Notizblog (22)

Die NZZ, eine der etabliertesten Zeitungen der Welt, gibt sich als Anti-Mainstream-Blatt aus

Der erste Elefant im Raum stand im Museum. Der russische Fabeldichter Iwan Krylow verfasste Anfang des 19. Jahrhunderts ein Gedicht, in dem ein Besucher im Naturkundemuseum so fasziniert ist von den ganzen winzigen Wesen, die er dort sieht, dass er den riesigen ausgestellten Elefanten nicht wahrnimmt. Aus dieser Fabel schaffte der Elefant es zu Fjodor Dostojewski und Mitte des 20. Jahrhunderts in die englische Sprache – zunächst als Bild für etwas, das bloß unmöglich übersehen werden kann, später mit der Verschärfung, dass nicht darüber geredet werden darf. Aus dem Englischen wanderte der elephant in the room dann vor ein paar Jahren ins Deutsche ein, und seit ein paar Wochen steht er dank der „Neuen Zürcher Zeitung“ an deutschen Flughäfen und Bahnhöfen und in ausgewählten Großstädten auf Werbetafeln herum.

„Ansprechen, was im Raum steht“, heißt die Kampagne, mit der die Schweizer Zeitung seit vergangener Woche in Deutschland für sich wirbt. Das soll bedeuten, dass sie Themen aufgreifen wolle, „die im politischen Diskurs und in der deutschen Medienlandschaft oft weggeredet oder negiert werden, jedoch für die Zukunft von Deutschland zentral sind“.

Die AfD als Wahlsieger? Geht der deutschen Wirtschaft die Luft aus? Ansprechen, was im Raum steht.
Vier Motive der NZZ-Kampagne

Nähme man die Motive beim Wort, fehlten in der deutschen Medienlandschaft jenseits der NZZ Themen wie die Grenzen der Migrationspolitik, die Probleme der deutschen Wirtschaft oder, besonders überraschend, der mögliche Wahlsieg der AfD.

Das muss man erst mal plausibel finden: Dass ein möglicher Wahlsieg der AfD ein „Elefant im Raum“ ist, über den in Deutschland keiner spricht, nur der Typ, der seit einer Weile aus der Schweiz zu Besuch ist.

Ansprechen, „was der Mainstream auslässt“

Bemerkenswert ist aber schon die Grundidee dieses Marketings: Die stolze, etablierte, traditionsreiche NZZ definiert sich in Deutschland über die Abgrenzung zu den anderen Medien. Das wird besonders deutlich in einer Social-Media-Version der Werbung. Dort heißt es zusätzlich zu dem Elefanten-Motiv: „Als Zeitung mit dem anderen Blick sprechen wir an, was der Mainstream auslässt.“

Als Zeitung mit dem anderen Blick sprechen wir an, was der Mainstream auslässt
Screenshot: x.com/NZZde

Der Mainstream. Der Begriff „Mainstream-Medien“ ist seit einiger Zeit ein Schimpfwort geworden. „Mainstream-Medien“, das meint nicht mehr nur wertfrei die großen, breiten, tonangebenden Medien – im Gegensatz zu Nischenpublikationen oder Medien von den politischen Rändern. Es meint zunehmend auch abwertend Medien, die angeblich mit dem Strom der Nichtselberdenker schwimmen, die angeblich dominante Narrative nicht hinterfragen und die angeblich unkritisch die Positionen und Perspektiven der Herrschenden übernehmen. Es ist ein problematisches Wort, gerade weil es einerseits einen faktischen Kern hat, als Synonym für die etablierte Presse, aber auch als Kampfbegriff benutzt wird. In letzter Zuspitzung sind „Mainstream-Medien“ die, die „gleichgeschaltet“ sind, „Systemmedien“, „Lügenpresse“.

Ganz so meint die NZZ das sicher nicht, aber wie meint sie es dann? Die NZZ ist fast 250 Jahre alt und gilt mindestens seit Jahrzehnten als ein Leitmedium in der Schweiz und im deutschsprachigen Raum. Versteht sie sich selbst etwa nicht als „Mainstream“?

Fragt man das die NZZ, antwortet die Unternehmenssprecherin Karin Heim:

„Die NZZ versteht sich in der Schweiz wie auch in Deutschland als Qualitätsmedium mit einem klaren liberalen Kompass. Unser Blick auf deutsche und internationale Themen ist geprägt von einem Schweizer Verständnis für individuelle und wirtschaftliche Freiheit. Dieser ‚Blick von aussen‘ ist unser Alleinstellungsmerkmal und unterscheidet uns von anderen Medien. Während in Deutschland Politiker und Journalisten oft versuchen, Debatten zu steuern, sind Diskussionen in der Schweiz offener und basisdemokratisch. Unsere Leser schätzen diesen unabhängigen Ansatz und unsere kritische Distanz – daher sehen wir uns nicht als Teil des Mainstreams.“

Deutsche Berichterstattung nach Schweizer Art?

