Wundern Sie sich auch manchmal, warum auf manchen Radiosendern immer dieselben Songs laufen, während es andere Titel so gut wie nie ins Programm schaffen? Wie trifft eine Musikredaktion eigentlich ihre Entscheidungen? Braucht es sie in Zeiten von Spotify und Co. überhaupt noch? Und wie sollte man als Sender mit dem Song „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino umgehen, den Rechtsextreme für sich kapern wollen? Darüber hat unsere Autorin Johanna Bernklau mit Robert Morawa, dem Musikchef von Bayern 3, gesprochen.
Übermedien: Welches Lied wird aktuell am häufigsten gespielt bei Bayern 3?
Robert Morawa: Im Moment sind es „Stumblin’ In“ von CYRIL und „Whatever“ von Ava Max und Kygo. Die spielen wir so vier- bis fünfmal am Tag. Das können aber nächste Woche schon wieder andere Titel sein, weil wir die aktuellen Hits jede Woche neu bewerten.
Der Gesprächspartner
Robert Morawa ist Musikchef bei Bayern 3 und seit 1998 in der Musikredaktion des Senders tätig. Sein Volontariat hat er in der Musikredaktion von Energy 93.3 in München absolviert, danach leitete er die Musikredaktion von Energy Hamburg 97.1.
Können Sie die Titel noch hören?
Tatsächlich schon. Wir wissen, dass unser Publikum die Songs wirklich mag und ich kann auch nachvollziehen, warum: Weil sie einfach die Mundwinkel nach oben ziehen. Wenn der Tag schlecht war, kann man dabei wieder gute Laune bekommen.
Wie wird entschieden, welche Songs auf Bayern 3 laufen?
Einmal pro Woche setzen wir uns in der Musikredaktion zusammen und bewerten die ganz neuen Titel. Wir haben einen Musikkatalog, der aus verschiedenen Komponenten besteht: den neuen Hits, den aktuellen Lieblingssongs unserer Hörer:innen und dem sogenannten Back-Katalog mit Hits aus den 2000ern, mit denen unser Publikum aufgewachsen ist. Das ergibt am Ende die Musikmischung, die wir präsentieren wollen und an der wir dauernd arbeiten. Für die konkreten Playlists gibt es bestimmte Raster, weil es keinen Sinn macht, wenn man alle aktuellen Hits hintereinander spielt und dann kommen vier Stunden lang keine mehr. Also bauen wir uns ein Gerüst, damit jede Stunde nach der typischen Bayern-3-Mischung klingt.
Wie passen Gute-Laune-Songs mit ernsten Nachrichtenthemen, wie zum Beispiel der letzten Flutkatastrophe, zusammen?
Jede Sendung wird tagesaktuell noch einmal angeschaut. Dabei beachten wir selbstverständlich aktuelle Nachrichtenthemen und passen die Musik dementsprechend an.
Warum hört man manche Lieder so häufig und andere nicht?
In einer hohen Rotation, also der sogenannten Heavy Rotation, laufen immer die Songs, die zu diesem Zeitpunkt die beliebtesten und relevantesten Hits bei unserer Zielgruppe sind. Das fragen wir auch immer wieder bei unserem Publikum nach. Das ist nichts, was wir uns selber zusammenreimen. Im Grunde arbeitet eine Musikredaktion wie eine Nachrichtenredaktion: Es macht keinen Sinn, jeden Abend alles zu berichten, was es auf der Welt gibt. Die Redaktion muss sich entscheiden, was die relevanten Themen für die Zielgruppe sind. Genauso ist es mit der Musik. Wir müssen mit unserem Gespür für das Programm und anhand der Umfragen einschätzen, ob ein Song passt oder nicht.
Wenn ein Lied dann im Programm läuft, wird es also nach einiger Zeit getestet?
DieZuhörer:innen werden in wechselnden Panels befragt, ob sie den Song kennen, wie sehr sie ihn mögen und ob sie ihn gerne öfter hören würden. Das passiert etwa zweimal im Monat. Bei den ganz neuen Songs machen wir das nicht, weil die Leute das Lied erstmal kennenlernen müssen. Das geht ja jedem so, der auf neue Musik stößt. Entweder es ist Liebe auf den ersten Hörer oder man findet den Song am Anfang nicht gut und merkt erst nach einiger Zeit: Ich liebe den jetzt.
Bekommen Sie denn Feedback, dass manche Lieder zu häufig gespielt werden?
Sehr selten. Das ist auch etwas, was wir in den Umfragen regelmäßig abfragen.
Wie stark beeinflussen Charts und TikTok-Trendlieder die Musikauswahl?
