Notizblog (15)

Und plötzlich stellt sich die Frage nicht mehr, ob Medien über Joe Bidens Geisteszustand berichten sollten

Screenshot: CNN

Es gab gute Gründe, die angebliche Senilität von Joe Biden nicht zum dominierenden Thema der Berichterstattung über den Wahlkampf zu machen. Es war ganz offenkundig eine kalkulierte rechte Strategie, das Thema immer wieder aufzubringen und mit vermeintlich entlarvenden Videoschnipseln zu befeuern. Ein Präsident, dessen politische Bilanz durchaus ansehnlich ist, sollte auf diese Weise unmöglich gemacht werden. Jede Berichterstattung drohte, dieser Kampagne auf den Leim zu gehen und von der Substanz der Entscheidung, vor der die Wähler in den Vereinigten Staaten stehen, abzulenken.

Liberale Medien, die dem Thema trotzdem größeren Raum gaben, mussten sich Vorwürfe anhören, das Geschäft Donald Trumps zu besorgen. Die „New York Times“ zum Beispiel, die im Frühjahr eine ganze Reihe von Meinungsartikeln zu dem Thema veröffentlichte. Ein Audio-Essay des Publizisten Ezra Klein in der „New York Times“ im Februar, in dem er flehte, Biden wegen seines offenkundigen Niedergangs als Kandidat zu ersetzen, weil er nicht in der Lage sei, einen Wahlkampf zu gewinnen, löste viel Kopfschütteln aus. Dass sich Jon Stewart in der ersten Sendung nach seiner Rückkehr zur „Daily Show“ ausgerechnet dem Alter der beiden Kandidaten widmete, brachte ihm wütende Reaktionen ein.

Rechte Medien zeichneten auf der anderen Seite ohne Unterlass ein so vernichtendes Bild vom körperlichen und geistigen Zustand des Präsidenten, dass sie kurz vor der gestrigen Debatte die Notbremse ziehen mussten: Sie hatten die Erwartungen an Biden so sehr gesenkt, dass schon ein mäßig guter Auftritt von ihm wie eine positive Überraschung wirken würde. Sie erzählten deshalb stattdessen absurde Geschichten davon, dass Biden vorher wach, fit und klug gespritzt würde, und forderten einen Drogentest.

Diese Verschwörungstheorie von einem gedopten Joe Biden hat sich gestern zumindest erledigt. Stattdessen wirkte er in der Debatte exakt wie die Karikatur, die seine rechten Gegner von ihm gezeichnet hatten.

Gaslighting

Und damit steht nun nicht nur die Frage im Raum, wie die demokratische Partei annehmen konnte, dass dieser Mann fit genug wäre, um im Alter von 82 Jahren eine weitere Präsidentschaftswahl zu gewinnen, sondern auch, ob Medien Komplizen bei einem großen Gaslighting-Projekt waren.

Als Gaslighting bezeichnet man den Versuch, jemandem einzureden, dass das, was er wahrnimmt, nicht der Realität entspricht, sondern nur eine Täuschung ist. In diesem Fall hieße das: den vielen Wählerinnen und Wählern, die den Eindruck hatten, dass Biden geistig und körperlich extrem abgebaut hat, zu vermitteln, dass es da gar kein Problem gibt. Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen!

Es ist nicht so, dass das Thema in linksliberalen Medien totgeschwiegen worden wäre. Aber angesichts der Defizite Bidens, die bei der Debatte sichtbar wurden, stellt sich schon die Frage, ob sie ihm die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet haben.

Für einen Teil des Publikums haben sich gestern nicht nur die schlimmsten Annahmen über Joe Biden, sondern auch über die etablierten Medien bestätigt. Bei Joe Biden lässt sich das nicht als einmaliger misslungener Auftritt abtun, der schon bald vergessen ist (jeder hat mal einen schlechten Tag, blöd halt, dass der von Biden auf diesen Debattentag fiel): Zu sehr entsprach genau dieses einmalige, sehr sichtbare Misslingen den Erwartungen und Befürchtungen, den vielen Indizien, die es vorher schon gegeben hatte.

