Bahnhofskiosk

Eine Zeitschrift über Pilze – von Leuten, die sich eher mit Pilzen auskennen als mit Zeitschriften

Pilze sammeln hat viel mit Zurückhaltung zu tun. Nicht nur, weil sie einen nicht krank machen oder ins Grab bringen sollen, sondern auch aus Nachhaltigkeit: Nicht alles, was einem der Wald bietet, darf man auch plündern. Stichwort: Eigenbedarf. Und schließlich hat das Pilzesammeln auch etwas von einem gut behüteten Geheimnis – vor allem, was die Orte angeht, an denen Pilze wachsen.

Das Pilzesammeln ist also, wenn man so will, eine Art exklusives Hobby, das aber nicht elitär ist wie Segeln oder Golfen, weil es sich jeder leisten kann. Aber zu dem nur diejenigen Zugang haben, die über das entsprechende Wissen über Plätze und essbare Arten verfügen.

Titel: Garten-Tipps Spezial Pilze

Deshalb war ich skeptisch, als ich kürzlich in der Bahnhofsbuchhandlung das Magazin „Enzyklopädie der Pilze“ aus der Reihe „Garten Tipps Spezial“ im Regal entdeckt habe. Es wirkte wie ein dezentes Anzeichen dafür, dass da etwas im Kommen ist.

Meine Sorge war: Könnte Pilze selber sammeln nach Makramee selber knoten, Monsteras selber züchten und Brot selber backen der nächste Do-It-Yourself-Trend werden? Und befeuern solche Magazine nicht diesen Trend? Zählen zu meiner Pilzesammel-Konkurrenz künftig nicht mehr nur die Rentner:innen – die mich herausfordern, weil sie früher aufstehen, früher im Wald sind und mehr Zeit haben als ich – sondern auch hippe Großstädter in zu teuren Outdoorjacken?

Bitte nicht.

Sympathisch unprofessionell

Beim ersten Blick ins Heft, das übrigens im selben Verlag erscheint wie „Happy Stricken“, „Back dich schlank“, „Häkeln mit Verlaufsgarn“ und „Garten Bibel – Beschneiden“, die Erleichterung: Layout, Bildauswahl, Typografie und Text sind so altbacken und unprofessionell, dass der Look den spontanen Käufer, der mit Pilzen bisher nicht viel am Hut hatte, kaum überzeugen dürfte.

Hier wird das Pilzesammeln nicht zum Hype erkoren. Hier haben Pilznerds, die mehr Ahnung vom Pilzesammeln haben als vom Magazinmachen, einfach mal ein Heft herausgebracht – für andere Pilznerds. Das ist eigentlich ganz sympathisch.

Hätte man Zeitschriftenprofis damit beauftragt, ein Magazin über Pilze zu konzipieren, das am Bahnhofskiosk Menschen zum Kauf animieren soll, würde man darin Reportagen über Pilzwanderungen finden, Interviews mit Pilzforscherinnen, eine kritische Auseinandersetzung mit Pilzerkennungs-Apps fürs Smartphone (ich halte übrigens nicht viel davon), sicher auch einen Exkurs (vielleicht mit Selbstversuch) in die Welt der Psychedelika und Mushroom-Trips, wie in der Netflix-Doku „Verändere dein Bewusstsein“. Und alles wäre illustriert mit schicken, hochauflösenden Naturfotografien oder spektakulären Nahaufnahmen von Fruchtkörpern, Myzelen und Sporen, wie in dieser anderen Netflix-Doku „Fantastic Fungi“. (Ja, bei Netflix ist ein medialer Hype um Pilze, konkret um die bewusstseinserweiternden, längst festzustellen. Und sogar das „Missy Magazin“ hatte kürzlich einen „Schwerpunkt Pilze“.)

Beim Speisepilz scheint das noch anders zu sein. Viele bevorzugen doch die getrockneten Steinpilze aus dem Delikatessen-Markt oder die vorsortieren Pfifferlinge aus der Bio-Abteilung. Auf das Risiko, den Falschen zu erwischen, verzichten die meisten lieber.

Auf die wichtigste Regel, nur Pilze mitzunehmen, die man hundertprozentig kennt, weist das Heft gleich im Editorial in gestelztem Mykologen-Deutsch hin:

„Ihre Gesundheit liegt uns besonders am Herzen. Aus diesem Grund gemahnen wir Sie allzeit zur Vorsicht und empfehlen, im Zweifel immer einen Experten oder ein Fachbuch zu Rate zu ziehen.“

Ich würde sogar gemahnen, sich als Nicht-Kenner auch nicht auf Fachbücher zu verlassen, sondern immer erstmal mit jemanden in den Wald zu gehen, der sich auskennt. Jedes Jahr gibt es Pilzesammler, die den Knollenblätterpilz mit einem Champignon verwechseln, ein Fehler, der tödliche Folgen haben kann. Auch auf diese Gefahr weist das Heft richtigerweise ausdrücklich hin.

