Hasswort (44)

Pulverfass Nahost

Deutschland ist in einer gefährlichen Lage. Das Land befindet sich in einem Stellvertreterkrieg mit einer Atommacht, die mit einem nuklearen Angriff droht. Derweil sind ausländische Spionage und Cyberangriffe an der Tagesordnung, mit dem Ziel, Deutschland zu destabilisieren.

Innenpolitisch ist die Lage nicht weniger explosiv: Eine in Teilen extremistische Partei, die Deportationen plant und die Demokratie abschaffen will, sitzt in den Parlamenten und steht kurz davor, auf Landesebene die Macht zu ergreifen. Politiker:innen werden bedroht und angegriffen, Journalist:innen eingeschüchtert. Eine mutmaßlich rechtsextreme Terrorgruppe um einen deutschen Adeligen hat sich massenweise Munition und Waffen beschafft, um Politiker:innen zu entführen und zu töten und die Macht im Staate an sich zu reißen. Pulverfass Deutschland.

Die Menschen im „Nahen Osten“ würden sich wundern

Klingt übertrieben? Möglicherweise. Ist aber faktisch richtig, wenn auch überzeichnet. Denn wenn wir eine Situation beschreiben, tun wir das nicht nur mit Fakten, sondern auch mit Narrativen. Diese meist unbewussten Erzählungen, die jeder von uns im Kopf hat, werden in die Sprache projiziert, die wir benutzen.

Oft entsprechen Narrative Vorurteilen, falschen Ideen über Menschen, Situationen, Regionen. Deswegen ist man diese Art der Berichterstattung über Deutschland, das als stabil und krisenfest gilt, nicht unbedingt gewöhnt. Dass aber über andere Regionen der Welt mit derartigen Projektionen geschrieben wird, ist völlig normal. Zum Beispiel über den sogenannten Nahen Osten. Wenn Menschen aus dieser Region lesen würden, wie hierzulande über ihre Heimat und ihren Alltag berichtet wird, würden sie sich wohl mindestens wundern. Als verbrächten sie jede Sekunde ihres Lebens am Rande des Abgrunds. Auf einem Pulverfass eben.

Ein Pulverfass ist ein Fass, in dem Schießpulver aufbewahrt wird; also nicht gerade ein Alltagsbegriff im 21. Jahrhundert. Der Begriff wird deswegen fast nur noch benutzt, wenn man explosive Situationen beschrieben möchte. Das Pulverfass wird in Deutschland allerdings nur in Bezug auf bestimmte Regionen der Welt verwendet; das liegt daran, dass die Menschen in diesen Regionen in der deutschen Berichterstattung entweder gar keine Rolle spielen oder wenn, dann nur als Leidende, als Bemitleidenswerte, als Objekte.

Auch dort wird geschimpft, geträumt, gelacht

Dass Menschen nicht jeden Morgen mit dem Gedanken aufwachen „mein Land wird von einem Diktator regiert“, sondern wahrscheinlich eher mit der Frage, ob das Kind noch hustet, bekommt man hier nicht mit. Sie werden stets als „anders“ dargestellt, als würde Leid einfach zu ihrem Leben dazugehören, schlimm, schlimm. Aber wenn dem so wäre, gäbe es nicht so viele Menschen, die tagtäglich dafür kämpfen, die Umstände in ihren Ländern zu verbessern, im Kleinen und im Großen.

Berichte über das normale Leben von Menschen im „Nahen Osten“ bringen deutsche Medien nur in Ausnahmefällen. Selten werden sie so gezeigt, wie sie eben leben: als Menschen, die arbeiten gehen, die tanzen, die albern sind, die Wünsche haben; junge Menschen, die Quatsch auf TikTok machen, die sich verlieben, die mit ihren Familien an Feiertagen picknicken gehen. Denn, ja, Menschen leben trotz schwieriger Situationen weiter. Sie haben Ängste, sie haben Träume, sie lieben, sie hassen, sie sind sauer, sie schimpfen auf den Nachbarn oder auf die Schwiegermutter.

Das echte Pulverfass liegt anderswo

Diese oft einseitige Berichterstattung führt dazu, dass zum Beispiel in Kriegssituationen kaum Mitgefühl entsteht, wenn man Bilder von diesen Menschen sieht; man kennt sie ohnehin nur als Leidtragende. Nicht als Menschen, die lachen, die herumalbern, die einander halten und umarmen. Wer schon mal in der Region des sogenannten Nahen Ostens war, weiß, wie viele Geschichten es dort gibt, die erzählt werden könnten. Von einer Großzügigkeit, die ihresgleichen sucht, von offenen Herzen, von Hilfsbereitschaft, von Liebe. Wer noch nie dort war, glaubt wahrscheinlich der Erzählung vom Pulverfass.