Auch bei den Medien ist der Eindruck des Gaslightings so verheerend, weil es einem Generalverdacht eines Teils des Publikums entspricht: Dass Journalisten bei vielen Themen damit beschäftigt seien, ihnen ihre Realitäts-Wahrnehmung ausreden zu wollen. Dass sie ihnen erzählen wollen, dass die von ihnen wahrgenommenen Probleme gar keine sind.

Einordnungen

Schon dieser Verdacht ist ein Problem für die Akzeptanz von Journalismus; wenn er so spektakulär bestätigt zu werden scheint wie bei Biden gestern, wird es akut.

Ein Problem für den Journalismus ist dabei, dass es durchaus seine Aufgabe ist, die individuelle Wahrnehmung der einzelnen Menschen zurechtzurücken. Die Rede ist gerne davon, dass er Dinge „einordnen“ müsse – ein inflationär verwendeter Begriff für eine tatsächlich oft notwendige Arbeit, Kontext herzustellen: Stimmt, zum Beispiel, mein persönlicher Eindruck, dass die Zahl der Unwetter zunimmt, oder täuscht der? Wenn er stimmt, trifft das dann nur für meine Region zu oder ist das ein größeres Phänomen? Kommt das, wie ich mir vielleicht zusammenreime, vom Klimawandel oder gibt es andere Ursachen?

Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen, und guter Journalismus gibt sich Mühe, mögliche Unterschiede zu recherchieren und zu erklären. Die Aufgabe von Journalismus ist es nicht, dem Publikum nach dem Mund zu reden und seine Ansichten zu bestätigen.

Aber wenn die Realität, wie sie Journalisten beschreiben, sich zu selten deckt mit der, wie sie größere Teile des Publikums wahrnimmt, bekommt der Journalismus ein Problem. Und muss versuchen herauszufinden, ob er bei allem „Einordnen“ vielleicht schlichte Wahrheiten übersieht. Und wann dieses „Einordnen“ zu einem Reflex wird, der gut gemeint sein mag, aber kontraproduktiv wirkt.

Chancen

Im Fall des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs wollten Journalisten vielleicht auch deswegen nicht zu sehr über Joe Bidens offenkundige Schwächen reden, weil die Alternative so viel schlimmer ist: Bei der Wahl zwischen einem Kandidaten, der vielleicht senil ist, und einem Kandidaten, der die Demokratie an sich unterminieren will, sollte die Entscheidung nicht zu schwer fallen. Aber die Frage ist: Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass das die Wahl ist? Warum haben die Demokraten, wenn sie Donald Trump als so außergewöhnliche Bedrohung für die Republik an sich empfinden, nicht alles dafür getan, ihm den bestmöglichen Kandidaten entgegenzustellen?

Eine mögliche Antwort darauf lautet: Weil es ihre Verbündeten in den Medien leicht gemacht haben. Weil diese sich nicht getraut haben, früh und laut genug die heikle Frage zu stellen, ob Joe Biden wirklich noch fit genug ist, um für weitere vier Jahre Präsident der Vereinigten Staaten zu sein. Diese kritischen Fragen wären vielleicht kritisiert worden, weil sie vermeintlich Trump in die Hände spielen – dabei hätten sie auch eine Chance sein können, die richtigen Antworten zu finden und die USA und die Welt vor einer zweiten Amtszeit von Trump zu bewahren.

Munition

Es bleibt trotzdem ein Dilemma: Denn Journalisten, die in diesem Sinne und mit diesem Anspruch ihre Arbeit machen, stehen Aktivisten und Ideologen gegenüber, die bereit sind, jede potentielle Munition für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und dabei zu übertreiben und zu verzerren. Die Kampagne, die systematisch daran arbeitete, Biden als senilen Greis darzustellen, war ja real und getrieben von parteiischem Kalkül. Und sie arbeitete tatsächlich mit Falschdarstellungen, mit irreführenden Ausschnitten von Bidens Auftritten, die aus einer vielleicht etwas ungelenk wirkenden Situation einen irrwitzig wirkenden und deshalb viral gehenden Aufreger machten. Die Szene, wie Biden sich beim G7-Treffen von den anderen Politikern abwandte, um scheinbar ins Nichts zu grüßen, ist ein Beispiel dafür: Aus anderer Perspektive sah man, dass er sich in Wahrheit Fallschirmspringern zuwandte, die in den anderen Bildausschnitt nicht zu sehen waren.

