Widersprüchliche Berichte

Rituelle Gewalt: Wer ist hier im Wahn?

Es ist ein extrem seltener Vorgang: Das ZDF hat am vergangenen Freitag eine Sendung aus seiner Mediathek gelöscht, nachdem sein Aufsichtsgremium, der Fernsehrat, überraschend mit knapper Mehrheit zwei Programmbeschwerden stattgegeben hat. Es geht um eine Ausgabe des „ZDF Magazin Royale“, in der sich Jan Böhmermann mit ritueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in satanistischen Kulten beschäftigte – oder genauer: mit der Frage, ob es sie überhaupt im großen Stil gibt, wie einige Psychotherapeuten behaupten. An der Frage, ob die Sendung „die Menschenwürde der Betroffenen sexualisierter Gewalt auf indirekte, vermeintlich satirische Weise“ verletze – oder sich im Gegenteil in sensibler Form einem Missstand widme, schieden sich die Geister. Das passt zu einem Thema, bei dem es schon über grundlegende Fakten kaum Einigkeit gibt.


Screenshot des Artikels im "Spiegel": "Im Wahn der Therapeuten" / Screenshot des Artikels in der "wochentaz": "Rituelle Gewalt: Eine augeblendete Realität"
Screenshots: Spiegel.de, taz.de

Anfang des Jahres berichtet die „wochentaz“ über eine Frau, die grausamsten Missbrauch in der eigenen Familie erlebt haben soll. Sie soll, irgendwo in Deutschland, in einen „germano-faschistischen Kult“ hineingeboren worden sein, aus dem sie sich nach jahrelanger, unvorstellbarer Gewalt befreit habe. Die Frau erzählt unter anderem von Stromschlägen, Vergewaltigungen und einem absichtlich herbeigeführten Herzstillstand.

Der Fall ist offenbar so heikel, dass die „wochentaz“ eine ungewöhnliche Entscheidung trifft, die sie im Artikel transparent macht: Normalerweise, heißt es im Text, gehöre es „zu einer ausgewogenen Berichterstattung und zur journalistischen Fairness, auch die anzuhören, gegen die Vorwürfe erhoben werden“. Doch die Protagonistin lehne das ab, sie wolle auf keinen Fall, dass die Redaktion Kontakt mit ihrer Familie aufnimmt. „In diesem Text stehen also ein Stück weit journalistische Sorgfaltspflicht gegen den Schutz der Betroffenen“, schreibt die „wochentaz“. Es gebe aber „Hinweise und Belege, die Winters Erzählung stützen“.

Die „wochentaz“ deutet an, dass das Schicksal der Frau stellvertretend für eine größere Zahl von Menschen stehe, die rituelle Gewalt erlebt haben. Das Problem sei groß, die Gesellschaft aber schaue weg. So lässt sich die Überschrift des Artikels verstehen: „Rituelle Gewalt: Eine ausgeblendete Realität“.

2020 veröffentlicht „Zeit Online“ eine zweiteilige Dokumentation über eine Frau, die in einem religiösen Kult aufgewachsen und dabei schwer misshandelt worden sein soll. Ein Jahr später bringt der WDR ein Radiofeature über Frauen, die als Kind „sexuelle Gewalt in organisierten und rituellen Gruppen“ erlebt haben sollen.

Diese Medienbeiträge berichten, wie die „wochentaz“, aus einer empathischen Haltung über rituelle Gewalt, lassen Betroffene und Therapeut:innen ausführlich zu Wort kommen. Oft bleibt der Eindruck hängen, dass rituelle Gewalt ein ernstzunehmender Missstand in der Gesellschaft sei, der zu wenig Beachtung erfahre.

Ganz anderer Tenor beim „Spiegel“

Im März 2023 beschäftigt sich auch der „Spiegel“ mit ritueller Gewalt. Der Tenor des Textes ist ein ganz anderer: Es geht um Psychotherapeut:innen, die angeblich ihren traumatisierten Patientinnen rituellen Missbrauch einreden – und zwar so lange, bis diese selbst daran glauben. In einem weiteren Artikel im Juni führt der „Spiegel“ aus, dass juristische Belege, etwa Strafprozesse oder Verurteilungen, die ein Täternetzwerk ans Licht gebracht hätten, bislang fehlten. Die erste „Spiegel“-Geschichte stellt eine junge Frau in den Vordergrund. Sie war Patientin in einer psychotherapeutischen Praxis im westfälischen Münster. Dort habe die Frau Hilfe gesucht, um eine schwierige Trennung zu verarbeiten.

