Netflix-Doku

Geiler Journalismus, fast wie Sex

Ach, wäre es doch alles nur ausgedacht! Ein Spielfilm, eine Geschichte, mehr nicht. Dann wäre dieser absurde, brutale Fall Fiktion. Dann lebte ein Mensch noch, eine junge Frau. Und dann gäbe es auch diesen Reporter nicht, der jedes Boulevard-Klischee verkörpert, das es so gibt. Einer, der locker von Prinzipien spricht, obwohl er gar keine hat. Einer, der in einem Körper wohnt, der nichts mehr spürt. Einer, der für viel Schlechtes im Journalismus steht.

Der britische Boulevard-Reporter Nick Pisa
Der britische Boulevard-Reporter Nick Pisa Screenshot: Netflix

Aber die Geschichte ist wahr, der Reporter ist echt, leider. Sein Name ist Nick Pisa, ein Brite, der früher für das Schmutzblatt „Daily Mail“ geschnüffelt hat. Pisa wurde im Laufe eines Kriminalfalls bekannt, um den es in einer Netflix-Dokumentation geht, die kürzlich veröffentlicht wurde. Der Film befasst sich mit Amanda Knox, jener US-Amerikanerin, die im Verdacht stand, gemeinsam mit ihrem Freund ihre Mitbewohnerin getötet zu haben, in Perugia, Italien.

Fast zehn Jahre ist das her. Die Ermittlungen und Prozesse zogen sich über Jahre, Tonnen Papier wurden mit dieser Geschichte bedruckt, und noch heute ist vieles an ihr rätselhaft. Die Dokumentation beleuchtet sie nochmal von (fast) allen Seiten. Das ist auch deshalb sehenswert, weil die zentralen Personen in diesem Fall zu Wort kommen: Amanda Knox, die freigesprochen wurde und in den USA lebt, ihr italienischer Freund Raffaele, auch frei, der Pfeife rauchende Staatsanwalt, Rechtsanwälte, die Mutter der Getöteten Britin Meredith Kercher – und eben dieser unfassbare Boulevard-Reporter.

Nick Pisa hatte damals die meisten Titelseiten, die meisten Aufmacher, die meisten Exklusiv-Geschichten zum Fall „Amanda Knox“, das erzählt er selbst. „Wir waren alle wie im Rausch“, sagt Pisa. Und: „So viele Titelseiten hatte ich nie!“ Aber er sagt das nicht nachdenklich, reflektiert, er hinterfragt nicht, ob das alles so richtig war damals, nein, er feiert es. Er lacht. Er wirft den Kopf in den Nacken, lächelt selbstversonnen. Und sich später da so zu sehen, in einer Dokumentation, als natürlich ganz unschuldiger Star eines Mordfalls, das hat ihm sicher noch ein paar intime Momente beschert.

Deinen eigenen Namen auf der Titelseite zu sehen, mit einer tollen Geschichte, über die alle reden, das ist schon ein fantastisches Gefühl. Man kann das fast mit Sex oder so etwas vergleichen.

Ich, Nick Pisa.
Ich, Nick Pisa. Quelle: Netflix / GIF: Ü

Als damals bekannt wurde, was in Perugia geschehen war, ein Mord an einer jungen Frau, reiste Pisa gleich hin. „Um an Fakten zu kommen, musst du vor Ort sein, dich überall einmischen“, sagt er. Was eine besondere Ironie hat: Pisa redet gerne von Fakten, dabei geht es ihm darum gar nicht. Das beste Beispiel dafür erzählt er selbst, wieder mit gierigem Stolz in den weit aufgerissenen Augen. Wie sie damals da saß, die Meute der Journalisten, im Hotel, und „wie wild“ den Namen „Amanda Knox“ googelte. Bis sie fand, wonach sie suchte.

Da ploppt plötzlich dieses Foto auf Myspace auf, Amanda mit einem Maschinengewehr, hysterisch lachend, während sie feuert. Wir dachten: Ah, super. Die ist komplett verrückt. Wir suchten nach Raffaele und fanden ihn, als Mumie verkleidet, mit einer Axt. Man konnte sich kein besseres Bild wünschen, um diese Geschichte zu bebildern.