Es ist richtig und notwendig, dass Journalisten diesen Verdrehungen widersprechen. Aber es ist auch wichtig, es beim Kampf gegen die Übertreibungen nicht zu übertreiben: Die Tatsache, dass dieser Ausschnitt keinen hoffnungslos verwirrten Präsidenten zeigt, bedeutet nicht, dass der Präsident nicht immer wieder sehr verwirrt wirkt.

Es mangelte jenseits solcher Szenen ja auch nicht an beunruhigenden Indizien: zum Beispiel der Tatsache, dass Biden kaum Interviews gab und sein Umfeld offenkundig versuchte, möglichst viele Situationen zu vermeiden, in denen eine mögliche körperliche oder geistige Schwäche besonders auffallen könnte.

Lügen

Nun kann man auch hier wieder argumentieren, dass es Dinge gibt, die ungleich wichtiger sind als die Frage, wie ein Präsidentschaftskandidat im Wahlkampf performt. Dass Medien diesen Oberflächlichkeiten, die sich leicht instrumentalisieren lassen, nicht zu wenig, sondern viel zu viel Aufmerksamkeit geben. Dass es typisch und falsch ist, wenn die Medien heute so viel über die Stolperer des einen schreiben und so wenig über die Lügen (die unfassbare, schier unendliche Menge an Lügen) des anderen.

Dass die CNN-Moderatoren darauf verzichteten, den Unwahrheiten von Trump irgendetwas entgegenzusetzen, war tatsächlich ein Problem. Aber das größere Problem war, dass Joe Biden so schlecht war, ihnen etwas entgegenzusetzen.

Die Verfassung des amtierenden Präsidenten war die unmittelbare, gerade auch für seine Anhänger höchst verstörende Erkenntnis dieser Debatte. Man kann den Zuschauern nun natürlich zu sagen versuchen, was sie viel mehr beunruhigen sollte als das: die radikalen Pläne Trumps für einen Staatsumbau nach einem Wahlsieg. Aber ein Journalismus, der sich nicht auch mit dem beschäftigt, was das Publikum beschäftigt, wird keine Resonanz finden.

Verkomplizierungen

Das grundsätzliche Dilemma ist bei anderen Themen im Zweifel sogar noch größer. Es ist zum Beispiel richtig, dass seriöse Journalisten bei der Berichterstattung über Kriminalität von Ausländern mitbedenken, welche Vorurteile gegenüber ganzen Bevölkerungsgruppen dadurch geschürt werden können, die zum weit überwiegenden Teil nicht straffällig werden. Es ist auch richtig, dass sie immer wieder einordnen, differenzieren, Kontext herstellen – und das heißt oft auch: Dinge verkomplizieren, die so einfach scheinen.

Aber auch hier besteht die Gefahr einer Übertreibung, die zu einer Realitätsverleugnung werden kann. Auch hier steht eine Berichterstattung, die heikle Fragen aufwirft, in Verdacht, „den Falschen“ in die Finger zu spielen, den Rassisten und Nationalisten. Und auch hier können diese heiklen Fragen stattdessen dazu führen, dass richtige Antworten gefunden werden, die verhindern, dass ein Problem so groß wird, dass „die Falschen“ davon profitieren.

Dies ist kein Plädoyer dafür, besinnungslos all den Themen, mit denen Populisten punkten, noch zusätzliche Reichweite zu verschaffen. Aber das Beispiel Joe Biden mahnt, dass Verschweigen oder Herunterspielen keine gute Idee ist. Zu oft erscheint aber gerade das der erste und dominierende Gedanke von links in medienkritischen Diskussion in sozialen Medien: die Forderung, über bestimmte Themen, Personen oder Probleme nicht zu berichten, weil man damit nur „der anderen Seite“ in die Hände spielt.

9 Kommentare

  1. Ein sehr kluger, reflektierter Text. Bin begeistert.

    Aber auch hier besteht die Gefahr einer Übertreibung, die zu einer Realitätsverleugnung werden kann. Auch hier steht eine Berichterstattung, die heikle Fragen aufwirft, in Verdacht, „den Falschen“ in die Finger zu spielen, den Rassisten und Nationalisten.