Stattdessen soll in der Therapie ein anderes Thema in den Fokus gerückt sein: Satanismus. Die Therapeutin soll immer wieder behauptet haben, dass ihre Patientin in die Fänge geheimer Satanszirkel geraten sei, die sie wieder und wieder entführten und missbrauchten. Auch der „Spiegel“ deutet an, dass das kein Einzelfall sei, sondern nur ein Beispiel für einen Missstand in der Psychotherapie und Traumaberatung.

Eine Szene von Psychotherapeut:innen, Heilpraktiker:innen und Sozialarbeiter:innen behandle „vermeintliche Folgen schwerster Leidenserfahrungen – die es so nach allem Ermessen nie gegeben hat – oft so lange, bis die Klienten selbst überzeugt sind, extreme körperliche und sexuelle Gewalt in einem Kult erlebt zu haben.“ Die Erinnerungen an den Missbrauch seien demnach das Produkt einer manipulativen Psychotherapie.

Auch das das „Y-Kollektiv“ veröffentlicht einen Film, der Scheinerinnerungen an rituellen Missbrauch thematisiert, die in Therapien erzeugt werden können. Und im September 2023 attackiert Jan Böhmermann im „ZDF Magazin Royale“ die einflussreiche, aber umstrittene Psychotherapeutin Michaela Huber, die stellvertretend herhalten soll für „unseriöse Psychotherapeut*innen, die Patient*innen so lange Teufelsgeschichten einreden, bis diese glauben, sich daran erinnern zu können“, wie die Satiresendung bei Instagram schreibt.

Rituelle Gewalt polarisiert

Das sind, in aller Kürze, die Kernaussagen verschiedener Recherchen, die in letzter Zeit über rituelle Gewalt erschienen sind. Die Berichte könnten konträrer nicht sein. Während die einen behaupten, rituelle Gewalt werde unter den Tisch gekehrt, Opfern werde nicht geglaubt, bezeichnen die anderen rituelle Gewalt mehr oder weniger als Humbug, den sich Therapeut:innen ausgedacht haben.

Wie kann es zu einem Thema zwei so gegensätzliche Perspektiven geben? Und was ist denn nun eigentlich Fakt?

Ein grundsätzliches Problem ist, dass der Begriff „rituelle Gewalt“ unscharf definiert ist. Mit ritueller Gewalt ist in der Regel eine Form des organisierten sexuellen Missbrauchs gemeint, der auf irgendeine Weise ideologisch gerechtfertigt wird. Die Täter können Sekten, Kulten oder politischen Gruppierungen angehören. Schon das macht die Sache kompliziert. In der Debatte vermischen sich juristische, therapeutische und weltanschauliche Fragen.

Es gibt angebliche Expert:innen, die von Netzwerken im Verborgenen berichten, von elitären, mächtigen Kreisen und geheimen Psychofoltermethoden. Es klingt wie das perfekte Verbrechen – aber auch ziemlich unrealistisch.

Schon aus diesem Grund ist es wichtig, dass Medien sich nicht vereinnahmen lassen. Die deutsche Gesellschaft für Psychologie kritisert, dass überregionale Medien in einer Weise berichten, die „rituelle sexuelle Gewalt und damit assoziierte Phänomene in den Stand von Tatsachen erhebt“. Die Gesellschaft plädiert in einer Stellungnahme für eine stärkere Evidenzbasierung in der Berichterstattung.

Es ist ohnehin schwierig, den Wahrheitsgehalt der Betroffenenberichte zu prüfen. Darauf macht beispielsweise die Studie über den Missbrauch im Bistum Münster aufmerksam, die drei Fälle von ritueller Gewalt dokumentiert. In allen Fällen sind die Erinnerungen entweder in Therapien oder im zeitlichen Umkreis anderer traumatischer Erlebnisse entstanden. Wie viel Verfälschung oder Wahrheit hinter den Aussagen steckt, lässt sich somit kaum nachvollziehen, heißt es in der Studie.

