüft worden war. Stattdessen übernahm die Redaktion die alarmistischen Aussagen der Getränkelobby und übersah dabei ein wichtiges Detail. Denn die EU-Kommission hatte zwar vorgeschlagen, dass Mehrwegkennzeichnungen „dauerhaft“ an den Flaschen angebracht werden müssen. „Dauerhaft“ bedeutet aber nicht „permanent“. Aufgeklebte Etiketten reichten völlig. Zahlreiche Medien griffen die Falschmeldung auf (1, 2, 3).
Die EU-Berichterstattung leide generell darunter, dass immer noch zu oft durch die „nationale Brille“ auf die EU geschaut werde, sagt der Politikwissenschaftler und Medienforscher Hans-Jörg Trenz. Viele Berichte seien sehr „vorurteilsbelastet“. Claudia Huber schreibt in ihrem Bericht für die Friedrich-Ebert-Stiftung, man erlebe in solchen Momenten statt der erhofften „Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten“ faktisch eher wieder „die Nationalisierung europäischer Ereignisse“.
Die Korrespondenten in Brüssel werden in solchen Nachrichtenlagen von den Heimatredaktionen offenbar teilweise nicht gefragt. „Diese Klage von den Korrespondenten gibt es seit Jahren“, sagt Politikwissenschaftler Trenz. „Sie könnten zwar eine europäische Perspektive anbieten. Aber die Redaktionen verengen das lieber auf die nationalen Interessen.“ Immerhin erschienen zu den Bierflaschen hier und da Faktenchecks. Aber Brüssel-Korrespondenten wurden dazu auch nicht zitiert.
Gerade die „Bild“ investiert nur wenig in fundierten Journalismus zu EU-Themen. Die Zeitung, die regelmäßig vermeintliche „Skandale“ bei der Gesetzgebung der EU aufdeckt, leistet sich nur einen Korrespondenten in Brüssel. Dieser pendelt „zwischen Berlin und Brüssel“, steht auf seiner Autorenseite. Auf seinem X-Profil postet er nur gelegentlich zu EU-Themen. Der Bierflaschen-Aufmacher stammt auch nicht aus seiner Feder, sondern wurde von einem Politikredakteur geschrieben.
„Wir wurden vor der ‚Bild‘-Meldung nicht einmal angefragt“, sagt die SPD-Abgeordnete im EU-Parlament Delara Burkhardt. Sie kümmert sich als Berichterstatterin ihrer Partei besonders um die Verpackungsrichtlinie. „Dabei sind die EU-Kommission und wir Parlamentarier immer ansprechbar für Journalisten. Trotzdem wurde die Ente veröffentlicht und erst einmal von vielen Zeitungen übernommen.“
Nachdem sich die Aufregung über die Bierflaschen gelegt hatte, wurde es wieder ruhiger um die Verpackungsrichtlinie. Hinter den Kulissen bauten die EU-Kommission und die Fachausschüsse die Änderungen aus den verschiedenen EU-Staaten ein. In diesen „Routine-Phasen liegt die Berichterstattung vor allem in den Händen der EU-Korrespondent_innen in Brüssel“, schreibt Politikwissenschaftlerin Huber. Diese hätten eine hohe Kompetenz und gute Netzwerke. Doch die meisten Berichte gebe es eben eher zu den EU-Gipfeln, und nicht in den Routine-Phasen.
Dabei kann dieser „EU-Alltag“ durchaus spannend sein: So standen die Parlamentarier während der Verhandlungen über die neue Richtlinie unter ständigem „Lobby-Beschuss“ der Verpackungsindustrie, wie es EU-Abgeordnete Burkhardt beschreibt. „Über diese Lobby-Schlachten hinter den Kulissen wird viel zu wenig berichtet“, findet Burkhardt. „Es gab diese Handvoll Artikel, die einzelne Beispiele hervorgehoben haben. Ansonsten ging es aber immer nur um die vermeintlichen Skandale.“
Die Verpackungsrichtlinie war erst wieder Thema, als sie kurz vor der Verabschiedung stand. Jetzt ging es um die „politische Sportberichterstattung“: Wer gegen wen? Wer sind die Verlierer? Und wer geht als Gewinner vom Platz? In diesem Fall schien es, als könne die FDP alles im letzten Moment stoppen. „FDP blockiert schon wieder ein Gesetz: Alarm um den gelben Sack“, titelte zum Beispiel die taz. Ein prominenter Politiker, geheime Deals im EU-Parlament. Das ist Primetime für EU-Berichte. Am Ende wurde das Gesetz doch beschlossen.
