In dieser Rubrik geben wir Autorinnen und Autoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder falsch eingesetzt wird – die aber ständig auftaucht, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Alle Hasswörter finden Sie hier.
Streit
„Chinesische KP diskutiert Überwachung von Bürgern“
„Russisches Kabinett streitet über Kriegsziele“
„Nordkoreanische Regierung debattiert Einsatz von Atombombe“
Schlagzeilen, die wir nie gelesen haben. Kein Wunder, weder in China noch in Russland oder Nordkorea gibt es öffentliche Diskussionen über relevante politische Themen. Diktaturen und autoritäre Systeme unterbinden solche Debatten systematisch, bis sie gar nicht mehr aufkommen.
Zum Wesen der Demokratie dagegen gehört die politische Auseinandersetzung. Und zwar über fast jedes Thema. Leider erwecken viele Journalistinnen und Journalisten den Eindruck, dass politische Debatten etwas Schlechtes sind. In ihren Artikeln wird selten deutlich, dass hier die Gesellschaft etwas aushandelt, dass verschiedene Interessen und Standpunkte gegeneinander abgewogen werden, dass Bedürfnisse von Minderheiten berücksichtigt werden, dass positive und negative Effekte politischer Entscheidungen antizipiert werden. Stattdessen tun sie mit Themensetzung und Wortwahl oft so, als ginge in der Politik Ungeheuerliches vor sich:
„Ampelkoalition streitet weiter über Haushalt“(Deutschlandfunk)
„Ampel streitet über Lieferketten“ („Badische Zeitung“)
„Ampelkoalitionäre streiten über Pflichtversicherung für Hochwasserschäden“ („Spiegel“)
Natürlich: die Ampel. Wenn über Debatten in der Politik berichtet wird, geht es derzeit selten um einen Schlagabtausch zwischen Regierungskoalition und Opposition, sondern oft um Auseinandersetzungen innerhalb der rot-grün-gelben Regierung. Und ich will gar nicht abstreiten, dass in dieser Regierung und dieser Koalition mehr diskutiert wird als in vorhergehenden. Das ist allerdings auch nicht verwunderlich: Das Wahlergebnis hat die ungewöhnliche lagerübergreifende Dreiparteienkoalition erzwungen, da waren größere politische Differenzen zu erwarten. Sie wurden nur anfangs von Aufbruchstimmung, Geschlossenheit angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und die Notwendigkeit einer schnellen Energiewende übertüncht.
Ständig droht neuer Streit
Wenn Journalisten über diese Regierung schreiben, geht es jedenfalls kaum noch ohne den Begriff Streit. Und wenn der mal nicht da ist, schreiben sie ihn herbei:
„Mehr Schutz vor Terroranschlägen – der Ampel droht neuer Streit“ („Handelsblatt“)
„Rente oder Rüstung: Bundesregierung droht nächster Haushalts-Streit“ („Ruhr24“)
„Streit ums Kindergeld: Warum ein neuer Streit in der Ampel droht“ („Neue Westfälische“)
Alles aber auf den Begriff Streit zu verkürzen, blendet aus, dass es durchaus Sachargumente gibt. Wenn es um die Frage geht, wie viel die Kindergrundsicherung kosten soll, ist das eine Auseinandersetzung über Haushalt und Steuern. Wenn es um ein Tempolimit geht, ist das eine Diskussion über Sicherheit und Klimaschutz. Wenn es um die Legalisierung von Cannabis geht, ist das eine Debatte über Gesundheit und Kriminalität.
Der Autor
Stefan Fries arbeitet vor allem als Medienjournalist beim Deutschlandfunk und als freier Nachrichtenredakteur beim WDR. Dort versucht er, das Wort „Streit“ zu vermeiden. Vorher war er Kulturjournalist bei SWR und HR, wo er auch volontiert hat. Studiert hat er Politikwissenschaft in Münster.
Indem Medien all das als Streit darstellen, setzen sie natürlich darauf, dass ein Konflikt mehr Aufmerksamkeit, Klicks und Reichweite hervorruft als Sachlichkeit – oder gar Harmonie. Und zugegeben, lange habe auch ich eher auf krawallige Überschriften geklickt als auf die sachlichen. Aber der Effekt nutzt sich natürlich ab. Neulich stellten RTL und ntv in einer Umfrage fest, dass 59 Prozent der Bundesbürger von den „andauernden Streitigkeiten“ so genervt seien, „dass sie gar nicht mehr so genau hinhören, worüber genau gestritten wird.“
Dass das Ergebnis nicht allein mit der Politik der Ampel-Koalition zu tun hat, sondern womöglich auch mit der Berichterstattung darüber, wurde in der (ohnehin tendenziösen) Fragestellung vielleicht bewusst nicht thematisiert.