Tatsächlich bleibt in vielen Medienbeiträgen über rituelle Gewalt oft unklar, was belegt und was umstritten ist. Viele Medien versäumen es, Aussagen und Expertisen einzuordnen.

Eine umstrittene Expertin

Ein Beispiel dafür ist ein Interview mit Michaela Huber, das 2020 bei „Zeit Online“ erschienen ist. Huber veröffentlichte 1995 das erste deutschsprachige Buch über rituelle Gewalt und steht seitdem in der Kritik für ihre Aussagen. Wenige Monate, nachdem das „Zeit Online“-Interview herauskam, wurde sie für den „Goldenen Aluhut“ nominiert, einen Negativpreis für Verschwörungsgläubige.

Umstrittene Psychotherapeuthin Michaela Huber
Umstrittene Psychotherapeuthin Michaela Huber Screenshot: „Zeit Online“

Das fast einstündige „Zeit Online“-Interview ist überschrieben mit „Dissoziative Identitätsstörung: Interview mit Psychotherapeutin Michaela Huber“. Die dissoziative Identitätsstörung ist eine anerkannte Traumafolge und steht in den gängigen Diagnosehandbüchern. Die Betroffenen entwickeln diese Störung meist, wenn sie in frühester Kindheit über lange Zeit extremer Gewalt ausgesetzt waren. Um das Trauma zu verarbeiten, bilden sie verschiedene Ich-Zustände aus, die im Wechsel die Kontrolle über den Körper übernehmen.

Doch das, was Michaela Huber bei „Zeit Online“ sagt, geht weit über den aktuellen Stand der Forschung hinaus. Sie spricht über„Gehirnwäsche“, „täterloyale Anteile“, eine „dunkle Elite“ in „zutiefst antidemokratischen, terroristischen Strukturen“. Glaubt man Huber, sind die Täter in der Lage, die Persönlichkeiten ihrer Opfer mit Gewaltritualen in viele Einzelteile zu zertrümmern. Diese Psychotechnik bezeichnet sie als „Mind Control“. Die neugeschaffenen „Innenpersonen“ könnten auf diese Weise für späteren Missbrauch programmiert werden.

Bloß: Weder für „Mind Control“-Methoden noch für Programmierung gibt es aus wissenschaftlicher Sicht belastbare Anhaltspunkte. Mit Kritik an ihren Aussagen wird Michaela Huber von „Zeit Online“ dennoch nicht konfrontiert. Das Interview bleibt ohne Einordnung, Hubers Aussagen werden den bis heute mehr als 300.000 Zuschauer:innen als Fakten einer langjährigen Expertin präsentiert.

Inzwischen hat „Zeit Online“ reagiert und eine Stellungnahme an die oberste Stelle der Kommentarspalte geheftet. Darin heißt es, das Interview sei im Rahmen einer Dokumentation über eine Betroffene von ritueller Gewalt entstanden. „Weiterführende, antisemitische Verschwörungstheorien werden in diesem Beitrag nicht thematisiert“, schreibt „Zeit Online“.

Satirisch aufklären?

Die Stellungnahme ist wohl auch eine Reaktion auf das „ZDF Magazin Royale“ im Oktober. Satiriker Jan Böhmermann hat darin versucht, alles unterzubringen, was Zweifel an ritueller Gewalt weckt: die fehlenden strafrechtlichen Beweise, „Mind Control“, die „Satanic Panic“ und die zweifelhafte Expertise von Michaela Huber, die Böhmermann in seiner Sendung durchweg verspottet.

Er kritisiert zurecht, dass die „Mind Control“-These, die von Therapeut:innen wie Huber angeführt wird, wissenschaftlich nicht belegt ist. Böhmermann versäumt es allerdings zu erwähnen, dass die dissoziative Identitätsstörung eine anerkannte Diagnose ist. Der Begriff taucht in dem Beitrag kein einziges Mal auf.