Nah am Pilz

Die Texte im Heft sind, nun ja: nah am Pilz. Anders kann man es nicht beschreiben. Aber schon der Titel „Enzyklopädie der Pilze“ verrät ja, dass es sich hier – trotz magazinartiger Aufmachung – eher um ein Pilze-Nachschlagwerk handelt. Um Menschen, die Pilze sammeln, geht es definitiv nicht – auch wenn sie auf dem ein oder anderen Foto mal als Beiwerk auftauchen. Viele der Fotos wirken wie Schnappschüsse eines erfolgreichen – und teilweise schon etwas länger zurückliegenden – Familienausflugs in den Wald. Sie zeigen immer wieder dieselben Personen.

Die Texte wirken in ihrer Behäbigkeit wie aus einem anderen Jahrzehnt. Der Beitrag über Täublinge beginnt so:

„Das Vergnügen, durch den Wald zu streifen, besteht auch darin, die unendlichen Farben zu entdecken und zu bewundern, mit denen die Natur ihre Geschöpfe kleidet, und gerade Täublinge bieten uns stets ein wunderschönes Schauspiel, so vielfältig sind die Farben und Schattierungen dieser Pilze.“

Wer Pilze nicht mindestens so liebt wie der Autor dieses Textes, der steigt hier vermutlich schneller aus, als man „Schopftintling“ sagen kann.

Die Seiten sind vollgewuchert mit Fotos von Pilzen, von denen einer fast aussieht wie der andere. Was, das muss man zur Verteidigung des Heftes sagen, auch sinnvoll ist: Um Pilze richtig zu bestimmen, muss man sie von allen Seiten sehen (Hut, Stiel, Lamellen bzw. Schwamm) und auch ihre ungenießbaren oder giftigen Doppelgänger kennen und gesehen haben.

Ein Blick in das Heft "Pilze": Der Frauen-Täubling und der Wiesel-Täubling

Viele Infos für den nächsten Pilz-Smalltalk

Für mich als Pilzsammlerin mit solidem, aber nicht allzu tiefem Pilzwissen hat dieses Heft neue Informationen parat. So wusste ich zum Beispiel nicht, dass es „Stadt-Champignons“ gibt, die aus dem Asphalt sprießen können. Oder was man unter „Bauchpilzen“ versteht (es sind Pilze, die weder Hut noch Stiel haben). Mir war auch nicht klar, welche Bedingungen und Baumnachbarn das Wachstum der Speisemorchel fördern und dass man diese auch schon im März findet. Und falls Sie sich wundern, warum wir diesen Text Ende November veröffentlichen, wo die offizielle Pilzsaison doch schon fast rum ist, dann erfahren Sie es aus dem „großen Pilzkalender“ im Heft: Pilzsaison ist eigentlich immer. Ich sage nur: the time of the Steineichenraufuß (a.k.a. „Weihnachtsröhrling“) is yet to come!

Ich wusste zwar, dass manche Leute den Netzstieligen Hexenröhrling sammeln. Aber dank dieses Heftes weiß ich nun auch, dass er ein „thermolabiler“ Pilz ist, also einer, der roh noch giftig und gekocht essbar ist. Ich werde ihn trotzdem weiterhin im Wald stehen lassen, solange mir eine fachkundigere Pilzesammlerin nicht mindestens einmal live gezeigt hat, woran ich ihn erkenne und wodurch ich ihn von giftigen Doppelgängern unterscheiden kann.

Als ich schließlich beim Impressum auf der letzten Seite ankomme, bin ich überrascht. Denn das „Neu“ auf dem Magazintitel ist relativ: Das Heft wurde 2020 veröffentlicht. Und die „nächste Ausgabe“, die für September 2020 angekündigt war, ist nie erschienen.

Vielleicht ist Pilzesammeln doch nicht so ein großer Hype, wie ich befürchtet habe.

8 Kommentare

  1. Zwei hübsche Fehlerchen: „die aus dem Asphalt spießen“ und „weder Hut noch Stil“. Man stellt sich im einen Fall einen Stadt-Champignon mit Pickelhaube vor. Und im anderen einen Pilz mit Bierbauch, Filzhut und Tennissocken. Danke für diese hübsche Vorstellung!

  2. Der Hexenröhling ist sicher ein Röhrling. :)) Sage ich aus der Warte des ebenfalls abstrakt belesenen und trotzdem im Wald vor allem anderen als Maronen-, Stein- und Birkenpilz vorsichtshalber zurückweichenden Interessierten (mit Bundeswehrparka, auf dass mich ja niemand findet, wenn ich mal verschütt gehe im Wald).

    Ansonsten: Bahnhofskiosk … jay! Pilze … jay! Fehlen nur noch Fußnoten!

  3. Großartiger Artikel, vielen Dank. Ich esse zwar keine Pilze und sammel sie nicht, aber sie haben absolut eine Berechtigung in der Magazinlandschaft.

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