Mittlerweile fürchte ich, dass diese Art der Berichterstattung der Demokratie schadet. Denn wenn Journalistinnen und Journalisten andauernd leichtfertig von Streit sprechen und schreiben, blähen sie notwendige politische Auseinandersetzungen unnötig auf. Dass sie damit der Opposition Schützenhilfe leisten, ist das geringste Problem. Mit ihrer Berichterstattung sorgen sie dafür, dass in der Öffentlichkeit ein bestimmter Eindruck von Politik generell entsteht. Eine sachorientierte Berichterstattung, die auf die Argumente beider Seiten eingeht, anstatt lediglich den Konflikt als solches hervorzuheben, dient nicht nur der Information, sondern auch der Demokratie.
„Wildsau“ und „Gurkentruppe“ sind keine Argumente
Natürlich gibt es auch richtigen Streit in der Politik – oder zumindest den Versuch, einen anzuzetteln. Wenn die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann Bundeskanzler Olaf Scholz „autistische Züge“ unterstellt, ist das keine politische Diskussion. Wenn Sahra Wagenknecht die Ampel als „dümmste Regierung Europas“ bezeichnet, ist das kein politisches Argument. Solange aber die Gegenseite den Fehdehandschuh nicht aufnimmt, bleibt es bei Pöbeleien und wird nicht zum Streit. Als sich allerdings FDP und CSU in ihrer Koalition 2010 gegenseitig als „Wildsau“ und „Gurkentruppe“ beschimpften, war das kein demokratischer Austausch mehr – sondern: Streit. Und in dem Fall dürfen Medien den auch so nennen, auch wenn sie sich darüber klar sein sollten, dass sie hier werten.
Denn während der Begriff Diskussion nach einer sachlichen Debatte klingt, wirkt Streit anders: persönlich, emotional, irrational, vielleicht sogar gewalttätig und gefährlich. Und so, wie Medien ihn gerne sonst noch verwenden:
„Massenschlägerei in Gelsenkirchen: Streit zwischen zwei Familien eskalierte“ („Dorstener Zeitung“)
„Blutiger Streit an Schule bei Hamburg: Kind mit Messer schwer verletzt!“ („Hamburger Morgenpost“)
„Wachmann stirbt nach Streit in Asylunterkunft“ („Süddeutsche Zeitung“)
Und zur Massenschlägerei, zu Blutvergießen und Tod ist es in der Regierung zum Glück noch nicht gekommen.
Danke – ich stimme vollumfänglich zu. Nervt, Hype, rückt demokratische Gepflogenheiten in ein schlechtes Licht.
Überall in der Arbeitswelt gibt es Sachdiskussionen und unterschiedliche Auffassungen. Die professionelle Politik, vor allem natürlich in Regierung und Bundestag, hat halt das Pech, in der medialen Aufmerksamkeit zu stehen. Sonst gäbe es auch solche Schlagzeilen:
„UnternehmenX streitet sich über Schwerpunkt beim Messeauftritt“
„Streit um Ausbildungsbudget in KrankenhausY“
„Gesellschafter-Konferenz bei Z: Es droht neuer Streit“
„Neues Produkt: Streit um Design“
usw.
Danke! Die inflationäre Verwendung des Begriffs „Streit“ anstelle von „Debatte“ oder „Diskussion“ nervt mich bereits seit langem. Leider auch in den Nachrichten des DLF immer wieder zu hören.
Endlich sagt es mal einer!
„Streit“ hat nur fünf Buchstaben und passt in jede Überschrift. „Ampel“ übrigens auch. Das verlockt, wenn man nicht groß nachdenken will. Sage ich, bin selbst Journalist.
Streit hat sechs Buchstaben, sorry
Nach dem „Streit“ kommt dann gleich die „Spaltung“. Auch so ein Modewort des gegenwärtigen Journalismus. Jeder Streit, über welche Themen auch immer, spaltet angeblich dann gleich die Gesellschaft. Und die „Demokratie ist dann auch gleich gefährdet“…..
Ich frage mich immer öfter welche „Demokratieschule“ so mancher Journalist eigentlich durchlaufen hat….
Sie sprechen mir aus der Seele! Für mich ist das „Framing“, nichts anderes.
Schön. Schade, dass die Zeit. mit ihrem „Streit-Ressort“ hier ungerupft davonkommt.