So entsteht der Eindruck, dass sich Böhmermann über Betroffene lustig macht, die unter den Symptomen einer solchen Störung leiden. In den sozialen Medien empören sich daher viele Menschen, die die Folge des „ZDF Magazin Royale“ angeschaut haben. Und die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs legt beim ZDF-Fernsehrat Programmbeschwerde ein. Der Vorwurf: Das „ZDF Magazin Royale“ hetze gegen Missbrauchsbetroffene:

„Diese Wirkungen bestehen darin, dass in (pseudo-)‚lustiger‘ Weise Randphänomene sexualisierter Gewalt stellvertretend für sexualisierte Gewalt dargestellt werden, was einen generellen Sog der Abwertung zulasten aller Betroffenen sexualisierter Gewalt auslöst.“

Auch wenn sich das satirische Format mit seinen extremen Verkürzungen womöglich nicht für das Thema rituelle Gewalt eignet, trifft Jan Böhmermann in seiner Sendung einen Punkt: Er spricht das Problem der Suggestion in der Therapie an.

Normalerweise sind Suggestivfragen in der Therapie tabu. In solchen Fehltherapien kommen sie aber häufig vor. Das kann so weit führen, dass sich die Patient:innen plötzlich an Missbrauch erinnern, der nie stattgefunden hat – oder dass sie sogar eine dissoziative Identitätsstörung entwickeln. Neben der Traumatisierung ist eine solche Fehltherapie die zweite Möglichkeit, durch die eine dissoziative Identitätsstörung entstehen kann.

Fakt oder Fiktion?

Diese Information fehlt in den Medienbeiträgen, die das Leid der Betroffenen in den Vordergrund stellt. Sie wäre ein Anlass, die Schilderungen derjenigen zu hinterfragen, die von sich behaupten, Opfer von ritueller Gewalt zu sein. Der „Spiegel“ schreibt im März dazu: „Wer Betroffenen nicht glaubt, stehe aus Sicht der Szene auf der Täterseite.“ Die Recherche vermittelt den Eindruck, dass viele Therapeut:innen einer Szene, die von „Mind Control“ überzeugt ist, angehören und ihren Patient:innen falsche Erinnerungen an Missbrauch einpflanzen, und dass rituelle Gewalt letztlich Fiktion ist.

Die Aufarbeitungskommission kritisiert auch die „Spiegel“-Berichterstattung. Sie schreibt in einer Pressemitteilung, sie nehme „die generelle Infragestellung von Berichten über organisierte sexuelle und rituelle Gewalt mit Sorge wahr“. Missbrauchsbetroffene, die rituelle Gewalt erlebt hätten, fänden nur schwer Gehör.

Laut Aufarbeitungskommission hat der „Spiegel“-Artikel gezeigt, dass eine sachliche Auseinandersetzung über rituelle Gewalt nötig sei: „Die Schlussfolgerung, es gäbe keinerlei Belege für rituelle Gewaltkontexte weist die Kommission auf der Basis der ihnen vorliegenden Berichte und der Studien in dieser Pauschalität zurück.“

Screenshot "Spiegel"-Text: "Die kruden Thesen des Trauma-Gurus"
„Spiegel“-Artikel vom 13.11.23 Screenshot: Spiegel.de

In einem weiteren Artikel, erschienen im November 2023, äußert sich der „Spiegel“ nuancierter. Die Recherche handelt von zwei Psychotherapeut:innen, die wie Michaela Huber den Irrglauben an „Mind Control“ am Leben halten und Fortbildungen dazu anbieten. Offenbar um nicht erneut den Eindruck zu erwecken, man diskreditiere pauschal Therapeut:innen und stelle rituelle Gewalt insgesamt in Frage, schreibt „der Spiegel“ in dem Text aber auch: „In Deutschland praktizieren rund 30.000 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Nur die wenigsten werden anfällig sein für solche Thesen.“

Opfer hinterfragen: Ist das okay?

Wie sollen Journalist:innen mit Opferberichten umgehen? Ist es in Ordnung, Aussagen von Betroffenen anzuzweifeln?