    Ja, und die Gefahr ist allgegenwärtig. Es sind die berühmten „rechten Narrative“, die man nicht bedienen dürfe, die dazu führen, reale Probleme zu verleugnen.

    Verständlich dass man Biden gegen die höhnische Propaganda des MAGA-Lagers verteidigt. Aber seit gestern wirken die Forderungen Trumps, Biden möge sich doch auch mal einem Kognitions-Test unterziehen, nicht mehr höhnisch, sondern höchst berechtigt. Und die liberale Linke steht vor einem Trümmerhaufen, der die Welt in Gefahr bringt. Weil sie monatelang gesagt hat, man dürfe der Propaganda nicht auf den Leim gehen; ab und zu mal hinzufallen, sei doch ganz normal.

    Verständlich, dass man die rechte Propaganda gegen „den Islam“ nicht füttern möchte – aber wenn man selbst nach tödlichen Angriffen durch Islamisten immer nur vor Rassismus und Islamophobie warnt statt vor dem politischen Islam, dann verliert man seine Glaubwürdigkeit.

    Man muss kein Trumpist sein, um Biden für zu alt zu halten.* Und man muss kein Rassist sein, um den politischen Islam für eine Gefahr zu halten. Kritische Medien hätten die Aufgabe, Probleme zu benennen – und dann andere Analysen anzubieten, als die Rechten es tun. Das ist im „Moralspektakel“ (Philipp Hübl) der letzten Jahre leider verlorengegangen. Die einen sagen „Messermänner“, die anderen antworten „Rassismus“. Mehr läuft nicht.

    Warum haben die Demokraten, wenn sie Donald Trump als so außergewöhnliche Bedrohung für die Republik an sich empfinden, nicht alles dafür getan, ihm den bestmöglichen Kandidaten entgegenzustellen?

    Schicksalsfrage. Ich fürchte, es liegt vor allem an der politischen Kultur in den USA: Wenn ein amtierender Präsident sagt, er will noch mal, baut seine Partei keine Gegenkandidaten auf. Selbst wenn der Präsident über 80 ist…

    *Trump ist auch zu alt, aber gestern wirkte er fitter.

  2. ChatGPT schlägt vor, den Satz »Aber das größere Problem war, dass Joe Biden so schlecht war, ihnen etwas entgegenzusetzen.« in »Das größere Problem war jedoch, dass Joe Biden es nicht gut geschafft hat, ihnen etwas entgegenzusetzen.« Ich schließe mich an, würde aber noch das gut streichen.

  3. Da steht in der Mitte des Textes dies: „ Aber es ist auch wichtig, es beim Kampf gegen die Übertreibungen nicht nicht zu übertreiben“. Ist dieser Satz mit einer doppelten Verneinung („nicht nicht“) so gemeint?

  4. Hat da jemand „Narrativ“ gesagt?
    Monothematisches Denken. Das Übel des dritten Milleniums.

    Und jetzt bitte mal konkret:

    Wer hatte jetzt nach den Demos in HH in der „Mainstreampresse“ den „politischen Islam“ verteidigt und die Gegner zu Rassisten gestempelt?

    Bekomme ich andere Ausgaben der Medien?

    Mittlerweile sollen Afghanen an die Taliban ausgeliefert werden (so auch von Habeck zu vernehmen ), was dann wohl bedeutet, dass wir Zugeständnisse an den politischen Islam in persona machen wollen und komplett auf die Mindeststandards des Völkerrechts verzichten.

    Aber klar, es wird sich in diesem Land vor dem politischen Islam verbeugt (no Sir, das machen wir in Afghanistan dann ).

    Das wiederum ist das „Narrativ“ derjenigen, die aus jedem Muslim einen politischen Islamisten machen wollen.
    Blütenrein und, weil es eine mächtige „self fullfilling prophecy“ ist, in einigen Ländern schon sehr erfolgreich.
    Frage:
    Was radikalisiert mehr?
    Ein Prediger oder die Stigmatisierung und Benachteiligung von Kindesbeinen an?

