Für Julian Reichelt muss es eine herbe Enttäuschung gewesen sein: Doch kein Gewaltexzess beim EM-Spiel Serbien gegen England, das am Sonntag in Gelsenkirchen ausgetragen wurde und als Hochrisiko-Partie galt.
Eine „überwiegend friedliche Atmosphäre im gesamten Stadtgebiet“ meldete die Polizei danach, der Tag sei „nahezu reibungslos verlaufen“. Von rund 50.000 Gästen seien maximal 150 in einen Konflikt verwickelt gewesen, also 0,3 Prozent, sagte der leitende Polizeidirektor. Und stellte klar: Ein einzelner größerer Konflikt, von dem Videos in sozialen Medien kursierten, sei „nicht das dominierende Ereignis“ gewesen.
Die Wirklichkeit weigerte sich also hartnäckig, sich den Katastrophenfantasien von Julian Reichelt anzupassen, dem früheren „Bild“- und heutigen „Nius“-Chefredakteur. Denn der hatte noch am Samstag auf X orakelt:
„Es wird die blutigste EM aller Zeiten.“
Albaner? Welche Albaner?
Um das zu belegen, kam ihm am Sonntag eines der vom Polizeidirektor erwähnten Videos in sozialen Medien gerade recht, das er als „schwere Ausschreitungen in Gelsenkirchen“ dramatisierte. Zu sehen sind eine Straße, umgeworfene Stühle, wenige mutmaßliche Fußballfans und ein paar Polizeikräfte, die einen Mann festhalten und weitere davon abhalten, sich zu prügeln. Im Hintergrund wirft ein Mann einen Stuhl über die Straße.
Was dort genau und warum überhaupt geschehen war, das war auch in anderen Videos nicht gleich ersichtlich. Julian Reichelt wusste aber trotzdem erstaunlich schnell, wer schuld war: die Albaner! „Vermummte Albaner greifen England-Fans und Serben an“, schrieb er in seinem Post zu dem Video, in dem keine einzige vermummte Person zu sehen ist.
Andere Medien berichteten ebenfalls von „Ausschreitungen“ in Gelsenkirchen. Laut „Tagesschau“ habe es auch verletzte Fans gegeben, gegen elf mutmaßliche Straftäter wird nun ermittelt. Besonders „schwer“ sind die Ausschreitungen dennoch nicht: In Berlin beispielsweise gab es im Mai bei einem Regionalligaspiel ebenfalls „Ausschreitungen“, dort allerdings mit 74 vorübergehenden Festnahmen und 155 verletzten Polizeikräften.
Ein paar Minuten später musste Reichelt zugeben, dass „möglicherweise“ doch keine „Albaner“ beteiligt gewesen seien. Dass er einen Fehler gemacht hatte, räumte er nicht ein, schob die Schuld stattdessen, wie so oft, der Innenministerin zu, denn:
„Nancy Faesers Deutschland ist unübersichtlich geworden“.
„Ausschreitungen im ganzen Land“? Nein.
In den Tagen zuvor hatte sich Reichelt bereits alle Mühe gegeben, das EM-Geschehen übersichtlich in zwei seiner Lieblingserzählungen einzubetten: Dass die Regierung (Nancy Faeser!) jede Kontrolle über die Sicherheit im Land verloren habe. Und dass vor allem eingewanderte Menschen gefährlich seien.
Weil die ersten Tage der EM aber ziemlich friedlich verliefen, musste Reichelt bei X gleich die größeren Geschütze auffahren und am Sonntag „Schüsse, Tote, Messergewalt, schwere Ausschreitungen im ganzen Land“ einfach behaupten. Um eilig zu urteilen, „schon nach 48 Stunden“ sei von Nancy Faesers „‚Sicherheitskonzept‘ für die EM (…) nicht mehr viel übrig“. Er verbreitete ein maximal eskalierendes „Nius“-Sharepic mit der Schlagzeile:
„EM-Gewalt außer Kontrolle!“
Wer sich die vermeintlichen Belege für diese Behauptung anschaut, stellt allerdings fest: Die meisten Fälle haben gar nichts mit Fußball zu tun – und sind zum Teil auch nicht „blutig“.
Axt, Spitzhacke … ein Schieferhammer
Als Fall von „blutiger EM-Gewalt im ganzen Land“ nannte Reichelt zum Beispiel die Tat eines „Axt-Angreifers“ auf der Hamburger Reeperbahn am Sonntag. (Aus dessen „Axt“ im nächsten Tweet wundersamerweise eine „Spitzhacke“ wurde; laut Polizei handelte es sich um einen „Schieferhammer“). Damit der Vorfall ins EM-Narrativ passt, verortete Reichelt ihn beim „Fan-Marsch der Holländer“, deren Nationalmannschaft am Sonntag gegen Polen spielte.