Eine Antwort darauf hat die Journalistin Birgit Schmid im Februar 2022 gesucht. Im Feuilleton der „Neuen Zürcher Zeitung“ schrieb sie, sie habe anderthalb Jahre zuvor einen Anruf einer Leserin erhalten. Am Telefon habe sie ihr erzählt, dass sie jahrelang sexuell missbraucht worden sei. Ihre Erlebnisse habe sie in einem Buch aufgeschrieben, die Geschichte kursierte seither in diversen Schweizer Medien.

Schmid entschied sich, über die Geschichte der Frau zu schreiben. Aber sie hatte auch Zweifel. Ein Jahr lang hatte sie Kontakt zu der Leserin. Das Leiden der Frau sei spürbar gewesen, schreibt Schmid. Aber: „Die Geschichte tönte in vielem unfassbar, wenn nicht unglaublich.“ Ein anderer Punkt: Die Frau soll sich erst viele Jahrzehnte nach dem Missbrauch plötzlich an die Gewalt erinnert haben. Dabei seien selbst klare Erinnerungen kein eindeutiger Beleg, dass das erinnerte Ereignis genauso geschehen ist.

Schmid ordnete die Aussagen der Frau mit den Erkenntnissen der neueren Gedächtnisforschung ein. Doch die Protagonistin und ihr Anwalt untersagten der NZZ, den Artikel zu veröffentlichen. Dabei sei es „vordergründig um die Publikation gewisser privater Details, die im Buch so nicht erwähnt waren“ gegangen. Die Autorin vermutet allerdings: „Letztlich dürften sie sich hauptsächlich an den Passagen gestört haben, in denen ich die Verlässlichkeit der Erinnerung befragt habe.“

Recherchen über sexuellen Missbrauch seien eine Gratwanderung, resümiert Birgit Schmid. Man wolle Empathie für Betroffene zeigen, ihnen eine Stimme geben, nicht alles reflexartig in Frage stellen, Opfer schlimmstenfalls erneut zu Opfern machen.

Andererseits ergriffen Journalist:innen Partei, wenn sie Betroffenenaussagen unhinterfragt übernehmen. Das könne zu Vorverurteilungen führen, gerade wenn die mutmaßlichen Täter nicht mit den Vorwürfen konfrontiert werden. Und Hinterfragen sei nicht gleichbedeutend damit, das Leid der Betroffenen zu leugnen, so Schmid.

Schutz der Betroffenen gegen journalistische Sorgfalt

Die „wochentaz“ änderte den eingangs erwähnten Artikel, nachdem es zahlreiche Zuschriften, „dankbare, aber auch kritische“, zur Veröffentlichung gegeben habe. Zu Beginn des Textes steht nun folgender Hinweis:

„Wir haben den Text an einigen Stellen überarbeitet, um noch deutlicher zu machen, welche Fakten aus der Erzählung der Protagonistin wir prüfen konnten, und welche sich allein auf ihre Darstellung beziehen.“

Birgit Schmid schreibt in ihrem „NZZ“-Artikel, Medien müssten sich im Klaren darüber sein, dass ihre Berichte über rituellen Missbrauch in verschwörungsideologischen Kreisen kursieren, wenn sie alles unterhinterfragt übernehmen. Auch „schlimmste Verbrechen, für die es keinen Beleg gibt, [müssten] mit einem Vorbehalt versehen“ werden.

Genau das ist bei der „taz“ nicht geschehen: „Rituelle Gewalt würde noch zu oft für eine Verschwörungserzählung gehalten – das schütze die Täter“, zitiert die Zeitung die Leiterin einer Beratungsstelle. Ein Argument, das es allerdings praktisch unmöglich macht, Aussagen zu prüfen oder zu hinterfragen. Denn wer möchte sich schon dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sich schützend vor die Täter zu stellen, sobald man Fragen stellt?

