Notizblog (12)

„Bild“ findet Wellengenerator für Wasserstandsmeldungen

Aus Meinungsumfragen politische Schlagzeilen machen kann jedes Kind. Irgendeine Partei verliert oder gewinnt immer den ein oder anderen Prozentpunkt; jede Schwankung im Fehlertoleranzbereich lässt sich leicht zum Auf- oder Abstieg überdrehen.

Aber was, wenn sich gerade wirklich nichts bewegt? Beim Institut Insa zum Beispiel, das für „Bild“ jede Woche rund 2000 Menschen die sogenannte „Sonntagsfrage“ stellt, gab es in dieser Woche nur winzigste Veränderungen: Die SPD kommt auf 16,0 statt 15,5 Prozent, für die Grünen wurden 12,5 statt 13,0 Prozent ermittelt, für die Union 30,0 statt 30,5 Prozent. Die AfD liegt laut Insa stabil bei 17,0 Prozent. Meh.

Und trotzdem haben sie bei „Bild“ gestern eine Umfragen-Schlagzeile produziert, sogar einen richtigen Schocker:

Wahlkarte schockt Rechtsaußen-Partei 

Umfrage-Experten enthüllen brutalen AfD-Absturz
Screenshot: „Bild“

Die Skandale in der AfD reißen nicht ab – das schlägt immer mehr auf die Umfragen durch!

In einer neuen Untersuchung von INSA wird deutlich: Die AfD muss mit extremen Verlusten bei den Erststimmen rechnen. Heißt: die Direktmandate wackeln!

Die „neue Untersuchung“ ist etwas, das Insa seit Jahren wöchentlich als „Insa-Wahlkreiskarte“ veröffentlicht: eine Prognose, welche Partei gegenwärtig in welchem Wahlkreis die meisten Erststimmen bekommen würde. Daraus errechnet sich die Zahl der Direktmandate. Insa ermittelt das auf der Basis der eigenen „Sonntagsfrage“ mithilfe „einer bewährten Modellrechnung“.

Der „brutale AfD-Absturz“ ergibt sich nun daraus, dass „Bild“ die aktuelle Prognose mit der vom 15. Januar vergleicht. Damals ermittelte Insa für die AfD 43 Direktmandate, jetzt nur noch 17.

Wenn Ursachen nach der Wirkung liegen

Laut „Bild“ liegt das neben anderen AfD-Skandalen auch daran, dass Maximilian Krah, der Spitzenkandidat für die Europawahl, aus dem Vorstand der AfD flog und keinen Wahlkampf mehr machen darf. Was als Ursache insofern ein bisschen verblüffend wäre, als dass das am 22. Mai beschlossen wurde und die Umfrage nur bis zum 21. Mai lief.

Und wenn „Bild“ schreibt, „die AfD muss mit herben Verlusten von Wahlkreisen rechnen“, dann bedeutet das nicht, dass die AfD aufgrund der aktuellen Umfragen mit herben Verlusten von Wahlkreisen rechnen muss: Bei der letzten Bundestagswahl hat sie 16 errungen. Die „herben Verluste“ ergeben sich allein aus dem Vergleich mit den hohen Umfragewerten Anfang des Jahres. Dass „die Direktmandate wackeln“, ist eine maximal irreführende Formulierung.

„Die AfD könnte nur noch einen westdeutschen Wahlkreis holen, in Ostdeutschland drei Wahlkreise in Brandenburg, zehn in Sachsen und drei in Thüringen“, schreibt „Bild“. Bei der letzten Bundestagswahl hat sie keinen in Westdeutschland geholt, zwei in Sachsen-Anhalt, zehn in Sachsen und vier in Thüringen.

Für die Gesamtzahl der Sitze im Parlament ist die Erststimme ohnehin nicht relevant; entsprechend ist der „brutale Absturz“, mit dem „Bild“ die AfD schocken will, nur so groß wie der von den 23 Prozent, die Insa im Januar für die AfD in der „Sonntagsfrage“ auswies, auf die 17 Prozent, die Insa jetzt ausweist.

Noch spektakulärer und spekulativer

Natürlich ist eine Prognose, wo welche Parteien mit Direktmandaten rechnen können, trotzdem interessant, wenn sie halbwegs seriös ist. In Großbritannien, wo das aufgrund des Mehrheitswahlrechtes viel wichtiger ist, veröffentlicht das Institut YouGov vor Wahlen solche Prognosen – allerdings auf der Grundlage von immerhin rund zehnmmal so viel Befragten.