Schlagzeile in der "Daily Mail"
Schlagzeile in der „Daily Mail“ Screenshot: Netflix

Na, was macht das, diese Fotos zweier junger Mordverdächtiger neben die Schlagzeile „Todesorgie“ zu setzen? Richtig: Diese beiden, so soll es scheinen, sind zu allem fähig, sicherlich auch zu einem brutalen Mord. Muss man ja nur mal da hinschauen: Maschinengewehr, Ballern, Schreien, Mumienkostüm, Hackebeil, Blutkanister, das ist doch quasi ein Beweis und keinesfalls in einem Museum oder bei einer Halloweenparty aufgenommen, Unsinn, außerdem interessiert das Nick Pisa auch nicht. Er will auf die Titelseite. Da scheut er keine Vorverurteilung, keine Verdrehung – das sind seine „Fakten“.

„Es war grausam. Durchgeschnittene Kehle, halbnackt, Blut überall“, sagt Pisa und beginnt sich wieder zu freuen: „Wie kann man diese Story noch toppen?“, sagt er und lächelt. „Da fehlen höchstens noch die Königliche Familie und der Papst.“ Und so begann die Jagd der Meute, deren Anführer Pisa war. „Der Ort wurde förmlich überrannt von Journalisten. Bei jedem Krümel, jedem Fetzen, irgendetwas Neuem versuchte man, der Konkurrenz voraus zu sein.“

Auch von dem Opfer, Meredith Kercher, gab es „gute Bilder“, erzählt Pisa. „Sie war eine ungeheuer attraktive Frau. Und dann kam noch Amanda Knox hinzu, ein hübsches, blondes Mädchen, Anfang 20. Es hatte was von einer sexuelle Intrige, girl-on-girl-crime, if you like…“, sagt Pisa, Mädchen auf Mädchen, ein bisschen Porno, er lacht halbgeil. Spitznamen gab es deshalb zahlreich in der Presse damals: Die Verdächtige war „Foxy Knoxy“, so nannte sie sich selbst, im Netz. Irgendwann nannte man sie den „Engel mit den Eisaugen“, die „Femme Fatale“, „Domina“, „Männerfresserin“, weil sie Sex mit Männern gehabt hatte und Sex bei dem Mord mutmaßlich eine Rolle spielte.

"Was sollten wir denn machen?"
„Was sollten wir denn machen?“ Screenshot: Netflix

Als alles ausgekramt und ausgeplaudert war, fehlte nur noch die Innensicht. Aber auch an die kam Pisa. Er war der Erste, der Auszüge aus Amanda Knox‘ Tagebuch veröffentlichte, das sie im Gefängnis geschrieben hatte. In der Dokumentation wird Pisa gefragt, wie das Tagebuch an die Presse gelangt sei. Und dann kommt die lustigste Stelle. Pisa sagt:

Nun, wir reden nie über unsere Quellen, das ist entscheidend. Wenn man das tut, verrät man all seine journalistischen Prinzipien, oder?

Genau, viel lieber verrät man den Inhalt von Tagebüchern und schreibt auch auf, dass die Frau HIV-positiv sei, was sich später als falsch herausstellte. Es war eine Lüge der Ermittler, um Knox unter Druck zu setzen. Nun wurde sie weltweit rumgetratscht. Aber Pisa hat für alles eine Entschuldigung:

Im Rückblick waren etliche Informationen verrückt, schlicht und einfach ausgedacht. Aber was sollten wir denn machen? Wir sind Journalisten und wir berichten, was wir gesagt bekommen. Ich kann ja nicht sagen: Warte kurz, ich will das noch doppelt checken. Wie denn auch? Dann zieht mein Rivale an mir vorbei, und dann verliere ich den Scoop. So läuft das nicht. Nicht im Newsgame.

Journalistische Prinzipien und so.

Ich denke, am Ende des Tages, muss man mit dem Finger auf Polizei und Staatsanwaltschaft zeigen. Die haben horrende Fehler gemacht und sich auf wilde Theorien eingeschossen, von denen sie geradezu besessen waren. Man sagt immer „Vorverurteilung durch die Medien“, alles Vorverurteilung, aber… ich sehe das nicht so. Vielleicht weil ich Journalist bin und deshalb wohl parteiisch.

Pisa, der heute für das Boulevardblatt „The Sun“ arbeitet, nennt sich Journalist, und eigentlich müsste das dazu führen, dass etliche andere Journalisten aufstehen und sagen: Nö, du nicht. So nicht. Aber, gut, wenigstens haben ihn seinerzeit Menschen gefragt, ob es hackt.

Viele sagten damals zu mir: Wie kannst du nur? Wieso berichtest du über so eine Sache? Wie kannst du dich damit abgeben. Aber das sind dann gleichzeitig die Leute, die morgens im Internet nach den neuesten Details suchen.