Die zuständige Oberstaatsanwältin sagte dem NDR später, es gebe „keinen Zusammenhang zur organisierten Fußballgewalt“ und der Fan-Marsch sei bereits vorbei gewesen, als sich der Angriff ereignete. Und auch blutig war der Fall im Sinne Reichelts nicht: Der Mann, der der Polizei zufolge mutmaßlich psychisch krank ist, hatte Passanten bedroht, war dann aber niedergeschossen worden. Verletzte habe es – abgesehen von dem Mann selbst – keine gegeben.
Axt oder Hammer, während oder nach dem „Fan-Marsch“, blutig oder nicht – für Reichelt offenbar kein großer Unterschied.
Dass dahinter System steckt, zeigt ein „Nius“-Artikel, den Reichelt am Samstag teilte und der angeblich eine „blutige Bilanz der ersten EM-Nacht“ zieht. Acht Vorfälle in acht Städten sind dort gelistet; nur zwei dieser Städte sind Austragungsorte der EM. Irgendwer bei „Nius“ muss einigen Aufwand betrieben haben, um deutschlandweit irgendwelche Polizeimeldungen zu finden, die mit Blut und Fußball zu tun haben. (Spoiler: Die meisten Vorfälle erfüllen diese beiden Kriterien nicht.)
Schlägereien ohne Fußball-Bezug
In Berlin-Moabit zum Beispiel wurde ein Mann angeschossen und schwerverletzt, während in Dortmund gerade Italien gegen Albanien spielte. „Laut Zeugenaussagen“, schrieb „Nius“, könnte es einen „Konflikt aufgrund des Fußballspiels“ gegeben haben. Obwohl ein Polizeisprecher gegenüber dem rbb dementierte:
„Zum jetzigen Zeitpunkt liegen uns überhaupt keinerlei Erkenntnisse vor, dass es einen Zusammenhang mit der EM oder irgendeinem anderen Sport gibt.“
Eine Polizeimeldung aus Ulm landete ebenfalls in der Auflistung: Einem Mann sollen am Hauptbahnhof Bier und Handy geraubt worden sein, verletzt wurde niemand. Keine „blutige Gewalt“, kein Fußball. Aber dass die Täter laut Polizei „Nordafrikaner“ gewesen sein sollen, was eine maximal ungenaue Bezeichnung ist – das passte wohl wiederum ins Narrativ von Reichelts „Nius“.
Auch drei Schlägereien finden sich in dem Artikel, unter anderem in Bad Saulgau, in Pirmasens und in Zweibrücken – alle ohne bisher bekannten EM- oder Fußball-Bezug und mit Verletzungen im Kaliber von Schürf-, Platz- und Schnittwunden. Eine weitere Massenschlägerei in Frankfurt fand immerhin auf dem Gelände eines Fußballvereins statt. Dabei wurde ein Mann erstochen. Um EM-Gewalt handelte es sich wohl auch hier nicht.
Wie offenbar auch bei einem Fall in Ingolstadt. Am Samstagnachmittag wurde dort in einem Park ein 24-jähriger Afghane mit einem Messer schwer verletzt – schon allein zeitlich kein Ereignis aus „der ersten EM-Nacht“. Die Nationalität des Opfers verschweigt „Nius“, nicht aber, dass es sich bei dem „Täter“ ebenfalls um einen Afghanen handeln sollte. Der Verdächtige ist inzwischen wieder auf freiem Fuß, weil unklar ist, wie genau die Tat abgelaufen ist und wohl mehr Personen involviert waren. Die Polizei prüft auch, ob jemand möglicherweise aus Notwehr zugestochen hat.
Reichelt weiß nichts. Nichts über den Täter, nichts Genaues über die Tat. Aber er weiß gleich, wie es dazu kommen konnte und hetzt auf X:
„Was passiert, wenn man aus der Steinzeit unkontrolliert nach Deutschland einreisen kann.“
Im weiteren Sinne mit der EM zu tun hatte lediglich ein ebenfalls aufgelisteter tödlicher Messerangriff in Wolmirstadt, wo ein 27-Jähriger bei einer privaten EM-Party zwei Menschen schwer und eine weitere Person leicht verletzt haben soll, bevor er von der Polizei erschossen wurde. „Vor dem Angriff soll er bereits einen Mann in einer Plattenbausiedlung getötet haben“, heißt es bei „Nius“. Auch hier fehlt die Info, dass es sich laut Polizei bei dem Getöteten um einen Landsmann des mutmaßlichen Täters, einen Afghanen, handelte.