Charts, Streaming und Social Media sind neben dem Kontakt zu Musiklabels Teil unserer Recherche zu neuen Songs. Wir werden uns aber nie darauf verlassen, wenn ein Song bei der Musikerkennungs-App „Shazam“ oder in den Charts gerade ganz weit oben ist. Das ist kein Grund für uns, ihn sofort ins Programm zu nehmen. Titel funktionieren in unterschiedlichen Medien auch unterschiedlich gut: Wenn man versucht, einen Song von Pink Floyd in ein TikTok-Format zu pressen, dann wird es wahrscheinlich ein bisschen schwierig, weil dann hört man drei Minuten nur Orgel. Wenn ein kleiner Schnipsel bei TikTok super funktioniert und man ihn auswalzt auf einen ganzen Song, heißt das nicht, dass er so auch im Radio gut funktioniert.
Gibt es etwas im Fernsehen, Radio, in Zeitungen oder online, bei dem Sie sich immer wieder fragen: Wieso ist das so? Fragen Sie uns, dann fragen wir Leute, die sich damit auskennen! Schreiben Sie uns!
Wie lange kann sich ein Song im Radio halten?
Das ist sehr unterschiedlich. Im besten Fall läuft es so ab: Der Song ist neu, die Leute hören und lieben ihn und wenn er besonders gut war, geht er irgendwann in den Back-Katalog ein. Wie sich das bemisst, ob ein Song das Zeug dazu hat? Das kann nur die Zeit zeigen. Es gibt aber auch sogenannte flavour of the day, die einen Sommer lang gefallen und im nächsten Sommer hört man wieder was anderes. Aber es gab schon Titel, z.B. „Blinding Lights“ von The Weeknd, der bei uns eine sehr lange Haltbarkeit hatte. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Leute gesagt haben: Wir lieben den Song immer noch, aber spielt ihn bitte nicht mehr so häufig.
Ihre Zielgruppe sind vor allem die 20- bis 39-Jährigen. Muss man für diese Zielgruppe überhaupt noch Musik im Radio machen?
Uns ist vollkommen bewusst, dass ein Teil unserer Zielgruppe kein Radio mehr herumstehen hat. Aber sie hört trotzdem Radio, über andere Wege. In einer Studie von ARD und ZDF zur Mediennutzung kam heraus, dass die 14- bis 29-Jährigen ihre Musik zu 43 Prozent über YouTube und Streamingdienste hören, zu 40 Prozent aber immer noch live über Radio. Es gibt also nur einen ganz kleinen Abstand – der Höhepunkt des Streamings war während der Pandemie, seitdem hören auch gerade junge Menschen wieder mehr Radio. Bayern 3 ist das erfolgreichste Radioprogramm bei den 14- bis 29-Jährigen in Bayern und erreicht täglich insgesamt über zwei Millionen bayerische Hörerinnen und Hörer. Insofern ist die Zielgruppe nicht verloren. Unsere Aufgabe ist es schlicht, überall dort zu sein, wo unsere Zielgruppe ist, und all das zu bieten, was sie braucht.
Wie wichtig ist die Musikredaktion noch in Zeiten von Spotify und YouTube, wo sich jeder seine eigenen Playlists zusammenstellen (lassen) kann?
Leute schätzen Expertise. Nicht umsonst sind Streamingplattformen so sehr daran interessiert, auch redaktionelle Inhalte zu haben und kuratierte Musik anzubieten. Aber sie schaffen es nicht so richtig, weil sie dafür in mehr als nur Algorithmen investieren müssen und sich wirklich mit ihrer Zielgruppe auseinandersetzen und mit ihr kommunizieren müssen. Es gibt natürlich Gründe, warum ich mir selbst eine Playlist zusammenstelle. Aber es spricht auch viel dafür, mich bedienen zu lassen. Radio kann genau das. Wenn ich mir vorstelle, jeden Tag mehrmals ein Mehr-Gänge-Menü zu kochen, frage ich mich, wie viel Zeit da neben Arbeit, Freund:innen treffen und Co. noch dafür übrig bleibt. Radio wird immer ein Ort für mich sein, wenn ich unterhalten werden und mich nicht um die Songauswahl kümmern möchte. Anders als beim Algorithmus hört man im Radio vielleicht einen Titel, den man so nicht gehört hätte, aber auch gut findet.
Das Lied „L’Amour toujours“ von Gigi D’Agostino wurde in Sylt und auf weiteren Partys in rechtes Nazi-Gegröle umgedichtet. Auf dem Oktoberfest ist es deshalb in diesem Jahr verboten. Wie wurde das Lied bei Bayern 3 diskutiert?