Mit ihrer „Wahlkreiskarte“ bietet Insa Medien einen Vorwand, Wasserstandsmeldungen zu veröffentlichen, die noch spektakulärer und spekulativer sind als die üblichen Umfrageergebnisse. Durch die Umwandlung von Prozentwerten in gewonnene Wahlkreise können schon relativ geringe Schwankungen relativ große Veränderungen hervorrufen. Und die ohnehin mit einer erheblichen Ungenauigkeit behafteten Umfragewerte werden nun noch mit einer undurchsichtigen „bewährten Modellrechnung“ kombiniert – was Belastbarkeit und Transparenz der Ergebnisse weiter verringert.

Immerhin hält Insa sämtliche „Wahlkreiskarten“ in einem Archiv vor, so dass man sich zum Beispiel einen Eindruck machen kann, wie gut das Institut die Direktmandate wenige Tage vor der Bundestagswahl 2021 geschätzt hat.

Schock.

7 Kommentare

  1. Hmm, bei den ganzen Verfehlungen der Bildzeitung, da sollte mal ein kompetenter Journalist eine Website aufmachen oder so.
    Vielleicht einen Watchblog? Der könnte sich zunächst mit Springermedien beschäftigen und dann so populär (und gelb) werden, dass er die ganze deutsche Medienlandschaft abdeckt. Ob sich das lohnt? Wenn nicht, kann man ja auch wieder rot werden, von dann an Links verteilen und einfach eine neue Plattform gründen. Nur ne Idee.

    Danke für bald 20 Jahre!

  2. „Horst Schlämmer-Partei mit Absturz um 100%.
    Die einst hochgelobte und hoffnungsvoll gestartete Partei des sympathisch, trotteligen Möchtegernpolitikers erreichte in Umfragen hohe Wertungen, jetzt jedoch ist, jetzt jedoch gibt es keine Messbaren Umfragewerte mehr. Wie konnte dieser dramatische Absturz geschehen? Parteienforscher sind ratlos.“

  3. Die Substanz dieser Wahlkreis-Umfragen ist sehr dünn – bzw. nicht vorhanden. Aber wenn die Bild sie nutzt, um die AfD runterzuschreiben, mag ich mich kaum beschweren.

    Für bundesweite Umfragen ist der Abstieg der AfD seit Anfang des Jahres gut dokumentiert und glaubhaft. Einen Querschnitt der Umfragen kann man hier finden: https://dawum.de/Bundestag/

  4. #4
    Hm. Der Umstand, daß laut Bild die Popularität der AfD sinkt, kann auch zum gegenteiligen Effekt führen, nämlich daß mehr Leute (Bild-Leser) AfD wählen, um ihr (vermeintlich) auf die Beine zu helfen.

  5. #4 Da würde ich (#5 sehr zustimmend) ziemlich JEIN sagen. Zu nicht geringen Teilen lauten die Vorwürfe ja auch „vaterlandslos“ etc., gerade manche CDUler sind damit ziemlich zu sich selbst gekommen, Brandmauer ach was, lieber ein Überholversuch der patriotischen Art.
    #1 Den bildblog gibt‘s doch schon längst, schauen Sie dort ruhig mal rein, ist nicht übel!

  6. Die Kritik, wie sie in diesem Artikel an der Auslegungsweise solcher Wahlergebnisse (oder in diesem Falle von Wahlprognosen) geübt wird, gab es übrigens auch schon in der Weimarer Republik.

    Letztens begegnete mir eine ganz ähnliche Kritik zur preußischen Landtagswahl 1932 in der links-liberalen Zeitung „Das Tagebuch“ (s.u.).
    Dem Journalisten Ludwig Bauer stößt im Mai 1932 sauer auf, dass der Anstieg der von der NSDAP gewonnenen Prozentpunkte (bei der Reichstagswahl 1928 noch 1,9 %, bei der Reichtagswahl 1930 schon 18,5 % und bei besagter Landtagswahl 1932 36,3 %) teilweise als „Niederlage“ bezeichnet wurde, weil nicht an bisherigen Ergebnissen, sondern an den Erwartungen der NSDAP über 50% zu kommen, gemessen wurde.

    Der Artikel Bauers im Tagebuch ist deutlich tendenziöser als Übermedien und die Kritik lässt sich natürlich nicht zu 100% übertragen, da es natürlich nicht um Wahlprognosen per Meinungsumfrage geht. Außerdem nennt Bauer, im Unterschied zu sonstigen medienkritischen Artikeln im Tagebuch und auch im Unterschied zu Übermedien, keine konkreten Beispiele für das kritisierte Verhalten.
    Aber trotzdem steht ihr in irgendeiner Form in einer mindestens ein Jahrhundert alten Tradition aufgeweckter Medienkritik und ich finde das ehrt Übermedien.

    (Ludwig Bauer: Fragen ohne Antwort, in: Das Tagebuch, Jahrgang 13 – Heft 19, 07. Mai 1932, S. 710.)

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