Freund und Helfershelfer

Noch im Tod halten die deutschen Medien Kissinger die Treue – und machen seine Opfer zu Fußnoten

Henry Kissinger mit Mathias Döpfner
Henry Kissinger mit Springer-Chef Mathias Döpfner bei der Verleihung des Henry-Kissinger-Preises 2011 an Helmut Kohl Foto: Imago / Eventpress Herrmann

Einer der ganz Großen, vielleicht der Größte von allen, ist von uns gegangen. Henry Kissinger, „Lichtgestalt der US-Politik“, der „Jahrhundert-Diplomat“, „Altmeister“, vielleicht sogar „Großmeister der Realpolitik“, die „schillernde Figur“ Kissinger oder ganz schlicht „Henry, der Deutsche“ – er ist nicht mehr. Am 29. November ist der ehemalige US-Außenminister verstorben, im Alter von 100 Jahren und betrauert von seinen Freunden.

Zu denen gehörte nach eigenen Angaben etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD). Es sei ihm „eine ganz besondere Ehre“ gewesen, „Henry Kissinger einen Freund zu nennen“, schrieb Steinmeier posthum. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush dankte Kissinger für seinen Dienst und Rat, vor allem aber „für seine Freundschaft“. In Asien gedachten seiner fast eineinhalb Milliarden Menschen – zumindest, wenn man dem chinesischen Außenamtssprecher glaubt, demzufolge Kissinger „in den Herzen der Menschen in China immer als geschätzter alter Freund lebendig bleiben“ wird.

Doch nichts kommt an die Ergriffenheit derjenigen heran, die in Henry Kissinger ihren treuesten Freund wähnten: der deutschen Medien.

Ein Freund von Format

„Er war Deutschland unglaublich verbunden“, sagte Matthias Döpfner, Springer-Vorstandschef und Gewissen der Republik, am vergangenen Freitag im hauseigenen Sender Welt-TV. Henry Kissinger, der – wie wir aus zahlreichen Nachrufen wissen – einmal als Heinz im bayerischen Fürth zur Welt kam und gerade noch rechtzeitig auswanderte, bevor die Nazis den Großteil seiner jüdischen Familie umbrachten; der in den USA diese unwahrscheinliche Karriere hinlegte: US-Soldat im Kampf gegen Nazi-Deutschland, Studium in Harvard, Mitglied des Harvard-Lehrkörpers mit 28, außenpolitischer Berater und Außenminister, schließlich inoffizieller Ratgeber für jeden US-Präsidenten, der seit den siebziger Jahren ins Amt gekommen ist: Dieser Mann, der allen Grund gehabt hätte, Deutschland zu hassen und dafür seinen Einfluss geltend zu machen, wollte von Rache nichts wissen.

Henry, „der Deutsche“, Kissinger / Happy, aber nicht glücklich
Kissinger-Nachrufe in „Welt“ und „Welt am Sonntag“

Im Gegenteil: Kissinger ist, wie Döpfner es ausdrückt, „bis zum Schluss sehr liebevoll und versöhnlich mit dem Land der Täter umgegangen“. Immer wieder reiste er in dieses Land, dessen Spitzenpersonal er freigiebig seine Freundschaft gewährte. Im Privathaus von Altkanzler Helmut Schmidt (SPD), für den Kissinger nur „Henry“ hieß, war er ein gern gesehener Gast. Mit Marion Gräfin Dönhoff, die wie Schmidt Herausgeberin der „Zeit“ war, pflegte er einen lebenslangen Briefwechsel. Dasselbe gilt für „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein, der im selben Jahr wie Kissinger geboren wurde und freudig annahm, als der ihm in späten Jahren das Du anbot.