Das ist erstaunlich. Und eine ziemliche argumentative Verrenkung: Die NZZ soll nicht „Mainstream“ sein, weil sie „von außen“ und auf typisch Schweizer Art auf Deutschland guckt? Obwohl die Berichterstattung der NZZ über Deutschland für Deutschland von Deutschen aus Deutschland gemacht wird?!

Seit 2017 nimmt die NZZ den deutschen Markt besonders ins Visier: zunächst mit einem wöchentlichen Newsletter, dann mit dem Ausbau der Redaktion in Berlin, die inzwischen eine eigene NZZ-Ausgabe für Deutschland mit vielen eigenen Inhalten prägt.

Schon klar: Niemand will Mainstream sein. Was wäre das auch für ein Verkaufsargument: Lesen Sie bei uns das, was Sie so ähnlich an vielen anderen Stellen lesen können. Aber in Schwierigkeit mit der Begriffs-Definition hat sich die NZZ ja selbst gebracht, indem sie für sich explizit mit einer abwertenden Beschreibung der anderen wirbt.

Kein „Altermativmedium“

Meine Frage, welche Medien nach Ansicht der NZZ zum „Mainstream“ gehören, hat die Zeitung nicht beantwortet.

Aber die, ob sie selbst sich denn, wenn sie kein „Mainstream-Medium“ ist, als „Alternativmedium“ bezeichnet:

„Den Begriff Alternativmedium lehnen wir ab. Wir sind ein unabhängiges Qualitätsmedium liberaler Prägung. Unser Ziel ist es, Themen in gewohnter journalistischer Qualität und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten – sei es der Aufstieg der AfD oder die Migrationspolitik. Dabei geht es nicht darum, sich mit bestimmten Positionen gemein zu machen, sondern um eine fundierte und kritische Auseinandersetzung, die unsere Leserinnen und Leser erwarten.“

Falls Sie das Gefühl haben, dass sich beim Lesen dieser Zeilen ein großes graues Tier ins Zimmer geschoben hat, könnte das ein Elefant sein, der mit der ihm eigenen Dezenz darauf hindeutet, dass die „unterschiedlichen Perspektiven“, aus denen die deutsche Ausgabe NZZ Deutschland beleuchtet, mit erstaunlicher Berechenbarkeit doch rechte Perspektiven sind. Die Marktlücke, die die Zeitung in Deutschland für sich entdeckt zu haben glaubt, liegt einfach auf der rechten (und lauten) Seite des etablierten Medienmeinungsspektrums. Sie spricht nicht Themen an, die andere verschweigen, sondern kommentiert sie nur noch rechter, noch eindeutiger und berechenbarer gegen alles vermeintlich Linke und angeblich „Woke“. Der Newsletter „Der andere Blick“ wettert fast täglich gegen den „Ampel-Wahnsinn“, gegen den „Kampf gegen das Auto“, gegen die „Nötigung des Zuschauers“ durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, gegen die „Hysterie“ wegen der AfD, gegen „Asylmigration“.

Ein bisschen „Westfernsehen“

Eine solche Positionierung als aufgeregte, rechte Zeitung in seriösem Gewand ist natürlich legitim. Aber die NZZ würde dieser Einstufung widersprechen.

Es ist nämlich nicht halb so interessant, sich als rechte Zeitung zu vermarkten, wie als Zeitung, die ausspricht, was andere sich nicht zu sagen trauen. Auch wenn das dazu führt, dass man sich gelegentlich des Übereifers seiner größten (rechten) Fans erwehren muss. Wenn etwa immer wieder der Vergleich kommt, die NZZ sei wie früher das „Westfernsehen“, also die einzige Quelle, aus der DDR-Bürger in der damaligen Diktatur mit ihren kontrollierten Staatsmedien etwas über die Wirklichkeit erfahren konnten.

Als der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen diesen Vergleich vor ein paar Jahren machte, verbat ihn sich die Zeitung und erklärte: „Auch bei deutschen Medien arbeiten ausgezeichnete Journalisten und Journalistinnen.“ Man weiß bei der NZZ, wie falsch und problematisch der DDR-Vergleich ist. Aber ein bisschen kokettiert man doch mit ihm, in genau dem Maße, in dem es gut fürs Image und fürs Marketing ist. Angesichts der neuen Werbekampagne könnte man das damalige Statement der Redaktion erweitern zu dem Satz: „Auch bei deutschen Medien arbeiten ausgezeichnete Journalisten und Journalistinnen, aber die machen halt nur Mainstream.“

10 Kommentare

  1. Es ist das typische Narrativ des „Nein, wir sind nicht rechts – wir sprechen nur aus, was andere nicht auszusprechen wagen“, also Teil der Verschiebung der politischen Achsen nach rechts. Die AfD hält sich selbst für die Mitte, und die meisten ihrer Wähler auch. Niemand aus der AfD kann erklären, wo der Nazi eigentlich anfängt.