Gegen „Vielfalt“
So bleiben am Ende genau zwei Fälle, die als Belege für „blutige Gewalt in der EM-Nacht“ herhalten könnten – und das, obwohl „Nius“ angeblich nur „die schwersten Gewaltfälle“ und „die Spitze des Eisbergs“ dokumentiert hat. Keiner der Fälle fand auf Fan-Meilen, in Fußballstadien oder beim Public Viewing statt – ein einziger bei einer privaten EM-Party. Auch um Hooligans ging es nirgends. Aber für Reichelt reicht das für seine „Prognose“, es werde die „blutigste EM aller Zeiten“.
Auch ein zweiter Text auf „Nius“, den Reichelt am Montag teilte, sollte irgendwie belegen, dass die „EM-Gewalt außer Kontrolle“ sei. Er listete weitere Vorkommnisse auf, unter anderem den rassistischen Vorfall in Grevesmühlen, der nach aktuellem Stand ebenfalls nichts mit der EM zu tun hat.
Womöglich ist nicht „die EM-Gewalt“ außer Kontrolle, sondern einfach Julian Reichelt?
Schon beim Eröffnungsspiel hatte er sich sehr aufgeregt, weil der ZDF-Kommentator vor der Nationalhymne von „Einigkeit und Recht und Freiheit – und vor allem Vielfalt“ gesprochen hatte. „Vielfalt“ ist für Julian Reichelt ein „linker Kampfbegriff“, er schrieb ernsthaft auf X:
„In jedem anderen Land würde der Typ kein Spiel mehr kommentieren.“
Sein Märchen von der „blutigen EM“ findet Anklang, nicht nur auf X, auch beim rechtsextremen, AfD-nahen Magazin „Compact“. In seinem Newsletter übernahm das Blatt am Dienstag, was Reichelt sich mühte heraufzubeschwören. Die Gewalt bei der EM explodiere, hieß es auch dort:
„Noch nie gab es rund um die Spiele so viel Gewalt, so viele schwere Übergriffe, so viele Attacken mit Waffen! Von Wolmirstedt über Hamburg nach Ingolstadt führt die Blutspur.“
Polizei zeichnet anderes Bild
Dieses Horrorszenario widerspricht den Polizeimeldungen aus allen deutschen Städten, in denen bisher EM-Partien ausgetragen wurden. Es ist von Körperverletzungen die Rede, auch von illegal gezündeter Pyrotechnik, volksverhetzenden Parolen, verbotenen Drohnenflügen und anderen kleineren Delikten oder Auseinandersetzungen zwischen Fangruppen. Das Fazit aber lautete:
in Berlin: „Besondere Vorkommnisse fanden nicht statt.“
Am Ende geht es um Angst, Wut, Hetze
Nun sind auch Polizeimeldungen nicht immer richtig und auch nicht vollkommen neutral; Behörden haben auch ein Interesse daran, dort darzustellen, wie erfolgreich sie für einen friedlichen EM-Verlauf sorgen. Aber: In Deutschland kommt es täglich zu Gewaltverbrechen – auch während einer Fußball-EM. Mit schwerer „EM-Gewalt“ hat das nichts zu tun. Reichelt und „Nius“ ignorieren das komplett. Ihnen geht es darum, Angst zu machen und Wut zu schüren: auf die Politik und die Ausländer.
Die Autorin
Annika Schneider ist Redakteurin bei Übermedien. Sie hat als freie Autorin, Moderatorin und Redakteurin unter anderem für „Mediasres“ (Deutschlandfunk) und das „Altpapier“ (MDR) gearbeitet, außerdem für das Medienmagazin des WDR. Sie hat Journalistik und Politikwissenschaft in Eichstätt und Erlangen studiert und ihr journalistisches Handwerk im Lokalen gelernt.
10 Kommentare
Wieso dürfen die Leute von Nius an der Bundespressekonferenz teilnehmen? Weil Reichelt mal bei der Bild war?
Dass sogar das „Kaff“ Bad Saulgau herhalten muss für irgendeine herbeifantasierte deutschlandweite EM-Gewalt, sagt schon alles.
Kleiner Typo ausgerechnet im Zitat, was damit also kein Zitat mehr ist ;) „Das“ und „Was“ laut Screenshot.
Schade, dass die Konsumenten von Nius diesen Artikel auf Übermedien nicht lesen werden bzw. wenn doch, ihm keinen Glauben schenken werden.