Die Nähe dankte man ihm mit warmen Worten. Als „Kiss“ 1976 aus dem Amt schied und seine offizielle Karriere in der Politik damit zu Ende war, rief Augstein ihm schon hinterher: Was bleibe, sei „die wohl wehmütige Erinnerung […] an einen Menschen, der Macht wie Intellekt, Geist wie Stil zu vereinen wußte“. „Zeit“-Urgestein Theo Sommer bezeichnete Kissinger noch im Jahr 2021 als „Freund von Format“. Sommers langjährige Kollegin Dönhoff hatte ihren „alten Freund“ schon in den Neunzigern in eine Reihe mit den Bestsellern der deutschen Exportindustrie gestellt. In einer Rede sagte sie damals:

„Meine Damen und Herren, mein Land hat vielen Nationen Unglück gebracht, aber manchmal haben andere Länder auch von Deutschland profitiert: Österreich bekam von uns seinen berühmtesten Staatsmann, den Fürsten Metternich, England seinen großen Musiker Georg Friedrich Händel und Amerika seinen in diesem Jahrhundert bedeutendsten Außenminister: Henry A. Kissinger.“

Moralisten sollen schweigen

Dass ein solcher Gigant die Neider anzieht, ist klar. Kissinger war durchaus „umstritten“, wie es in den ungezählten Nachrufen und Beiträgen heißt, die anlässlich seines Todes erschienen sind. Ihm werden sogar „Schattenseiten“ nachgesagt.

Die sind so düster, dass sie sich oft im Dunkel der hinteren Absätze verbergen. „Während viele seine Brillanz lobten, kritisierten andere Kissinger für seine Unterstützung antikommunistischer Diktaturen“, heißt es etwa in einer Agenturmeldung. „Kritiker warfen Kissinger Skrupellosigkeit und Machtbesessenheit vor“, liest man an anderer Stelle; „Kritiker“ hätten „in ihm einen Machtpolitiker ohne Moral“ gesehen, für „Kritiker“ sei Kissinger sogar „der Inbegriff des skrupellosen Machtpolitikers“ gewesen.

Die Vorwürfe, die diese namenlosen Gestalten erheben, gehen auf keine Kuhhaut. Kissinger „soll“ mit Putschisten paktiert und eigenhändig einen Militärcoup in die Wege geleitet haben. Und das ist nur der Anfang: Angeblich hat der Mann unter anderem Staatsterrorismus finanziert, mehrere Länder in Grund und Boden gebombt – eines davon illegal –, aus Versehen einen Völkermord herbeigeführt und einen zweiten aus strategischem Kalkül toleriert.

Der Jahrhundert-Mann wird fehlen!
Kissinger-Nachruf in „Bild“

Zum Glück gibt es kompetente Journalist:innen, die das einordnen, oder noch besser: einordnen lassen. Zum Beispiel von Wolfgang Schäuble (CDU), Träger des jährlich verliehenen Henry-Kissinger-Preises und einer, der sich nun wirklich mit Politik auskennen muss. In einem Artikel von Stefan Kornelius, Politikchef der „Süddeutschen Zeitung“, der anlässlich Kissingers 100-Jahres-Deutschlandtournee im Juni erschienen ist, durfte Schäuble die Vorwürfe mit einem Zitat von höheren Gnaden (will heißen: von Helmut Schmidt) kontern. Wer als Politiker handle, mache sich stets schuldig – und wer davon keine Ahnung habe, fügte Schäuble hinzu, der solle doch bitte die „moralisierende Besserwisserei“ einstellen.

Während viele das als mindestens nonchalant bezeichnen würden, halten andere die Sache damit für erledigt. Kissinger sei „freilich auch eine kontroverse Figur“ gewesen, schrieb etwa der Historiker Ulrich Schiele, Inhaber der Henry-Kissinger-Stiftungsprofessur an der Universität Bonn, in einem Nachruf beim „Cicero“: einer, der „viele der gegen die amerikanische Politik gerichteten Pfeile auf sich gezogen“ habe.

Und so wie Kissinger sich todesmutig vor die Pfeile der antiamerikanischen Widersacher geworfen hatte, so stellte sich auch Springer-Chef Döpfner nach Kissingers Tod vor dessen Leichnam. Kissingers „gesamtes politisches Wirken“ habe „mal mehr, mal weniger erfolgreich, in Summe aber prägender als die meisten politischen Biographien“ der „Humanitas“ gegolten, schrieb Döpfner in einem Nachruf. Oder wie er es im „Welt“-Interview ausdrückte:

„Also ist es erstmal natürlich in einem Leben, das sechzig, siebzig aktive Jahre hatte und jeden Tag viele Äußerungen und oft auch ganz gewichtige Entscheidungen bedeutet – ist natürlich klar, dass Fehler passieren. Das hat er auch selber immer durchaus selbstkritisch gesagt.“

Selbstkritik wird überschätzt

Diese Selbstkritik findet sich seltsamerweise nirgends. Wann immer Journalist:innen die heiklen Themen ansprachen (Döpfner, der Kissinger kurz vor seinem Tod selbst interviewte, ließ sich dazu nicht herab), wich Kissinger aus, blockte ab und beschied nach wenigen Worten, dass man das Thema wechseln solle.