Bis 2030 sollen jetzt die meisten Verpackungen in der EU recyclebar sein. Das könnte man durchaus als Erfolg werten. Doch der sportliche Hahnenkampf im Vorfeld war stets ein größeres mediales Thema als der erreichte Fortschritt.
Dahinter steckt ein generelles Muster: In Medienberichten wird eher über nationale Streitigkeiten berichtet als über „solidarisches Krisenmanagement“ durch die EU. Damit werde der EU implizit die „Problemlösungskompetenz“ abgesprochen, so fasst es Huber mit Bezug auf andere Studien zusammen, zum Beispiel über Berichte zur Eurokrise.
Doch es gibt auch positive Entwicklungen. EU-Themen sind heute zum Glück keine „Quotenkiller“ mehr. Medien berichten heute deutlich mehr aus Brüssel als früher, sagt Politikwissenschaftler Trenz. „Berichte mit EU-Bezug haben in allen Mitgliedstaaten in den letzten Jahren zugenommen“, fasst auch eine Studie von 2018 zusammen. Zudem sieht Trenz auch weitere positive Entwicklungen. Beispielsweise habe sich die Berichterstattung „diversifiziert“. Mehr Journalisten berichteten über EU-Themen. Auch weil die EU selbst offensiver kommuniziere als früher.
So seien die Mittags-Briefings der EU-Kommission vor Corona ein Privileg der Brüssel-Korrespondenten gewesen. Inzwischen werden sie online übertragen. Damit ist es für Journalisten einfacher geworden, über die EU zu berichten, auch wenn sie zum Beispiel für eine Regionalzeitung arbeiten.
Der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund hatte nach der Europawahl im Juni dieses Jahres in einem offenen Brief deutsche TV-Talkshows kritisiert. So habe „nur ein (!) Europaabgeordneter unter 43 Gästen in deutschen Polit-Talkshows in der Woche nach der Europawahl“ gesessen. Nun ist Freund aber ebenfalls der Meinung, dass sich „seit der Finanzkrise“ einiges in der Berichterstattung verbessert habe. Der „Politico“-Newsletter „Brussels Playbook“ berichte zum Beispiel jeden Tag hintergründig über die EU-Politik. „Das lesen alle Abgeordneten und Journalisten hier in Brüssel morgens zuerst.“
Mehrere Nachrichtenagenturen haben sich zudem zum „European Newsroom“ zusammengeschlossen und ihr Angebot deutlich ausgebaut. Auch beim Investigativ-Journalismus gibt es Recherche-Kooperationen wie Investigate Europe oder Follow the Money. Den Brüssel-Korrespondenten selbst fehle für solche Recherchen meist die Zeit, sagt Charlotte Wirth.
Eine gut ausgestattete und tiefgehende EU-Berichterstattung wäre wichtig, wenn Europa keine „leere Hülle“ bleiben soll. Sonst stärke das vor allem die Rechtspopulisten, schreibt Politikberater Hillje in seinem Buch über die EU-Öffentlichkeit. Welche Folgen das haben kann, habe der Brexit gezeigt. Eine Fehlentscheidung, getrieben von der verkürzten Anti-EU-Berichterstattung britischer Boulevardzeitungen.
Meiner Erfahrung nach helfen Vor-Ort-Besuche in Brüssel oder Straßburg am besten, um Journalist*innen für eine differenzierte EU-Berichterstattung zu sensibilisieren. Jeder Euro, der hier investiert wird, ist ein sinnvoller Euro. Vor allem dann, wenn man solche Besuche mit Korrespondent*innen-Gesprächen und einer konkreten Recherchefrage oder mit einer journalistischen Aufgabe verbindet. Wir haben damit an der Journalistenschule ifp sehr gute Erfahrungen gemacht. Wer schon in der Ausbildung lernt, wie das Spiel zwischen den verschiedenen Politik-Arenen funktioniert, berichtet später kenntnisreicher und verwechselt nie mehr den Rat der EU mit dem Europarat :)
Das gilt übrigens auch für die von Bundestagsabgeordneten organisierten „Wahlkreisreisen“, die man jedem interessierten Wähler nur empfehlen kann.