Ich wüsste zu gerne, ob Julian Reichelt sich radikalisiert hat und seine eigene Propaganda selbst glaubt, oder ob das für ihn einfach nur ein Geschäftsmodell ist mit einer Zielgruppe, die sich leicht aufstacheln und an der Nase herumführen lässt. So oder so, beides spricht nicht für ihn.
Zu #3 Danke, ist korrigiert!
Das ist immer so süß verzweifelt märchenhaft, wie die neuen rechten Medienmacher insinuieren, dass die rechtsradikale Meinung, die sie vertreten (Profitgier und Ideologie schließen sich ja nicht gegenseitig aus) eine Mehrheitsmeinung sei.
Natürlich hat die Autorin recht und Julian Reichelt ist ein rechtsradikaler Hetzer, der sich irgendeinen Mist zusammen schreibt. Dennoch ist es zuwenig, wenn sich die Autorin immer nur auf Polizeiberichte verlässt, um Reichelts Quatsch zu demaskieren. Auch der kleine Absatz, auch die Polizei sei Partei, ist nicht genau genug. Denn was weder Reichelt noch die Autorin offenbar wissen: Nach dem Spiel haben englische Medien und ein englischer Fanverband der Polizei massive Vorwürfe wegen völlig überzogener Gewalt gemacht. Stimmt das, ist es in Gelsenkirchen tatsächlich sehr hoch her gegangen. Soviel Recherche hätte dem Text doch gut getan. Einen Link spare ich mir, der findet sich sehr leicht im Netz. Auch für Übermedien.
#4: Vermutlich ist sein – Achtung, schlechtes Wortspiel! – ‚Bild‘ von der ‚Welt‘ mittlerweile derart, dass er jetzt selbst diese beiden Publikationen zu wachsweich-woke findet… also: stärkeres Gebräu vonnöten.
@7: Nicht so schüchtern, zeigen Sie mal die „massiven Vorwürfe“ „englischer Medien“. Die Links sind doch angeblich super einfach zu finden, ich fand‘ keinen einzigen.
Wieso dürfen die Leute von Nius an der Bundespressekonferenz teilnehmen? Weil Reichelt mal bei der Bild war?
Dass sogar das „Kaff“ Bad Saulgau herhalten muss für irgendeine herbeifantasierte deutschlandweite EM-Gewalt, sagt schon alles.
Kleiner Typo ausgerechnet im Zitat, was damit also kein Zitat mehr ist ;) „Das“ und „Was“ laut Screenshot.
Schade, dass die Konsumenten von Nius diesen Artikel auf Übermedien nicht lesen werden bzw. wenn doch, ihm keinen Glauben schenken werden.
Ich wüsste zu gerne, ob Julian Reichelt sich radikalisiert hat und seine eigene Propaganda selbst glaubt, oder ob das für ihn einfach nur ein Geschäftsmodell ist mit einer Zielgruppe, die sich leicht aufstacheln und an der Nase herumführen lässt. So oder so, beides spricht nicht für ihn.
Zu #3 Danke, ist korrigiert!
Das ist immer so süß verzweifelt märchenhaft, wie die neuen rechten Medienmacher insinuieren, dass die rechtsradikale Meinung, die sie vertreten (Profitgier und Ideologie schließen sich ja nicht gegenseitig aus) eine Mehrheitsmeinung sei.
Natürlich hat die Autorin recht und Julian Reichelt ist ein rechtsradikaler Hetzer, der sich irgendeinen Mist zusammen schreibt. Dennoch ist es zuwenig, wenn sich die Autorin immer nur auf Polizeiberichte verlässt, um Reichelts Quatsch zu demaskieren. Auch der kleine Absatz, auch die Polizei sei Partei, ist nicht genau genug. Denn was weder Reichelt noch die Autorin offenbar wissen: Nach dem Spiel haben englische Medien und ein englischer Fanverband der Polizei massive Vorwürfe wegen völlig überzogener Gewalt gemacht. Stimmt das, ist es in Gelsenkirchen tatsächlich sehr hoch her gegangen. Soviel Recherche hätte dem Text doch gut getan. Einen Link spare ich mir, der findet sich sehr leicht im Netz. Auch für Übermedien.
#4: Vermutlich ist sein – Achtung, schlechtes Wortspiel! – ‚Bild‘ von der ‚Welt‘ mittlerweile derart, dass er jetzt selbst diese beiden Publikationen zu wachsweich-woke findet… also: stärkeres Gebräu vonnöten.
@7: Nicht so schüchtern, zeigen Sie mal die „massiven Vorwürfe“ „englischer Medien“. Die Links sind doch angeblich super einfach zu finden, ich fand‘ keinen einzigen.
Selten so gelacht.