Aufzeigen, was umstritten ist

Sowohl der angebliche Missbrauch als auch die Therapie finden in geschützten Räumen statt. Das macht es grundsätzlich schwierig, Aussagen zu prüfen. Umso wichtiger scheint es, für Aufklärung zu sorgen – und die Grenzen der Geschichte um rituelle Gewalt aufzuzeigen, die die Fakten von Verschwörungsmythen trennen. Halten wir also fest:

  • Es gibt organisierte sexuelle Gewalt. Und es gibt sexuellen Missbrauch, bei dem Rituale eine Rolle spielen können. Das heißt nicht, dass Geheimbünde Kinder abtransportieren und im Verborgenen rituell missbrauchen.
  • Es gibt Missbrauchsbetroffene, die von ritueller Gewalt berichten. Es gibt aber keine gesicherten strafrechtlichen Fakten, die auf rituelle Täternetzwerke schließen lassen. Das bedeutet nicht, dass hinter jeder Aussage über rituelle Gewalt Suggestion stecken muss. Und dennoch ist es in Ordnung, Aussagen zu kontextualisieren und zu prüfen, ohne das Leid der Opfer zu leugnen.
  • Es gibt die dissoziative Identitätsstörung, die als Folge von Trauma entstehen kann. Sie kann auch in einer schädlichen Therapie erzeugt werden. Für „Mind Control“, die gezielte Aufspaltung und „Programmierung“ einer Persönlichkeit fehlt hingegen jede wissenschaftliche Evidenz.

Gerade wenn es um sexualisierte Gewalt geht, darf man nie vergessen, dass man über Menschen schreibt, die Schreckliches erlebt haben. Sie gehören zu einer besonders verletzlichen Gruppe. Hört man sich bei therapeutischen Fachgesellschaften um, erfährt man, dass die aktuelle Berichterstattung Therapeut:innen verunsichert. Sie schrecken zunehmend davor zurück, Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung zu behandeln.


Korrektur, 13.12.2023. In einer früheren Version des Textes hatten wir in einem Satz den Eindruck erweckt, Suggestivfragen wären eine gängige Methode in Therapien. Das war missverständlich formuliert. Richtig ist: Suggestivfragen sind nicht die Regel, aber es gibt Therapeut:innen, die in besagten Fehltherapien Sugesstionsfragen anwenden. Wir haben die Stelle korrigiert.

Korrektur, 22.12.2023. An einer weiteren Stelle hatten wir nicht ganz korrekt über die nachträglichen Änderungen im Text der „wochentaz“ berichtet. Wir haben das korrigiert.

Korrektur, 2.1.2024. Im Text hieß es zunächst, die Programmbeschwerde gegen die ZDF-Sendung sei bei der Bundesregierung gestellt worden. Das ist natürlich falsch. Mit Programmbeschwerden befassen sich die Kontrollgremien der Sender; in diesem Fall ist das der ZDF-Fernsehrat. Wir haben das im Text korrigiert.

8 Kommentare

  1. In der „Skeptiker“-Zeitung der GWUP gab es eine Serie zu dem Thema, die Leute, die Opfer dieser „Therapeuten“ werden, können einem wirklich leid tun.

  2. Als Überlebende ritueller Gewalt empfinde ich die Berichte derzeit allesamt unterirdisch. Dieser Bericht hier versucht sich immerhin in einer etwas differenzierten Betrachtungsweise, enthält jedoch auch zahlreiche Falschinformtionen. Woher diese Informationen kommen wie zum Beispiel nachfolgende ist NICHT gekennzeichnet.
    „Graben Therapeut:innen nach vermeintlich verdrängten Erinnerungen, nutzen sie dazu in der Regel Suggestivfragen. Das kann so weit führen, dass sich die Patient:innen plötzlich an Missbrauch erinnern, der nie stattgefunden hat – oder dass sie sogar eine dissoziative Identitätsstörung entwickeln. Neben der Traumatisierung ist eine solche Fehltherapie die zweite Möglichkeit, durch die eine dissoziative Identitätsstörung entstehen kann.“

    In Traumatherapien „graben“ Therapeuten nicht mittels Suggestionsfragen nach Traumata. Traumatherapien beschäftigen sich in erster Linie damit ein Leben in der Gegenwart zu ermöglichen! Diese Aussage des Autors ist eine, die normalerweise die Strafverteidigung vor Gericht gegenüber dem Opfer tätigt ohne tieferes Wissen um moderne Traumatherapie.

