Was haben Reporter und Wirbelstürme gemeinsam? – Sie rasen nicht.
Wenn man Journalisten fragt, was Hurrikans eigentlich beruflich machen – jede Wette, die häufigste Antwort ist: rasen.
Dabei sind es tropische Wirbelstürme, keine Rasstürme; sie drehen sich mit großem Tempo, aber sie bewegen sich vergleichsweise langsam fort. Außer in den Nachrichten, wo sie fast immer gerade auf irgendeine Küste „zurasen“.
Aktuell tut das der Hurrikan „Milton“, der sich auf Florida zubewegt und – unter anderem aufgrund des sehr warmen Meerwassers – außergewöhnlich stark ist. Er erreicht Windgeschwindigkeiten von über 250 km/h, aber er bewegt sich aktuell mit bloß 20 bis 30 km/h vorwärts. Ein Wirbelsturm kommt üblicherweise gerade mal so schnell voran wie ein Radfahrer. Das ist gut zu wissen, wenn man mal in die Situation kommt, mit einem Fahrrad vor einem Wirbelsturm wegfahren zu wollen, macht diese Unwetter aber besonders gefährlich, weil sie entsprechend viel Zeit haben, an den einzelnen Orten Verwüstungen anzurichten.
Dass Hurrikans sich nur langsam fortbewegen, könnte man auch daran merken, dass sie sich regelmäßig mehrere Tage in den Nachrichten aufhalten, bevor sie irgendwo auf Land treffen. Ein Hurrikan, der am Wochenende schon vom Golf von Mexiko aus auf die Küste von Florida losraste, könnte ja spätestens am Dienstag oder Mittwoch mal eingetroffen sein, wenn man nicht davon ausgeht, dass er zwischendurch rechts ranfährt, um seine alten Sanifair-Bons einzulösen.
Nein, „Milton“ rast so wenig auf die Küste zu wie all die anderen tropischen Wirbelstürme, er kommt gemächlich angedackelt (was, zugegebenermaßen, angesichts der zu erwartenden Schäden und Opfer keine brauchbare semantische Alternative ist, aber Varianten von „sich nähern“ tun es ja auch).
Doch in den deutschsprachigen Redaktionen schreibt sich das Wort „rast“ in „Hurrikan“-Überschriften einfach von selbst (von Nachrichten in Hörfunk und Fernsehen ganz zu schweigen):
Und vielleicht ist es keine gute Idee, wenn ein Artikel schon seine Wirkungslosigkeit beschwört, aber: Das wird sich auch nach diesem Text nicht ändern.
Die Kolumne
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
In seinem Notizblog macht er Anmerkungen zu aktuellen Medienthemen.
Und vielleicht [ist] es keine gute Idee
Trifft so ein Hurrikan eigentlich auch andere Staaten, als die USA?
Ich habe gestern Abend mal ein paar US YT livestreams verfolgt zum Thema Milton, erschreckend. Die LiveChats sind immer offen und bei rechten Quatschmedien wie FOX (>160k Zuschauer) auch komplett unmoderiert. Ich glaube, das ..äääh… Kommunikationspotential dieser Live-Katastrophenevents wird noch stark unterschätzt. 160 tausend Leute im gleichen Chatroom.
Dominante Meinungen: Israel soll bitte ausgelöscht werden und die Democrats machen Wetterkontrolle, haben Milton erzeugt um im Wahlkampf mit FEMA-Hilfen gut dazustehen. Alles völlig ironiebefreit und wie gesagt unmoderiert.
Alles von den neurechten Lügnern in mundgerechten Häppchen serviert und von Total-Freidenkern nachgeplappert: https://www.pajiba.com/assets_c/2024/10/mgt-weather-thumb-700xauto-265578.png
Nach vielen Jahren der „Übermedien“-Lektüre ist dieser Beitrag der erste, den ich für einen Griff ins Klo halte. Befremdlich finde ich schon die Social-Media-Postings, die von einem „nicht auszurottenden Formulierungsreflex“ sprechen, als gelte es gegen Ungeziefer vorzugehen. Darüber hinaus verstehe ich aber auch nicht, was am Begriff des Rasens so problematisch sein soll. Eine Geschwindigkeit von 20 bis 30 km/h ist zwar in der Tat nicht außergewöhnlich für einen Radfahrer. Für Fußgängerinnen könnte man das Tempo aber durchaus als Rasen bezeichnen (Usain Bolt hat bei seinem Weltrekord-Sprint auf 100 Meter eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 37,58 km/h erreicht, wobei dieser Wert mit einer steigenden Distanz wohl nicht lange aufrechtzuerhalten wäre).
Heutzutage wird Raserei zwar oft in Verbindung mit dem mobilisierten Individualverkehr insbesondere auf Autobahnen gedacht. Die Wortherkunft ist aber viel älter und meint originär menschliche Fortbewegung. Insofern wäre in diesem Zusammenhang interessant, wo nach Ansicht von „Übermedien“ genau die Geschwindigkeitsgrenze zum Rasen verläuft und ob die Kritik an andere Medien, den Begriff falsch zu verwenden, wirklich als fundiert betrachtet wird. Die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit, die je bei einem Marathon erfasst wurde, lag als absolute Peak-Performance der Leichtathletik bei 20,9 km/h. Nach den hier formulierten Maßstäben kam der Läufer „gemächlich angedackelt“.
Interresant ist doch das die Rotationsgeschwindigkeit teilweise mit der Bewegung vermischt wird. Wie sonst käme eine Überschrift wie oben „rast mit 290 km/h“ zustande. Ich denke das ist eine semantische Falle… Der Gedanke an Geschwindigkeit erhöht das Gefühl der Näherung. Wir sagen ja auch nicht die Kaltfront rast, oder der Hagelsturm.
Nebenbei der Hinweis aus die Raserei: Das kann wirklich bei aller Vermenschlichung frühstens ab dem Zeitpunkt gelten, bei dem Menschen betroffen sind, oder zumindest Landgebiete. Ich glaube aber nicht, das es der Gedanke ist.
Wir orientieren uns hier auch nicht an Leichtathleten, es geht um Katastrophen und Naturphänome. Ein Tsunami rast 800 km/h – 100 km/h auf dem Wasser. Wolken 40 km/h – 100 km/h in der Nähe eines Orcantiefs möglicherweise schneller.
Bei diesen Dimensionen kann man kaum vom rasen sprechen… Noch nicht einmal von mittelmaß, das wird auch bei ähnlichen Phänomen nicht getan.
Ist jetzt wohl schon etwas zu spät, habe am Wochenende bei DlF einen guten Minibeitrag zur Thematik gehört. Natürlich ist DlF schon etwas nischig und das Format „Forschung aktuell“ noch mehr. Aber ein gelunges Beispiel (~ 5min):
https://www.deutschlandfunk.de/der-perfekte-sturm-wie-der-stalling-effekt-hurrikans-aufbaut-dlf-a7049c7d-100.html
Die Medien rasten tatsächlich, und die Enttäuschung war riesig, als der Sturm abflaute.