In der Spitze des MDR haben sie gerade ein Lieblingswort: den Dialog. Von Dialogangeboten, Dialogformaten, Dialogaktivitäten ist häufig die Rede im Strategieplan des Senders für 2024, der unter dem Motto „MDR für alle“ steht. „Wir müssen den Dialog intensivieren“, hat Intendant Ralf Ludwig erst diese Woche in einem Interview gefordert.
Er scheint überzeugt: Auf die drohenden AfD-Rekordwerte bei den im Sendegebiet anstehenden Europa-, Kommunal- und Landtagswahlen reagiert man am besten, indem man sich sehr viel mit seinem Publikum austauscht, also Menschen abholt.
Im Strategieplan fehlt die Recherche
Allerdings braucht jeder Dialog auch journalistische Inhalte, vor allem, wenn man „relevantester Medienanbieter“ im Sendegebiet sein will. Im MDR-Strategieplan scheinen sie das irgendwie vergessen zu haben. Das Wort „investigativ“ steht auf den 46 Seiten kein einziges Mal. Und auch zum Thema Recherche, Grundlage jeglichen Journalismus, findet sich nichts Konkretes (einer von zwei Treffern nennt auf Seite 28 den Dialog als „wichtiges Instrument zur Recherche“).
Das ist an sich schon bemerkenswert: Ein öffentlich-rechtlicher Sender, zu dessen Kernaufgaben der Journalismus gehört, geht in seiner Strategie im Wahljahr nicht einmal auf das Thema Recherche ein. Dieser Missstand erklärt aber auch den Streit, der im Sender um geplante Kürzungen im Leipziger Investigativressort entbrannt ist – und bei dem es um weit mehr geht als um einzelne Sendeplätze.
465 Unterschriften gegen Kürzungen
26 freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Redaktion „Politische Magazine und Reportagen“ in Leipzig haben am Montag einen Offenen Brief an die Senderspitze veröffentlicht, um Einsparungen an investigativen Formaten zu kritisieren. Rund 465 weitere Unterstützerinnen und Unterstützer haben den Brief bis Mittwoch unterzeichnet, darunter Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, der Islamismusexperte Ahmad Mansour, der Journalist Thilo Mischke und der Mainzer Journalismusprofessor Tanjev Schultz – aber auch Zuschauerinnen und Hörer.
Die MDR-Spitze könnte das freuen: Viele Menschen scheinen sich Gedanken zu machen, wie sich der von ihnen finanzierte Rundfunk im Wahljahr aufstellen sollte. Noch deutlicher könnte eine Einladung zum Austausch kaum ausfallen, der Offene Brief endet mit einem Gesprächsangebot.
Sender reagiert mit „Stellungnahme“
Diese Art von Dialog scheint der MDR dann aber doch nicht gemeint zu haben. Nur wenige Stunden nach dem Brief veröffentlichte die Geschäftsleitung eine „Stellungnahme“, ohne Anrede und ohne Absender. Darin wies sie die im Brief geäußerte Kritik zurück und erklärte, dass die Einsparpläne schon vor dem Brief teilweise zurückgenommen worden seien. Auch Mitarbeitende der betroffenen Redaktion bestätigen, dass die Sparpläne bereits entschärft worden seien. Ihnen geht es allerdings um viel Grundsätzlicheres. Im Offenen Brief heißt es: „Wir fürchten um die publizistische Schlagkraft des MDR.“
Dass publizistische Schlagkraft in den kommenden Monaten und Jahren gerade in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt gebraucht wird, steht außer Frage. Sollte die AfD unter dem Rechtsextremen Björn Höcke eine Mehrheit erringen, muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk seiner Wächterfunktion gerecht werden – wer sonst hätte die Ressourcen, auch in der Fläche zu berichten?
Sparprogramm trifft investigative Formate
Andererseits steht der Sender selbst unter Druck. Dass er Prioritäten setzen muss, steht schon seit Monaten fest: Insgesamt 40 Millionen Euro pro Jahr sollen von 2025 bis 2028 gespart werden. Mitte April stellte Intendant Ralf Ludwig die konkreten Pläne vor: Neben Kürzungen bei Personal, Verbreitung und Immobilien geht es auch ans Programm.
Und damit sind wir beim Thema Investigativjournalismus. Betroffen von den Kürzungen ist unter anderem „Exakt“, ein politisches Magazin, das im MDR jeden Mittwochabend zur besten Sendezeit über regionale Recherchen berichtet. Dort geht es um die schwierige Lage von Dorfgaststätten genauso wie um die Angriffe auf Politiker im Wahlkampf, um den Kohleausstieg und Antisemitismus in migrantischen Communities. Die Redaktion hat dieses Jahr auch schon dazu recherchiert, wie die Identitäre Bewegung an Einfluss gewinnt oder wie Menschen von Niedriglohn leben können. Neben diesen kürzeren Beiträgen produziert die Redaktion „Politische Magazine und Reportagen“ auch halbstündige Formate, die ebenfalls mittwochs laufen.