    Dies ist wohlgemerkt nur eine falsche Darstellung von zahlreichen in diesem Artikel. Es wäre schön, wenn vor dem Schreiben etwas tiefergehend recherchiert worden wäre.

    Wirklich schön finde ich hingegen den Versuch ausgewogen zu berichten. Das geschieht so selten und eine Ausgewogenheit ist genau das, was wir Überlebende von schwerer Gewalt uns wünschen. Denn mit solcher Berichterstattung wird das Feld auch für Wissenschaftler entmint und damit besser explorierbar.

  3. „Sie spricht über„Gehirnwäsche“, „täterloyale Anteile“, eine „dunkle Elite“ in „zutiefst antidemokratischen, terroristischen Strukturen“. “

    Von da ist es auch nicht mehr weit zu „Pizzagate“ etc.

  4. Dass in Böhmermanns Redaktion niemand sitzt, der sagt: „Das Thema erfordert viel Sachkunde und Fingerspitzengefühl – lassen wir das.“ ist mMn das Hauptproblem.
    Das Nebenproblem ist, dass Satire und Parodien eigentlich nur (oder höchstens dann) funktionieren, wenn das Publikum das „Original“ kennt. Also, wenn das Thema „Rituelle Gewalt“ von Medien ausführlich behandelt wird, und die meisten Menschen da mehr Infos zu haben als das, was derselbe Mensch ihnen erzählt, der _parallel_ dazu die Satire darüber bringt.

  5. Als Therapeutin, die in ihrer Praxis auch mit Opfern sexualisierter Gewalt gearbeitet hat, kann ich LMG nur zustimmen. Die meisten zweifeln zunächst mal an ihrer eigenen Wahrnehmung, weil ihnen in der Vergangenheit oft nicht geglaubt wurde. Niemand will so etwas erlebt haben und denkt sich so etwas zum Vergnügen aus. Vielmehr reden sich viele Opfer jahrelang ein, es ‚war nicht so schlimm‘ oder ‚es war ja nichts‘. Auch das streng genommen eine Form ‚falscher Erinnerung‘, die m.E. wesentlich häufiger ist als der umgekehrte Fall. Zudem möchte ich auf einen Widerspruch aufmerksam machen: Therapeutinnen verfügen offenbar – anders frühere Bezugspersonen – über magische Kräfte, ihre Patientinnen krank zu machen über den Weg der Suggestion – also nichts anderes als eine Form der ‚Gehirnwäsche‘, mit der wir angeblich unsere Patientinnen ‚in ihre Einzelteile zertrümmern‘. Sicher wurden in den Anfägen der Behandlung von DIS auch Fehler gemacht, möglicherweise auch durch eine gewisse Faszination durch das Störungsbild. Es gibt aber inzwischen gute Leitlinien für die Behandlung (ich verzichte auf eine Verlinkung, da das Thema sehr komplex ist). Es ist ein No-Go in der Therapie, von sexuellem Missbrauch auszugehen, wenn es von einem Patienten keine diesbezügliche Äußerung gegeben hat. Was den ‚Wahrheitsgehalt‘ der Erinnerungen angeht: Therapeuten sind keine Kriminalisten und es ist in aller Regel unmöglich, den genauen Tathergang zu rekapitulieren. Es ist unsere Aufgabe, Leiden zu lindern und nicht ‚objektiv‘ alle Seiten anzuhören. Bei Journalisten ist das anders. Dennoch werden Inhalt und Form der Berichterstattung oft eine starke Wirkung auf Betroffene. Daher ist m.E. in dem Bereich große Sensibilität und Sachkenntnis geboten. Von daher danke an den Autor für das Ringen um Ausgewogenheit und besonders den letzten Absatz in dem Artikel.