So war das im Interview mit der „Zeit“, als man ihn nach einer Rechtfertigung für die heimliche Bombardierung Kambodschas fragte. Zumindest direkt hinter der Landesgrenze sei seines Wissens kaum ein Zivilist gestorben, entgegnete Kissinger unwirsch. Die Nachfrage zu dem Bombenhagel im Landesinneren, in dem nachweislich zwischen 50.000 und 150.000 Zivilist:innen ums Leben kamen, blieb aus. Nächste Frage.

So war das auch im Interview mit dem renommierten Dokumentarfilmer Stephan Lamby im Jahr 2008. Die heißen Eisen hatte Lamby sich für den zweiten Gesprächstag aufgehoben. Als er sie auspackte, sei der vorher so zugewandte Kissinger plötzlich sehr frostig geworden, erinnert Lamby sich heute. Nach seinem Eindruck hätte sein Gesprächspartner ihn am liebsten hinausgeworfen.

Aber in einem Porträt Kissingers konnte man natürlich Wichtigeres erwähnen: seinen Scharfsinn, seine Weitsicht, seinen Schalk oder seine Redegewandtheit. Immer und immer und immer wieder haben deutsche Kommentator:innen diese Charaktereigenschaften gerühmt.

Kai Diekmann, Henry Kissinger, Mathias Döpfner, Hubert Burda
Henry Kissinger mit „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann, Springer-Chef Mathias Döpfner und Burda-Chef Hubert Burda bei der Verleihung der Goldenen Victoria. Der Verband der Zeitschriftenverleger (VDZ) zeichnete ihn damit 2011 für sein Lebenswerk aus. Foto Imago / Eventpress Herrmann

Ein Teufelskerl mit eigener Folklore

Dazu gesellte sich mit der Zeit ein ganzer Kanon an Kissinger-Folklore, den die US- Journalistin Oriana Fallaci schon vor Jahrzehnten spöttisch umrissen hat. Jeder weiß, dass Kissinger aus Fürth stammte – und wer es nicht wusste, dem hat es Bayerns oberster Bayer spätestens jetzt ins Hirn gehämmert. Kissinger sei „Bayer, Franke, Fürther“ gewesen, sagte Markus Söder (CSU) nach dessen Ableben, der Freistaat werde „seinem berühmten Sohn ein ehrendes Gedenken bewahren“. Genauso weiß man, dass Kissinger als Kind ein schüchterner Junge war, als Erwachsener die wildesten Affären hatte und als Greis mit einem rumpeligen Bass und einem schweren, deutschen Akzent sprach: geistig topfit, ein echtes Ass, das „die Welt im Blick“ behielt, bis zum allerletzten Atemzug. Teufelskerl!

Als Journalist muss man Prioritäten setzen, die Geschichte hinter der Meldung erzählen. Und die findet sich nicht auf einem Kontinent, der nicht Europa heißt und auf dem möglicherweise, vor langer Zeit einmal schlimme Dinge passiert sind. Die Geschichte, die deutsche Journalist:innen am liebsten erzählten: Das war Kissinger, der Gelehrte, der Bücher nicht nur las, sondern sie regelrecht verschlang. Kissinger, der Exildeutsche von Welt, der immer einen „Spiegel“ und eine „Zeit“ griffbereit hatte. Kissinger, der Fußballfan, der seinem Fürther Verein bis zuletzt die Treue hielt.