Es spricht viel dafür, dass genau das der regionale Journalismus ist, der aktuell gebraucht wird. Aber an beiden Sendeplätzen soll in Zukunft gespart werden: Statt 44 „Exakt“-Sendungen im Jahr, soll es ab 2025 nur noch 21 Sendungen geben. Und auch die Reportagen sollen nächstes Jahr weniger werden.
Weniger Sendeplätze, weniger Geld
Problematisch ist das nicht so sehr, weil die Redaktion dadurch Sendefläche im linearen Fernsehen verliert – über den YouTube-Kanal „MDR Investigativ“ und die Mediathek spielt die Redaktion Beiträge längst auch nonlinear aus. In der Logik der Öffentlich-Rechtlichen heißt weniger Sendeplätze allerdings immer auch weniger Budget. Und speziell für die Investigativredaktion bedeutet das: langfristig weniger Expertise.
Um das zu verstehen, muss man die Arbeitsweise der Redaktion kennen. In vielen Fällen werden freie, öffentlich-rechtliche Journalisten pro veröffentlichtem Beitrag bezahlt. Die Höhe des Honorars hängt zwar zum Teil auch vom Aufwand ab, im Endeffekt gilt aber: Je weniger Recherche, desto lukrativer für die Freien.
Bei investigativen Recherchen macht diese Logik besonders wenig Sinn: Wer zum Beispiel zur AfD recherchiert, knüpft vielleicht tagelang bei Parteiveranstaltungen Kontakte, ohne dass daraus ein Beitrag wird. Ein Netzwerk mit Quellen aufzubauen ist unverzichtbar, aber aufwendig. Nur mit viel Zeit lassen sich Missstände ausleuchten, die andere lieber im Dunkeln wissen. Manchen gilt Investigativjournalismus deswegen als Königsdisziplin, als Kern dessen, was die „Vierte Gewalt“ leisten will.
Hintergrundrecherche kostet
In der MDR-Redaktion werden die freien Journalistinnen und Journalisten daher nicht nur für veröffentlichte Beiträge, sondern auch für ganze Tage bezahlt; sie sind regelmäßig in der Redaktion und recherchieren zu Themen. Ihre Arbeit sei nur möglich, weil sie „langfristig an Themen arbeiten, sich Fachwissen aneignen, Kontakte knüpfen und über Jahre pflegen, Vertrauen zu Betroffenen und potenziellen Quellen aufbauen“, heißt es in dem Offenen Brief, den ein Teil der Redaktion gemeinsam verfasst hat. Weniger Geld führe dazu, dass weniger Redaktionsschichten bezahlt werden könnten – und damit Expertise schwinde.
Seit Wochen kämpfen die Journalistinnen und Journalisten dafür, dass die Einsparungen zurückgenommen werden. Teilweise hatten sie Erfolg: Es bleibt zwar bei den reduzierten Sendeplätzen, dafür soll das Online-Format „Exactly“ in Zukunft nicht mehr alle zwei Wochen, sondern jede Woche produziert werden. Diese 30-minütigen Reportagen, die auf YouTube, aber zum Teil auch linear laufen, richten sich an ein jüngeres Publikum und werden nicht nur in Leipzig, sondern auch von anderen Landesfunkhäusern bestückt. Für die „Exakt“-Redaktion heißt die Anpassung, dass die Kürzungen sehr viel weniger drastisch ausfallen als befürchtet. Statt einer hohen sechsstelligen Summe würde nur noch irgendwas zwischen 250.000 und 300.000 Euro pro Jahr eingespart, schätzen Mitarbeitende – der MDR äußert sich zu diesen Zahlen auf Nachfrage nicht.
Redaktionsmitglied warnt vor „Brain Drain“
Dass Teile der Redaktion trotzdem weiter protestieren, liegt zum einen daran, dass die zusätzlichen „Exactly“-Folgen erst einmal nur für ein Jahr zugesichert worden seien. Aber es geht auch um etwas Grundsätzlicheres: „Unser Eindruck ist, dass es in der Geschäftsleitung keine klare Vorstellung davon gibt, wie investigative Arbeit im journalistischen Alltag aussieht und welche Ressourcen es dafür braucht“, erklärt ein Redaktionsmitglied, das den Offenen Brief mit verfasst und unterzeichnet hat. Investigativ zu arbeiten sei eine spezifische Kompetenz, die nicht einfach von anderen Mitarbeitenden nebenher übernommen werden könne.