Die USA, das nur nebenbei, wird in der deutschen Berichterstattung nie als Pulverfass bezeichnet. Dabei würde der Begriff dort wohl am ehesten zutreffen. 393 Millionen Waffen sind in den USA in privaten Händen. Auf 100 Menschen kommen 120 Waffen – so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. Das ist tatsächlich ein Pulverfass.

8 Kommentare

  1. Man hört es und liest es und macht sich eigentlich keine Gedanken über das Wort „Pulverfass“, aber genau das beschriebene kommt dann dabei heraus. Vielen Dank für diesen Denkanstoß.

  2. Ich interpretiere die Metapher vom „Pulverfass“ ganz anders: Es geht weder um Armut noch um das Gewaltpotenzial innerhalb einer Gesellschaft. Es geht um angespannte internationale Beziehungen, bei denen ein kleiner Anlass reicht, um einen Krieg auszulösen – bzw. im Rahmen der Metapher: Ein kleiner Funke reicht, damit das Ganze in die Luft fliegt. (Weshalb Statistiken zum Waffenbesitz in der Bevölkerung hier auch nicht greifen – obgleich die USA nach der nächsten Wahl sehr wohl zu einem Pulverfass werden könnten.)

    Wenn man sich die letzten Jahrzehnte anschaut, beschreibt die Metapher den Nahen Osten ganz treffend (ich muss die Kriege hier nicht auflisten). Sie ist aber älter. Sie wurde zum Beispiel genutzt, um die Situation in Europa vor dem Ersten Weltkrieg zu beschreiben. Dort waren im engeren Sinne die Konflikte auf dem Balkan das Pulverfass – im weiteren Sinne die europäische Vorkriegsordnung selbst. Aufgegriffen etwa hier: https://www.gewerkschaftsgeschichte.de/erster-weltkrieg-pulverfass-europa.html

    Dass der Begriff „Pulverfass“ dazu führe, dass man sich die Bewohner einer Region als verelendet und deshalb (?) als nicht empathiewürdig vorstelle, das halte ich – Sie kennen es von mir – für einen sprachmagischen Irrtum.

  3. @3: Danke für die korrigierende Anmerkung. Ich habe denselben Link im Kopf. Und ich wundere mich, dass der Text unterstellt, dass man mit „Pulverfass“ assoziiere, dass in so einer Region irgendwie keine normalen Menschen leben. Für mich ein bisschen Strohmann und – ja – Sprachmagie.

  4. @Frank Gemein (#4):

    Wenn Ihr Freund einen Blick auf die Landkarte wirft, erkennt er: Israel ist Teil der Region, die gemeinhin „Pulverfass Nahost“ genannt wird.

  5. @KK
    Er hat aber nicht gefragt, ob es okay ist „Pulverfass Nahost“ zu sagen.
    Das „Pulverfass Balkan“ ( Platz 1 bei Google mit großem Abstand ) hatte sehr wahrscheinlich vor dem ersten Weltkrieg eine ähnliche Konnotation bei den Angehörigen der Großmächte, wie heute das „Pulverfass Nahost“.
    Es reduziert die Perspektive, wie im Artikel beschrieben. Die machen halt immer „Trouble“ da.
    Oder möchten Sie behaupten, dass Israel alleine nicht in der Lage wäre, als „Pulverfass“, so wie Sie es beschreiben wollen, zu gelten?

    Aber ja, „Wortmagie“, als ob irgendetwas mit dieser Phrase gesagt wäre.

  6. Niemand lebt gerne in einem „Pulverfass“ – weder in einem realen, noch in einem von außen so etikettierten. Die Autorin hat da durchaus bedenkenswerte Punkte, manche Antwort darauf fällt demgegenüber doch etwas ab. Medienberichte über die Welt außerhalb des „Reichen Nordens“ haben oft starke Tendenzen zur Vergröberung, exotisierende Beschreibungen und stumpfes Gaffen tun ein Übriges, auch Eigenlob („Wir hier in… haben`s gut (sind es dann vielleicht auch?!)) ist mitunter nicht zu knapp dabei. Gibt es irgendwo Probleme, sind auch sehr schnell immer Erklärungen mit dabei, die mit irgendwelchen ethnischen Begriffen hantieren. Ursache und Wirkung wird da oft verwechselt, „das Fremde“ wird überdies auch gern sehr reduziert, als seien Realitäten anderswo ganz linear und eindimensional gestrickt. Sooo knapp aber ist die Zeit zum Berichten nun auch wieder nicht, dass da so viel derart plump verkürzt werden müsste.

  7. „Wir hier in… haben`s gut (sind es dann vielleicht auch?!)) ist mitunter nicht zu knapp dabei.“
    Das ist sicher ein Problem an der Stelle, aber das kriegt man nicht dadurch gelöst, dass man die Phrase „Pulverfass“ einfach weglässt. Gibt bestimmt noch mehr Bullshit-Bingo-Hasswörter, die man weglassen könnte, aber diese Denke hat ja andere Gründe.

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