Die wichtigsten deutschen Journalisten haben Kissinger, die Homestory freigelegt. „Die Wiesen waren regentränkt“, heißt es, wenn sich Top-Journalist Döpfner an seinen Besuch auf Kissingers Ländereien erinnert. Vor dessen Anwesen schwammen „große, graue, alte Karpfen“ (wie symbolisch!), drinnen vor dem Kamin machten Döpfner und Kissinger Selfies mit einer kissingerhaften Stoffpuppe. Einhundert Jahre zählte dieser Mann, doch Döpfner hat es gesehen: „Henry lächelte wie ein kleiner Bub.“

Mathias Döpfner mit Kissinger und Kissinger-Puppe
von links nach rechts: Mathias Döpfner, Carl Fredricksen als Henry Kissinger, Henry Kissinger Ausriss: „Welt am Sontnag“

Eine andere Geschichte

Nachdem wir Henry, geborenem Heinz, damit so rührend nahe gekommen sind, will ich für einen Moment von einem anderen Jungen erzählen. Nicht von Heinz, sondern von Hans, wie seine Freunde ihn damals aus mir nicht mehr ersichtlichen Gründen nannten.

Hans hatte es nicht einfach. Als er 14 Jahre alt war, waren seine Eltern schwer krank, das Geld war knapp und der junge Hans weitgehend auf sich allein gestellt. Er machte das beste daraus, schmierte sich jeden Morgen selbst seine Stulle und brach dann zur Schule auf. Doch eines Morgens war alles anders: Keine Menschenseele war zur sehen, die Schulpforte verschlossen, als er schließlich anlangte. Irritiert machte Hans kehrt, strackste zurück nach Hause, drehte das Radio auf – und erfuhr: Die Regierung war abgesetzt, eine neue im Amt, unter keinen Umständen sollte irgendjemand seine Wohnung verlassen. Ausgangssperre.

Wäre Hans, der mit bürgerlichem Namen Juan Carlos heißt, an jenem Septembermorgen im Jahr 1973 falsch abgebogen, dann wäre ihm vielleicht ein Unglück geschehen. Hätte er einen kleinen Schlenker durch die Gassen seiner Heimatstadt Santiago de Chile genommen, dann wäre er vielleicht in eine Straßensperre geraten. Wäre er nur ein bisschen früher oder später aufgebrochen, dann wäre mein Vater vielleicht von Soldaten erschossen worden.

Dann würde ich diese Zeilen jetzt nicht tippen.

So viele andere Geschichten!

Zugegeben: Auf den Bühnen der Weltpolitik hat mein Vater nie mitgespielt. Aber vielleicht wäre Henry Kissingers Tod auch ein Anlass gewesen, von den vielen Menschen zu erzählen, die in dessen Karriere unter die Räder gekommen sind – zum Beispiel während der Militärdiktatur in Chile, bei der Kissinger nicht nur mitgemischt haben soll, sondern die er erwiesenermaßen mit vorbereitet hat.

Wer den Glamour mag, der hätte von Victor Jara schreiben können, den berühmten Liedermacher, dessen Schicksal sich tief ins popkulturelle Gedächtnis eingebrannt hat. Um ihn davon abzuhalten, seine Gitarre zu spielen, brachen ihm die Militärs die Hände. Als er daraufhin die Stimme erhob und unbegleitet das Protestlied „Venceremos“ anstimmte, streckten Soldaten ihn mit 44 Schüssen nieder.

Cinephile hätten über die „Colonia Dignidad“ schreiben können, deren Horror Emma Watson und Daniel Brühl vor ein paar Jahren auf die Leinwand gebracht haben: jene Sekte, in der Paul Schäfer (noch ein Deutscher, toll!) mit seinen Jünger:innen auf Geheiß der von Kissinger gedeckten Militärregierung Dissidenten quälte und tötete.

Und wer Recherche kann, der hätte einen Blick in den Bericht der offiziellen Aufarbeitungskommission werfen können. Man hätte von den Männern erzählen können, denen Geheimpolizisten in einem fort Elektroschocks verpassten, denen man auf den Rücken sprang und glühende Zigarettenstummel in die Arme drückte; von den Frauen, die kopfüber aufgehängt wurden, bevor grölende Folterknechte ihnen ihre Genitalien, Flaschenhälse und sogar Ratten in alle Körperöffnungen steckten; oder von den Kindern, die in den Geheimgefängnissen geboren wurden und gestorben sind.