    Ich denke, es gibt da noch keine validen Studien, aber dass dies eine erklärte Strategie der Al Quaida für u.a. Westeuropa war/ist, ist bewiesen.
    „Sharpening the contradiction“, um die sekularen Muslime im Westen zu radikalisieren.

    Also zurück zum Thema: Ich verfolge John Stewart, auf Youtube, seit er wieder die Daily Show übernommen hat. Er läßt sich auch von Gegenwind kein Stück beeindrucken und hat Bidens Zustand von Anfang an schonungslos beschrieben.
    Was tatsächlich problematisch ist, ist die Tatsache, dass wir den Kulturkriegen von ganz Rechts nichts entgegen zu setzen haben.
    Es ist reine Hilflosigkeit, die sich da offenbart.
    Es gibt einen Teil der Medien, die sich der rechten Propagandamaschine verschrieben haben, es gibt einen Teil, der es wunderbar findet, dass man mit diesen Kampagnen und den Reaktionen darauf, sicheres Geld verdienen kann ( Trump ist ein Medien Star, sicherer Umsatz Garant, egal worum es gerade geht. Ebenso kann man bei uns derzeit mit Habeck und Baerbock Diss Auflage machen ), und es gibt einen weiteren Teil, der permanent vor lose-lose Situationen steht und traumwandlerisch ins Klo greift.
    Als hätte man das Wort Propaganda zum ersten Mal gehört.

    Es ist nun einmal ein Fakt, dass es eigentlich egal ist, was der Gegenspieler zu einem Kampagnenthema erwidert. Es befördert die Kampagne und stärkt sie enorm.

  5. „… um im Alter von 82 Jahren eine weitere Präsidentschaftswahl zu gewinnen …“

    Gewinnen müsste er sie mit 81, antreten würde er sie dann wohl mit 82.

  6. Grundsätzlich stimme ich dem Text zu, was den Fall Biden anbelangt und sicher auch viele andere mehr.

    Zu oft wird deutlich, dass gerade große Medienhäuser bei der Gewichtung und Einordnung von Themen keinem journalistischen Kompass folgen, der ungeachtet des Außendrucks nach Norden zeigt, sondern sich – insbesondere auch bei Kritik an ihrer Arbeit aus bestimmten politischen Lagern – zu ständig eskalierenden Kompensationen und Überkompensationen tatsächlicher oder vermeintlicher Stimmungslagen hinreißen lassen, um einen Anschein von Neutralität oder, schlimmer noch, „Ausgewogenheit“ zu wahren. (Vgl. auch die „Meinung“ des Editorial Board der NYT von heute, Biden müsse seine Kandidatur nun zurückziehen.)

    Zwei Einwände allerdings: Erstens habe ich Schwierigkeiten, Medien wie die NYT oder auch Bidens Administration als „linksliberal“ einzuordnen. Sicher gibt es diese Strömung dort, und sicher schlägt sie sich auch regelmäßig in entsprechenden Beiträgen bzw. entsprechendem Regierungshandeln nieder, aber dabei handelt es sich eher um Zugeständnisse als um überzeugten Linksliberalismus.

    Und richtig übel finde ich, zweitens, den letzten Absatz des Texts, in dem das rechte Geraune vom „Verschweigen“ und „Herunterspielen“ aufgegriffen und legitimiert wird, gerade auch im Zusammenhang mit der erwähnten Kriminalität. Als wäre es nicht inzwischen längst wieder Standard bei vielen Medien, die Nationalität von Tatverdächtigen zu nennen, selbst wenn diese nicht das Geringste mit den betreffenden Vorfällen zu tun hat. Und als wäre auf Druck von Rechts diesbezüglich nicht bereits vor Jahren der Pressekodex aufgeweicht worden, um genau das zu erleichtern, obwohl er zuvor aus gutem Grund viel deutlicher davon abgeraten hatte.