  2. Ich glaube Stefan Niggemeier hat schon vor Jahren mal richtig festgestellt, dass dieses „sagen, was sich die anderen nicht trauen“ immer das Sagen von Sachen ist, die rechts sind. Irgendwie immer. Keiner traut sich zu sagen, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte. Obwohl das definitiv gegen den Mainstream ist.

    Aber eigentlich bin ich hier, um die Kampagne schlechtzureden. Weil der Elefant im Raum halt nicht immer im Raum steht sondern zum Beispiel auf nem Schlauchboot. Dass der Elefantenpräsident die Metapher zerstört. Dass die fragende Headline den ganzen Gedanken, „aussprechen, was jeder weiß und sieht“ kaputt macht, weil die NZZ es da dann eben noch nichtmal selbst aussprechen will sondern nur raunig fragend in den gleichen Raum stellt.

  3. @Daniel: Das Bild mit dem Elefanten im Oval Office funktioniert auch deswegen nicht, weil der Elefant das Parteisymbol der Republikaner ist – ich hab die Werbung eher gelesen als „Wenn mit Trump ein Republikaner Präsident ist, ist die USA keine Schutzmacht mehr“, was zwar stimmt, aber halt so gar nichts mit dem „wir sprechen aus, was andere nicht tun“ zu tun hat.

  4. „Dabei geht es nicht darum, sich mit bestimmten Positionen gemein zu machen, sondern um eine fundierte und kritische Auseinandersetzung, die unsere Leserinnen und Leser erwarten.“
    Da scheint jemand die eigene Zeitung nicht zu kennen. Die deutschen Mitarbeiter mögen vielleicht noch als kritisch gelten, aber schon bei „fundiert“ wird es schwierig. Als angeblich in Pforzheim eine deutsche Fahne am Sprungturm im Schwimmbad entfernt werden musste, weil „migrantische Badegäste“ sich beschwert haben sollen, störte es nicht, dass sich diese Meldung als Luftnummer erwies. In den Beitrag des promovierten Messerdetektors Alexander Kisslers wurden einfach ein paar Konjunktive und Fragezeichen reingemogelt und trotzdem veröffentlicht. Irgendwas wird schon hängenbleiben. Gerade der besagte A. Kissler lässt wie der deutsche „Chefredaktor“ Marc Felix Serrao oder die Autorin Beatrice Achterberg besonders in den sozialen Netzen wenig Zweifel daran, dass jeder, der nicht Ihren „Analysen“ folgt, für sie (links-)radikal oder geistig umnachtet ist. Das hat nichts mit liberal oder „offener Diskussion“ zu tun, das ist von Aktivismus aus zu unterscheiden.

  5. Zitat: „Das muss man erst mal plausibel finden: Dass ein möglicher Wahlsieg der AfD ein „Elefant im Raum“ ist, über den in Deutschland keiner spricht, nur der Typ, der seit einer Weile aus der Schweiz zu Besuch ist.“

    Das ist ja noch sehr höflich ausgedruckt. Es ist einfach eine dreiste Lüge (oder ein schier unglaublicher Irrtum) nicht anzuerkennen, dass alle vier Themen in Deutschland in praktischen allen Medien (sowohl Print als auch Funk, online wie offline) ausgiebig thematisiert, kommentiert und diskutiert werden.

  6. Danke für den luziden Beitrag! Mit der NZZ verbindet mich eine lange Geschichte, 2003 hatte ich sie erstmals als Student abonniert. Ein Freund hatte mich darauf hingewiesen, dass man hier eine nüchtern-sachliche und v.A. unaufgeregte (!) Perspektive auf die deutsche Politik von der anderen Bodenseeseite bekommt. So war es auch. Und das Feuilleton! Uwe Justus Wenzel war mit seinen großartigen Rezensionen philosophischer Werke meine Eintrittskarte in aktuelle Diskurse der Geisteswissenschaft.
    So, genug Pathos. UJW wurde schon vor ein paar Jahren gegangen, ein erneutes Abo kurz vor Corona habe ich nach ein paar Wochen gekündigt. Statt eidgenössisch-neutraler Neugierde, was im großen, sorry: grossen Kanton so läuft, blanker Populismus. Und die internationale „Wochenendausgabe“ war, anders als früher, nur ein fades Relaunch der Schweizer, dafür kam sie immer einen Tag zu spät.
    Die „alte Tante“, wie sie unsere südlichen Nachbarn nannten, ist tot. Seither steht die soft linksintellektuelle deutsche Leserschaft, die sich durch sie nebenher noch ein wenig von außen inspirieren ließ, ohne Medium da. Aber der Markt scheint es so zu wollen. Schade.

  7. Es wird in Deutschland wohl niemanden geben, der sich ausschließlich durch die NZZ informiert. Als Ergänzung zu ARD und ZDF, Spiegel und Zeit, SZ und taz kann ich die Neue Zürcher Zeitung (online) aber sehr empfehlen.

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