Spezialgebiet Geheimdiplomatie

Über 3000 Menschen haben die Putschisten in Chile ermordet, die Zahl der Opfer insgesamt beträgt mehr als 40.000. Henry Kissinger, dessen „Spezialität“ die Geheimdiplomatie war, wie wir heute anerkennend lesen, hatte ihren Coup mit Geld, Waffen und Propaganda unterstützt. Und als die internationale Gemeinschaft murrte, da reiste Kissinger, der Völkerfreund, zum chilenischen Diktator Augusto Pinochet und versicherte ihn seiner Unterstützung: „Als Freund“ werde er alles dafür tun, das Thema Menschenrechte vor der Presse so allgemein und unverbindlich wie möglich zu adressieren. „Wir wollen Sie nicht schwächen, sondern Ihnen helfen“, sagte Kissinger seinem erleichterten Gesprächspartner.

Aber wer interessiert sich schon für Chile. Die Deutschen lieben den Tango – warum also nicht eine Story über Argentinien bringen? Anbieten würde sich die Geschichte von Robert Hill, der in den 70er Jahren amerikanischer Botschafter in Argentinien war. Als die Machthaber dort zum großen Gemetzel ansetzten, protestierte Hill wütend gegen ihre Methoden.

Man muss sich seine Verblüffung vorstellen, als die ihn an seinen eigenen Chef Henry Kissinger verwiesen. Der hatte der argentinischen Regierung versichert, dass er mit ihren Methoden kein Problem habe. „Ich bin der altmodischen Ansicht, dass man Freunde unterstützen muss“, so Kissinger zum argentinischen Außenminister. Je schneller die Militärs die „Terroristen“ ausmerzen könnten, desto besser.

Die Militärs nahmen sich seinen Rat zu Herzen . Rund 30.000 Menschen kamen in den folgenden Jahren um. Viele von ihnen landeten auf dem Grund des Ozeans, in dem die Mörder die Leichen bekanntlich gern entsorgten – nicht bevor man ihnen die Bäuche aufschnitt, damit sie auch wirklich untergingen.

Kein Platz für seine Opfer

In Kissingers umstrittenem Vermächtnis schlummern Millionen solcher Geschichten. Das Yale-Zentrum für Völkermordstudien listet seinen Namen in der Rubrik „Fallstudien“ gleich zwei Mal auf: bei den Roten Khmer, die auch deswegen an die Macht kamen, weil sich Teile der Bevölkerung radikalisiert hatten, nachdem zigtausende ihrer Landsleute in Kissingers illegalem Napalmregen verbrannt waren. Und beim Genozid der indonesischen Besatzer in Osttimor, denen Kissinger stillschweigend garantiert hatte, dass sie ihr Treiben ungestört würden verrichten können.

Doch in der medialen Kissinger-Nostalgie haben diese Menschen keinen Platz. Kissingers Glorie strahlt so hell, dass seine Opfer auf einen „dunklen Fleck“ in seiner Biographie verwiesen werden. Dort drängen sie sich nun, zwischen langen Passagen über seine Verdienste und kurz angebundenen Rechtfertigungen für seine Verbrechen.

Denn Henry Kissinger hat erreicht, wovon die kühnsten PR-Berater:innen nicht einmal träumen würden. Er ist nicht nur im „biblischen Alter“ gestorben, er hat es auch geschafft, aus seiner eigenen Person einen biblischen Protagonisten zu machen, inklusive Wunderwirken, Heiligsprechung und Aufstieg zum Gottvater. Die persönlichen Verbindungen, die er im Leben geknüpft hat, gerinnen im Tod zur staatspolitischen Apotheose: zum Symbol der „transatlantischen Freundschaft“, für deren Beitrag Bundeskanzler Olaf Scholz ihn vergangene Woche ehrte.

Als er im Juni ein letztes Mal nach Fürth flog, da trommelte man in guter Tradition einen Kinderchor zusammen, der ihm ein Ständchen schenkte. „Ein Freund, ein deutscher Freund“, sangen die Kleinen, während die Großen klatschten und ihm zujubelten: ihm, dem Heimgekehrten, der ihnen alles verziehen hatte.