Das wurde stark diskutiert, weil wir da eine große Verantwortung haben. Wir wussten bereits vor Sylt, dass dieser Song gerade für eine ungute Sache gekapert wird. Wir hatten uns also schon davor darüber ausgetauscht und uns nach Sylt nochmal zusammengesetzt. Wir haben uns dafür entschieden, den Song weiterzuspielen. Denn es ist ja nicht so, dass Gigi D’Agostino selbst rechtes Gedankengut befeuert – sondern der Titel wird von rechten Kreisen missbraucht. Aber soll sich eine freie Gesellschaft von radikalen Minderheiten Musik, Bilder, Filme durch bewusste Entfremdung und Missbrauch wegnehmen lassen? Das würde in den rechten Kreisen ganz sicher als Erfolg gefeiert werden. „L’Amour Toujours“ gehört allen Menschen, die friedlich und gemeinsam miteinander feiern wollen. Er gehört nicht den radikalen Bewegungen. Deshalb spielen wir ihn weiter – und haben auch on air unsere Beweggründe thematisiert. Dazu haben wir nur positives Feedback bekommen.
Gibt es andere Lieder, die Sie nicht spielen können oder wollen?
Immer dann, wenn das Genre gar nicht zu unserer Zielgruppe passt, Volksmusik zum Beispiel. Das ist unabhängig davon, ob wir das gut finden oder nicht. Oder, wenn der Text eines Songs so ist, dass wir den aus unserer Verantwortung heraus nicht spielen können. Bei uns hören schließlich auch junge Familien mit Kindern zu. Dass wir aus Geschmacksgründen sagen: Der Song gefällt mir nicht, den spiele ich nicht – das passiert nicht. Wir sind für unser Publikum da. Wir sind nicht die Geschmackspolizei.
Wie ist das rechtlich? Könnten Sie jeden Song spielen, den Sie spielen wollen?
Wir haben einen Rahmenvertrag mit den Musiklabels. Alles, was offiziell veröffentlicht wird, dürfen wir bei uns senden. Viele lokale Künstler:innen haben natürlich keine Plattenverträge im klassischen Sinne, sondern veröffentlichen ihre Titel selbständig. Mit solchen Acts setzen wir uns dann in Verbindung, wenn wir sie spielen wollen.
Haben die Musiklabels Einfluss darauf, wie häufig Sie Lieder von ihnen spielen?
Nein. Die Musikauswahl ist unsere alleinige und unabhängige redaktionelle Hoheit.
Wie oft wird Ihr Lieblingslied bei Bayern 3 gespielt?
Als Musikredakteur verliebt man sich oft schon in das nächste Lied, weil wir natürlich Titel bereits öfter hören, die wir erst noch ins Programm nehmen werden. Gerade bin ich zum Beispiel ein großer Fan von Sabrina Carpenter und „Please Please Please“. Ich kann’s kaum erwarten, dass der Song hoffentlich gut aufgeht.
Die Autorin
Johanna Bernklau studiert Datenjournalismus in Leipzig und schreibt nebenbei für die Medienkolumne „Das Altpapier“ beim MDR. In den Journalismus hat sie durch ein Volontariat bei der „Passauer Neuen Presse“ gefunden. 2022 und 2023 war sie Mitglied in der Jury des Grimme Online Awards. Für Übermedien betreut sie die Serie „Wieso ist das so?“. Wenn Sie ein Thema haben, dem wir mal nachgehen sollten, dann schreiben Sie Johanna Bernklau eine Mail.
2 Kommentare
Was ich interessant finde ist das Deutschlandfunk Nova kaum Musiküberschneidungen zu z.B. Bayern 3 hat obwohl sie auch Pop spielen und ein ähnliche Alterszielgruppe haben. Das scheint es unterschiedliche Zielgruppen trotz ähnlichen Genre und Alter zu geben.
Auf WDR4, okay, Zielgruppe Ü50, wiederholen sich die Titel im Wochentakt. Ist Börerwunschtag, wünschen sich die Hörer die gleichen Titel, die sie ohnehin bereits die ganze Woche über gehört haben.
Was ich interessant finde ist das Deutschlandfunk Nova kaum Musiküberschneidungen zu z.B. Bayern 3 hat obwohl sie auch Pop spielen und ein ähnliche Alterszielgruppe haben. Das scheint es unterschiedliche Zielgruppen trotz ähnlichen Genre und Alter zu geben.
Auf WDR4, okay, Zielgruppe Ü50, wiederholen sich die Titel im Wochentakt. Ist Börerwunschtag, wünschen sich die Hörer die gleichen Titel, die sie ohnehin bereits die ganze Woche über gehört haben.