Na, klar. Das ist die einfachste, aber auch schlichteste Form, seine eigene Verantwortungslosigkeit gutzuheißen. Die anderen wollten es doch auch! Sicherlich: Das ist, ohne Frage, ein faszinierender, unheimlicher Fall, der Menschen interessiert, weil er auf vielen Ebenen gruselt, aber es sind eben auch die Erzählungen der Journalisten, die das bewirkt haben. Wie Pisa es sagt: Vieles davon war erfunden, falsch, aber es ist nun in der Welt und lässt sich schwer beseitigen. Es bleiben Fragen, Schatten.

Amanda Knox und ihr damaliger Freund Raffaele sind frei, sie ringen in der Dokumentation nun um die Deutungshoheit, Knox weint viel, Raffaele wirkt verzweifelt. Ein anderer Mann sitzt derweil im Gefängnis, verurteilt, er soll die Tat begangen haben, beteuert aber seine Unschuld. Das ist verstörend. Und wer wissen will, was an Journalismus gefährlich und verachtenswert sein kann, sollte sich „Amanda Knox“ ansehen. Und Nick Pisa.

Amanda Knox, Netflix 2016, 92 Minuten
Regie: Rod Blackhurst, Brian McGinn

10 Kommentare

  1. @ Rosenkranz
    Es ist eine schmutzige Arbeit, aber einer muss sie machen. Schön, dass Sie sich dafür freiwillig gemeldet haben.

    „Und wer wissen will, was an Journalismus gefährlich und verachtenswert sein kann, sollte sich „Amanda Knox“ ansehen. Und Nick Pisa.“
    Ich weiss nicht, ob ich das durchhalten würde. Dann könnte ich gleich mit Julian Reichelt Kaffee trinken gehen.

    Beste Grüße

    pit

  2. Wirft die Netflix-Doku selbst ein kritisches Licht auf Pisa oder gibt sie ihm nur Raum zur Selbstdarstellung?

  3. @Ekkehard

    Mir persönlich war nach wenigen Zeilen dieses Artikels klar, dass ich mich etwas überwinden muss um ihn bis zum Ende zu lesen. Ich kann mich recht leicht über Menschen aufregen, die sich von meinem Begriff des Anstands sehr weit entfernt haben.
    Deshalb nannte ich den Bericht eine wichtige, aber auch schmutzige Arbeit, die Herr Rosenkranz hier geleistet hat. Und deshalb habe ich Nick Pisa mit Julian Reichelt in eine Reihe gestellt: Beide haben wenig Anstand und wenig Ahnung von gutem Journalismus.

    Meine polemischen 2 Cent,

    pit

  4. Danke. Ich habe die Doku gesehen, war schockiert und hatte gehofft, dass sich jemand mit diesem Pisa befasst. Diese Ungeheuerlichkeit ins Licht rückt.

    @John Lenin:
    Alle in der Doku gezeigten Interviews bleiben unkommentiert. Der Zuschauer soll sich selbst ein Bild machen. So wird Herrn Pisa die Gelegenheit gegeben, sich selbst zu entblößen. Ich hoffe jedenfalls, dass die Mehrzahl der Zuschauer es so empfindet.

  5. @rosenkranz
    Bestätige die Kritik.
    Was mich jedoch sehr stört, dass sich die Kritik am „Journalismus“ massiv an Journalisten alias Herr Pisa als „Hassfigur“ entlädt.
    Was ist mit den Verlagen und auch den Redaktionsleitern die derartige Geschichten wollen, verlangen und auch drucken. Vergessen ??!?

  6. @Ibidem
    Nicht zu vergessen die Leser, die bereits geil sabbernd das Geld für sowas über die Ladentheke schieben.

  7. Ist nur ein kleines Detail (und ändert wenig an der Schmierigkeit von Nick Pisa insgesamt), aber ich habe die Doku gerade geschaut und mir scheint, als habe Netflix sein Sex-Zitat selbst ein wenig zusammenmontiert, um es dramatischer machen.

    Im Video ist es nämlich so zu sehen:
    „Deinen eigenen Namen auf der Titelseite zu sehen, mit einer tollen Geschichte, über die alle reden …
    //Schnitt//
    … Das ist schon ein fantastisches Gefühl. Man kann das fast mit Sex oder so etwas vergleichen.“

    Er kann, zumindest theoretisch, dazwischen also noch alles mögliche gesagt haben.

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