Das ZDF hat die Aufnahmen von der Feier vergangene Woche noch einmal hervorgekramt. Für alle Unentschiedenen gibt es in dem Fernsehbeitrag eine Interpretationshilfe, die mit einer hübschen Schleife abmoderiert wird:

„Henry Kissinger, treuer Fan des Fußballclubs Greuther Fürth, bedeutender Europäer und Amerikaner. Auch umstritten ja, aber vor allem eines: ein legendärer Diplomat.“

Ein Podest statt einer Zelle

Andernorts ist Kissingers Mordsbilanz längst zum Meme geworden: Zum „Kiss of Death“, dem noch keiner entkommen konnte. In seinem Heimatland, den USA (nein, das war nicht Deutschland, sorry), reißt man Witze darüber, ob Kissinger der „GOAT“ war, der „Greatest Of All Time“ der Kriegsverbrecher in der US-amerikanischen Geschichte; und darüber, wie die Satire starb, als Kissinger den Friedensnobelpreis erhielt.

Als der Preisträger ihr vergangene Woche ins Jenseits nachfolgte, da kursierte in den sozialen Netzen eine Passage aus einem Buch des Kochs, Autors und Dokumentarfilmers Anthony Bourdain. Der hatte die „guten Taten“ Kissingers auf seinen Reisen mit eigenen Augen gesehen und seinen Leser:innen eine Botschaft mitgebracht:

„Wenn du einmal in Kambodscha gewesen bist, wirst du Henry Kissinger für immer mit deinen bloßen Händen zu Tode prügeln wollen.“

Man muss sich mit diesen Worten nicht gemein machen. Doch wenn man sich an der Barbarei dieser Mordfantasien stört, warum fällt es dann so schwer, die Barbarei der Morde zu benennen, die Henry Kissinger tatsächlich zu verantworten hat?

Vielleicht, weil er dafür nie zur Verantwortung gezogen wurde. Bourdain wollte Kissinger in einer Zelle neben Milošević sehen, gewährt wurde ihm stattdessen ein Podest, von dem ihn keine Enthüllung mehr herunterstoßen konnte. Ein halbes Jahrhundert nach Kissingers Jahren in Regierungsverantwortung sind zahlreiche Verschlusssachen geleakt oder für die Öffentlichkeit freigegeben worden. Sie alle belasten ihn schwer. Doch je älter der Elder Statesman wurde, desto rosiger fiel das publizistische Verdikt aus. Dem Mann, der öffentlichkeitswirksam mit der Nachkriegsordnung verschmolzen war, konnte keiner etwas anhaben.

Juristisch wurde Kissinger nie belangt, politisch reichte es maximal für salomonische Sätze, wie sie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) vergangene Woche zustande brachte. „Für viele war er Vorbild. Andere haben sich auch an ihm gerieben“, schrieb die Speerspitze der feministischen Außenpolitik auf X, anscheinend ohne einen Gedanken an die Frauen zu verschwenden, an deren Leibern sich die Peiniger von Kissingers Gnaden einmal gerieben haben.

Der Presse-Kultivator

In solchen Momenten schlägt normalerweise die Stunde von Journalist:innen: diejenigen, die „sagen, was ist“, um Kissingers Duzfreund Rudolf Augstein zu zitieren, dessen Leitspruch in der Eingangshalle des „Spiegel“-Gebäudes prangt. Für Kissinger kann man offensichtlich ein paar Schubladen tiefer greifen. „Sagen, was andere sagen“, was möglicherweise, wir wissen es nicht, passiert sein soll, ist hier oft gut genug.

Es gibt sie auch in Deutschand: Die passablen und die guten Kommentare: die Kissingers Vermächtnis angemessen würdigen und aufzeigen, mit welcher Energie er an seiner öffentlichen Persona gestrickt hat. Der US-Journalist Tom Koppel, der Kissinger auf vielen Reisen begleitet hat, hat schon vor langem erzählt, wie der sich im Nachhinein für sein Händchen mit Medien brüstete. In Koppels Worten:

„Er hat gesagt: ‚Ich habe die Presse kultiviert: Weil ich wusste, dass ihr mir viel Arbeit abnehmen könnt.‘ Oft wussten wir nicht einmal, was wir da für ihn taten. Er war sehr, sehr versiert darin, Menschen zu manipulieren.“

In Deutschland ist die Manipulation gelungen. Es sei ihm unbegreiflich gewesen, „wie ansonsten kritische Journalistinnen und Journalisten einen so widersprüchlichen Mann wie Henry Kissinger verehrt haben“, sagte Stephan Lamby, der sich vergangene Woche beim WDR an seine Anfangsjahre bei der „Zeit“ erinnerte.