  7. Tja – und was machen wir jetzt mit dieser Problematik? Wie man es dreht und wendet – man bekommt das Problem nicht aus der Welt. Wie die Fata Morgana – entweder man weiß, in welcher Situation man ist und erkennt, dass es eine Fata Morgana ist – oder eben nicht und dann biegt man falsch ab.
    – und am Beitrag wird das Dilemma auch wieder offensichtlich: man bekommt die Wirklichkeit nicht in 5 Sätzen beschrieben – und was darüber hinaus geht will der medial getriebene Mensch nicht mehr lesen, geschweige denn darüber reflektieren.

  8. In den US-amerikanischen Medien ist zu lesen, dass Biden eine Erkältung zum Zeitpunkt der Debatte hatte. Was durchaus etwas Ernsteres gewesen sein könnte und der Elefant in diesem Raum ist: Covid.
    Mit Gaslighting liegt der Text also gar nicht falsch. Wir alle wurden die letzten zwei, drei Jahre gegaslighted was die Gefährlichkeit dieses brain damaging virus angeht und inzwischen kennt doch sicher jede*r Menschen in seinem Umfeld mit Long Covid oder Schlimmerem.
    Also ja, es gibt eine Leerstelle, die der Journalismus (auch gegen die Regierung, wenn nötig), zu füllen hat: Wie hat sich SARS-CoV-2 weiterentwickelt und welchen Schaden richtet es bei uns noch immer an? Es gibt eine überwältigende Evidenz wissenschaftlicher Studien, die Zusammenfassungen kann man sich durchlesen und sind auch für Laien verständlich.
    Der Stand des Wissens ist längst nicht mehr derselbe wie 2022, doch habe ich das Gefühl der deutschsprachige
    Journalismus ist beim Thema Covid da stehengeblieben.
    Ich kann nicht verstehen, dass man im Journalismus da nicht mehr Selbstachtung hat und präziser arbeitet, zumal auch viele innerhalb dieser Berufsgruppe an den Folgen von Covid-Infektionen leiden. Ein paar Wissenschaftsjournalist*innen wird es doch noch geben, die diese Aufgabe hervorragend ausfüllen könnten.

    I ´m sorry for Biden, aber wenn es Covid war, was ihn innerhalb dieser Jahre so stark verändert hat (es wäre seine 3. Infektion), ist er Opfer seiner eigenen kalten herzlosen Covid policy geworden.
    Tragisch, weil davon wiederum nur Trump profitieren wird.

  9. Im vergangenen Februar gab es hier auf Übermedien eine Kolumne der geschätzten (und vermissten) Samira El Ouassil (https://uebermedien.de/92400/berichterstattung-ueber-us-wahlkampf-er-ist-doch-nur-ein-alter-mann/), mit dem ich für El-Ouassil-Verhältnisse ziemlich wenig einverstanden war: Da wurde viel mit dem Alter der beiden Kandidaten argumentiert. Und ich habe mich damals schon gefragt: Wieso ist denn das Alter das Problem, das diskutiert werden sollte? Manche Menschen sind alt und zeigen Symptome von Demenz, manche Menschen sind alt und zeigen keine solchen Symptome. Zugegeben, das Alter erhöht die Wahrscheinlichkeit von Demenzerkrankungen, aber das sollte uns nicht dazu verleiten, alle alten Menschen unter Generalverdacht zu stellen. Auch Konrad Adenauer war ein sehr alter Regierungschef, und unabhängig davon, ob man seine Politik schätzte oder nicht schätzte, war er wohl unter anderem für ein hohes Amt in hohem Alter noch geeignet, weil er nicht an Demenz erkrankt war. Und umgekehrt: Wenn jemand, was selten vorkommt, aber möglich ist, schon in seinen 50er Jahren an Demenz erkrankte und dennoch ein politisches Amt anstreben würde: Würden wir diese Person dann für eine geeignete Kandidatin halten, weil sie ja offensichtlich jung genug ist?
    Mich wundert also schon das ganze Jahr über, wieso eine Diskussion über das Alter von Biden und Trump geführt wird, während das Problem doch eigentlich ein anderes ist. Bidens Kandidatur zu rechtfertigen mit dem Hinweis, dass Trump ja fast genauso alt ist, ist das nicht auch ein bisschen Gaslighting, welches davon ablenkt, dass Trump – so ekelhaft man ihn in vieler Hinsicht finden mag -, zumindest keine Symptome von Demenz zeigt?

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