Im Gegenteil: Von der Expertise der Redaktion zu Rechtsextremismus, Femiziden oder der AfD würden auch andere Teile des Senders profitieren, auch Leuchtturmprojekte anderer Funkhäuser. „Nicht jeder hat Lust darauf, sich mit Namen und Gesicht zum Beispiel mit Rechtsextremismus zu beschäftigten und sich den Anfeindungen auszusetzen“, sagt das Redaktionsmitglied. „Wenn die Kolleginnen und Kollegen jetzt weggehen, wer soll das dann machen?“
Schon jetzt würden die geplanten Kürzungen dazu führen, dass Freie sich nach anderen Auftrag- und Arbeitgebern umsehen. Die Auswirkungen seien also schon jetzt, im Wahljahr, spürbar, auch wenn die Maßnahmen erst im kommenden Jahr in Kraft treten. Von einem drohenden „Brain Drain“ spricht ein anderes Mitglied der Redaktion.
Wo sind denn nun die investigativen Teams?
Die MDR-Spitze bügelt diese Kritik rundherum ab. Die geplante Reform werde „nicht zu Abstrichen für investigative Inhalte“ führen, heißt es in der Stellungnahme. Keine Abstriche – auf die Idee, dass man gerade jetzt auch in Recherche investieren könnte, scheint die Geschäftsleitung gar nicht gekommen zu sein.
Aber selbst für die Behauptung, dass es keine Abstriche geben wird, liefert der MDR eher mangelhafte Belege. Auch andere Landesfunkhäuser würden investigativ recherchieren, heißt es – aber auf die Nachfrage hin, welche anderen Investigativteams es im Sender gibt und wie groß diese sind, kommt keine konkrete Antwort. Stattdessen flüchtet eine Sprecherin des Senders sich in Allgemeinplätze: „In den Landesfunkhäusern des MDR arbeiten ebenfalls Kolleginnen und Kollegen sowohl für investigative Themen/Recherchen als auch für das normale Tagesgeschäft.“ Ach so.
MDR-Mitarbeitende berichten, dass Thüringen zwar als guter Recherche-Standort bekannt sei, unter anderem wegen seiner Recherchen zur Erfurter Mafia. In den Funkhäusern in Magdeburg und Dresden gebe es allerdings keine Recherche-Einheiten, die von der Größe mit der „Exakt“-Redaktion vergleichbar sind.
Und noch eine Nebelkerze zündet die MDR-Geschäftsleitung: In ihrer Stellungnahme verweist sie darauf, dass der MDR in Zukunft das Thema „Investigation“ in der ARD-Mediathek kuratieren werde. Klingt wichtig, ist es aber nicht: Eine Person aus der Redaktion wird dann zwar entscheiden, welche investigativen Inhalte von welcher ARD-Anstalt wie präsentiert werden, Ressourcen für eigene Recherchen schafft diese Aufgabe aber nicht.
Dialog ist nicht nur Talkshow
An Mittwochabenden, dem traditionellen Sendeplatz der Investigativ-Formate, wird in Zukunft häufiger die Polit-Talkshow „Fakt ist“ zu sehen sein, in der „normale Menschen“ mit Expertinnen und Politikern diskutieren – ganz im Sinne des gewünschten „Dialogs“.
Was die Senderspitze dabei nicht verstanden zu haben scheint: Auch investigative Recherche ist ein Dialog mit dem Publikum. Nicht jede MDR-Zuschauerin setzt sich in Talkshows oder ruft bei einer Mitmach-Sendung an. Ein politisches Magazin wie „Exakt“ nimmt sich den Anliegen von Menschen direkt vor Ort an, geht ihren Fragen nach, zeigt Probleme auf.
Wer Dialog will, braucht Vertrauen. Vertrauen erlangt, wer gute, journalistische Arbeit macht. Und der Journalismus, der ohne Recherche auskommt, muss erst noch erfunden werden.
So sieht das übrigens auch das Publikum des MDR: 86 Prozent erwarten von Journalistinnen und Journalisten, dass sie Missstände kritisieren. Das hat der MDR selbst im Mai 2023 bei seinem nicht-repräsentativen Format „MDR fragt“ herausgefunden. Wer fragt, sollte auch auf die Antworten hören – so geht das nämlich mit dem Dialog.
Die Autorin
Annika Schneider ist Redakteurin bei Übermedien. Sie hat als freie Autorin, Moderatorin und Redakteurin unter anderem für „Mediasres“ (Deutschlandfunk) und das „Altpapier“ (MDR) gearbeitet, außerdem für das Medienmagazin des WDR. Sie hat Journalistik und Politikwissenschaft in Eichstätt und Erlangen studiert und ihr journalistisches Handwerk im Lokalen gelernt.
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