Helmut Schmidt und Henry Kissinger umarmen sich
Henry Kissinger bei einem Empfang der „Zeit“ zum 90. Geburtstag von Helmut Schmidt 2008 Foto: Imago / Sven Simon

Jahrzehnte später scheitert die Vierte Gewalt noch immer daran, dieses groteske Ausmaß an Gewalt angemessen zu benennen. Man kann ja Kissingers Verdienste aufzählen. Aber warum erscheinen die Errungenschaften, an denen es unter Historiker:innen durchaus Zweifel gibt, in der Berichterstattung fast durchweg als Tatsachen, während aktenkundige Tatsachen zu zweifelhaften Behauptungen umgedeutet werden? Wenn Kissingers Tod Anlass ist, das transatlantische Bündnis der Demokratien zu feiern – wieso bleibt dann unerwähnt, dass er wie kein Zweiter für den Vorwurf der Doppelmoral steht, den sich Autokraten heute zunutze machen, um dieses Bündnis zu unterlaufen?

Kissinger waren die Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien egal. Und wenn der Altmeister Abschied feiert, dann ist deutschen Leitmedien, die von diesen fernen Landen oft erst dann berichten, wenn Präsidentschaftswahlen sind oder Krieg herrscht, ihr Schicksal auch heute kaum der Rede wert. Vor den Toten soll man Respekt haben, heißt es. Man wüsste gerne, was das für ein Respekt ist, der Kissingers Tote zu einer Fußnote in einem ansonsten makellosen Lebenslauf degradiert.

Superman, Superstar, Superkraut

Als Journalist:in muss man sich heute fragen, was hier eigentlich schief gelaufen ist. Und als Mensch muss man wissen, ob man sich vor einem solchen Ausbund an Unmenschlichkeit wirklich verneigen will. Es heißt, Kissinger sei ein Realpolitiker gewesen, der dem Hegemon und Weltpolizisten USA dazu verhalf, Ordnung und Sicherheit herzustellen. Dabei war das Bild schon immer schief: Er selbst sah sich bekanntermaßen als Cowboy, der nach Gutdünken walten konnte. Polizist:innen sind an Recht und Gesetz gebunden, Kissinger hatte kein Problem damit, die „Anarchie“ der zwischenstaatlichen Beziehungen zu zähmen, indem er Anarchie in diese Staaten hineintrug.

„Das sind nicht ja nur Vorwürfe, die irgendwie im Raum stehen – das ist ja aktenkundig“, sagte Stephan Lamby schon im Juni. Doch wozu schlechte Stimmung verbreiten, wenn man in alten Zeiten schwelgen kann? So wie Josef Joffe, auch er einmal Herausgeber der „Zeit“. „Den Hunderten von Nekrologen noch einen daraufzulegen, wäre, wie Schnee auf einen Piz Palü zu karren“, schrieb Joffe am vergangenen Sonntag in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Einen wollte er aber doch noch drauflegen:

„Doch sei diese Erinnerung an einen alten Freund erlaubt. Es geht nicht um echte oder unterstellte Sünden (Vietnam, Chile, Kambodscha), welche die Gazetten seit Jahrzehnten aufwärmen, sondern um ‚Henry himself‘: seinen Witz sowie die Treue und Zuneigung, die er – bloss keine Sentimentalität – stets in Ironie und Selbstironie verpackte.“

Ist das das Beste, was wir dazu zu sagen haben? Es mag ja sein, dass der Zweck manche Mittel heiligt. Aber wieviel Schuld kann ein Mensch auf sich laden, bevor sein Rückgrat unter dieser Last zusammenbricht? Wenn wir Massenmördern für die Ordnung danken, die sie angeblich gestiftet haben – in was für einer Ordnung leben wir dann?