  6. Ich muss LMV in dem wichtigen Punkt zustimmen. Therapeuten nutzen NICHT wie beschrieben „in der Regel Suggestivfragen“. Im Gegensatz: Suggestivfragen zeichnen eher schwaches ungelenkes therapeutisches Handwerk aus und sind häufig eine Red Flag bei der Therapeutenwahl. Genau darum ging es ja bei einigen der kritischen Sendungen: Schlechte Therapeuten schädigen möglicherweise die Patienten in schwierigen Lebenssituationen. Dagegen stehen solche Therapeuten die ihren Eigeneinfluss bewusst minimieren um einen Patienten in einer schwachen Situation nicht in eine falsche Richtung abzulenken.

  7. Thol schrieb
    „ Genau darum ging es ja bei einigen der kritischen Sendungen: Schlechte Therapeuten schädigen möglicherweise die Patienten in schwierigen Lebenssituationen.“
    Als Betroffene, die sich in der „Szene“ ein wenig auskennt, sehe ich das anders. Gegenwärtig werden Frau Michaela Huber in Deutschland und Jan Gysi in der Schweiz ins Kreuzfeuer genommen – beides Therapeuten gegen die KEIN einziger Klient Beschwerde eingereicht hat. Gegen Jan Gysi wurde vor einigen Monaten im Zuge der SRF False-Memory Kampagne Anzeige erstattet wegen eines Falles, mit dem er gar nichts zu tun hatte.
    Interessanterweise arbeiten beide Therapeuten mit den Strafverfolgungsbehörden eng verzahnt zusammen und bilden fort.

    Argument gegen die Traumatherapie und das berufliche Wirken der beiden sind in den Beiträgen der vergangenen eineinhalb Jahre die sogenannten „False Memories“. Ein völlig unwissenschaflicher Begriff, der von Eltern einer Tochter in den USA ins Leben gerufen wurde (nebst eines Vereins, welcher in den USA nun kein Dasein mehr fristen kann, wegen seiner kruden Thesen – wohl aber in Deutschland), bei der der Vater dieser Tochter von selbiger des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde.

    Wissenschaftliche Beweise für „False Memories“ bei Traumaklienten gibt es nicht. Ebenso wie viele Annahmen dieser Vereinigung wissenschaftlich widerlegt wurden. Doch das stört deutsche Strafverteidiger und Medien wenig.

    Traumatherapie in Deutschland ist nach wie vor ein Stiefkind in der psychotherapeutischen Ausbildung und die meisten Traumatherapeuten lehnen Menschen mit komplexer Traumatisierung oder gar DIS ab. Sprich es werden von den meisten Monotraumatisierungen behandelt (die PTBS-Diagnose) wie z. B. Verkehrsunfälle.

    Die Fälle, die von komplex traumatisierten Menschen durch Therapeuten falsch positiv behandelt wurden sind nach bisherigen statistischen Erhebungen (die allerdings auch dringend professionalisiert werden müssen und vor allem vielzähliger stattfinden sollten) so, dass falsch positive Fälle (ein Klient bekommt fälschlicherweise eine Traumafolgestörungsdiagnose) die Minderheit darstellen während falsch negative die Mehrheit (ein Klient wird bei traumatischer Vergangenheit falsch diagnostiziert und behandelt).

    On Top werden wir schwerst traumatisierte Menschen von der Kasse so behandelt wie jemand mit einer leichten Depression und bekommen dieselben Behandlungszugänge. Nach 80 Stunden Therapie (Verhaltenstherapie, 100 bei tiefenpsychologischer Fundierung) müssen wir eine Pause zwei Jahren trotz hohem Bedarf einlegen – und einige von uns überleben das nicht. Viele überleben es – aber dann in Armut weil sie so unterversorgt nicht mehr arbeiten können. Dazu zähle ich / wir.
    Dem gegenüber stehen Menschen mit einer „Neurose“, die eine Analyse machen können (also innerlich gefestigt genug sind) und dafür glatte 300 Stunden auf dem Sofa liegend bewilligt bekommen.

    All das wird in den Medien nicht thematisiert, die sich doch vermeintlich so sehr für die Opfer einsetzen. Für mich ist das verlogen.

    Da lobe ich mir diesen Artikel hier, der dann doch in meinen Augen vieles nicht erfasst was wichtig wäre – aber zugleich deutlich zeigt, dass der Versuch unternommen wird, neutral und mit kühlem Kopf an die Sache ranzugehen.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.