Als Augusto Pinochet im Jahr 2006 an einem Herzinfarkt starb, da durfte sich mein Vater freuen. Anwälte hatten den Diktator vor Gericht gebracht, Medien benannten ihn öffentlich als das Scheusal, der er war. Henry Kissinger, seinem Freund und Helfershelfer, „Superman, Superstar, Superkraut“, ist dieses Schicksal erspart geblieben.

10 Kommentare

  1. Grandioser Artikel, vielen Dank! Meinungen zu Kissinger schwanken ja immer zwischen unkritischer Lobhudelei für den „großen Staatsmann“ und ihm als perfekter Zielscheibe für oft verschwörungstheoretisch und antisemitisch gefärbten Antiamerikanismus. Dazwischen gibt es leider zu wenig, aber das hier ist ein perfektes Beispiel dafür, wie man ohne plumpen Antiamerikanismus Kissingers „Lebensleistung“, nämlich trotz recht kurzer Amtszeit an fast allen wichtigen Verbrechen amerikanischer Außenpolitik im kalten Krieg maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, ebenso wie seine Selbstgerechtigkeit und Selbststilisierung benennt. Und übrigens ist der Artikel auch ein Musterbeispiel für das Einbinden externer Quellen und Verweise.

  2. Der Beweis, man kann kritisch und würdig über Tote (tote Kriegsverbrecher) schreiben. Einfach nur ‚Danke‘!

  3. Nicht zu vergessen, die ewige Sehnsucht/Forderung vieler Deutscher nach „Versöhnung“ mit den Opfern (bzw. deren Nachkommen) des Holocaust und allgemein der Verbrechen des Dritten Reiches. Mal abgesehen davon, dass man da allenfalls um Verzeihung bitten kann und da auch kein Anspruch darauf bestehen kann: Es ging und geht da nur noch um die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ (Eike Geisel). Diese Leute waren natürlich bei Herrn Kissinger recht gut aufgehoben und konnten sich – „In Vietnam wird … verteidigt“ – doch letztlich noch als hehre Wahrer einer hochstehenden Zivilisation fühlen.

  4. #2:
    Dieser Antisemitismus zur Persona Kissinger ist mir in sozialen Netzwerken auch schon massiv aufgefallen. Gerade die Linke Bubble ist massiv davon betroffen. Statt Kissinger für seine zahllosen widerlichen Taten an den Pranger zu stellen, nutzt man seine Persona, um die alte Mär vom „Juden, der das Weltgeschehen kontrolliert“ weiter zu spinnen.

  5. Fantastischer Artikel, der die bei mir in den letzten Wochen erzeugt Irritation gut zusammenfasst. Für mich als jungen Menschen, der Kissingers manipulative Art nicht auf der Höhe seiner medialen Präsenz erlebt hat, ist diese verneigende Haltung großer, mächtiger Medienmacher und Politiker Deutschlands völlig unverständlich und macht mir schon Sorgen. Dass dann selbst PolitikerInnen wie Bärbock mit in den Chor einstimmen, hat mich nur enttäuscht.

  6. Danke für diese überfällige Einordnung! Kann sich eigentlich jemand noch daran erinnern, dass Henry Kissinger (neben Placido Domingo) einmal in die „Anitikorruptuons-Kommission“ der FIFA berufen werden sollte, auf Wunsch von Sepp Blatter? Eine der denkbar irrwitzigsten Konstellationen, deren satirisches Potenzial nie ausreichend gewürdigt wurde.

  7. Herzlichen Dank für diesen Artikel. Die Nachrufe auf H. Kissinger waren unerträglich. Kurz vor der Heiligsprechung.
    Egal ob Zeitungen oder Fernsehen- allen voran der ÖRR- kein kritisches Wort. Z. B. E. Thevesen im ZDF: ein ganz Großer sei gestorben und es gab auch den einen oder anderen Kritiker. Was wer an Kissinger kritisierte, wurde nicht genannt.
    Seine aktive Rolle am Sturz der demokratisch gewählten Allende- Regierung vergessen. Allen voran deutsche Politiker*innen, wie die Vertreterin der Wertegeleiteten Außenpolitik.

  8. Was für ein Blick hinter den Vorhang auf der Bühne der Macht und ihrer journalistischen Geschichtenerzähler. Danke schön!

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.