Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
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Man könnte fast jeden Tag über „Nius“ schreiben, die rechte Wut- und Wüter-Seite um den geschassten „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Es genügt ein Klick auf irgendeinen Artikel, irgendein zufälliges Video, und man sitzt mit offenem Mund vor den Abgründen aus Hass und Gehässigkeit, Verdrehungen und Verleumdungen, Manipulation und Wahn.
Aktuell findet man dort zum Beispiel ein Kurzvideo von Reichelt, in dem er tut, was er fast immer tut: Seine ungehemmte Verachtung für alles, was irgendwie politische grün ist, und für ein demokratisches System, in dem Vertreter dieser Partei als Teil einer Koalition mitregieren dürfen, und für eine Bevölkerung, die deshalb nicht jeden Tag alles anzündet, in eine Kamera zu erbrechen.
Das klingt zum Beispiel so:
„Für die Grüne Partei muss es ein sagenhafter Rausch sein, dieses Land zu regieren. Stellen Sie sich vor, Sie wären nicht mal qualifiziert, um eine Imbissbude zu führen und plötzlich händigt man Ihnen das ganze Land aus. Sie hätten nichts gelernt und nie gearbeitet und verdienten auf einmal mehr als 90 Prozent der Menschen in diesem Land. Niemand will, was Sie wollen, aber – Sie können es einfach trotzdem machen. Niemand hat Sie direkt gewählt – von 118 Grünen im Bundestag haben nur 16 einen Wahlkreis gewonnen – und doch behaupten Sie einfach, Hüter der einzig wahren Gesinnung zu sein. Menschen, die keine Alternativen haben – so wie die Grüne Partei – werden gefährlich. Die Alternative zur Macht für die meisten Grünen wäre Arbeits- und Bedeutungslosigkeit. Das ist der Grund, warum die Grüne Partei inzwischen ganz offen und unverblümt spricht wie eine totalitäre Bewegung.“
Womöglich gibt es irgendeinen Anlass oder Zusammenhang, aber nicht in diesem Kurzvideo, und wer braucht schon einen Anlass oder einen Zusammenhang, wenn es darum geht, eine ganze Partei zu diskreditieren als hätte sie die Macht ergriffen wie 1933.
Das nächste Video beginnt dann mit einem Foto, auf dem Luisa Neubauer den Papst trifft, und eine junge Moderatorin sagt: „Hier treffen zwei religiöse Führer aufeinander. Der eine verantwortet körperliche Vergehen an Kindern. Die andere sorgt für psychische Instabilität bei jungen Menschen, im Fachjargon ‚Klimaangst‘ genannt.“ Und so weiter, und so fort.
Wir fragen uns gelegentlich in der Redaktion, ob wir mehr über dieses Medium berichten sollten, das sich als „Stimme der Mehrheit“ bezeichnet und offenbar von einem Milliardär finanziert wird. Persönlich glaube ich bei solchen Themen und Seiten nicht, dass Ignorieren und Wegschauen hilft; dass man ernsthaft Gefahr läuft, einer Seite durch kritische Begleitung überhaupt erst richtig Aufmerksamkeit zu verschaffen: Dafür sorgen schon die Algorithmen und die radikalen Fans in den Sozialen Medien. Trotzdem ist klar, dass das Provozieren von Entrüstung, bei den eigenen Leuten, aber auch den Kritikern, ein wesentlicher Teil des Konzeptes ist, und man muss einer solchen Strategie nicht auf den Leim gehen.
Doch selbst für „Nius“-Verhältnisse war diese Woche ein Tiefschlag. Man griff dankbar die Vorlage von CDU-Chef Friedrich Merz auf, der am Mittwoch vergangener Woche gesagt hatte: „Die werden doch wahnsinnig, die Leute, wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“
Die Antwort von „Nius“ auf die dadurch ausgelöste Debatte war dieses zum Teilen gemachte Bild:
Selbst wenn die Leute von „Nius“ einige Asylbewerber gefunden hätten, die mit ihren neuen Zähnen auf Kosten der dummen deutschen Steuerzahler prahlen, wäre das eine niederträchtige Montage, die Ressentiments schüren und anfeuern will; ein Bild in der Tradition übelster Demagogie zur Verunglimpfung ganzer Völkergruppen.
Aber die Asylbewerber, die die Leute von „Nius“ gesprochen haben, haben sich gar nicht „die Zähne neu machen lassen“. Sie berichten fast alle, dass sie Schmerzen hatten, dass sie Karies hatten, Routinebehandlungen. Für manche war es der erste Besuch überhaupt in ihrem Leben beim Zahnarzt. Keiner von ihnen sagt, dass er wegen der guten Zahnversorgung hier nach Deutschland gekommen ist.
Das Gesicht eines 14-Jährigen haben die „Nius“-Profis versucht, unkenntlich zu machen, was ihnen nicht einmal im Ansatz gelungen ist.
Die Befragten, die überwiegend kaum Deutsch sprechen, scheinen nicht zu wissen, was das für ein Medium ist, mit dem sie reden, „die Stimme der Mehrheit“, nicht die Stimme einer Minderheit wie der Flüchtlinge. Die werden nur vorgeführt. Zu dem Satz „Danke Deutschland für die Zähne“, den mehrere in die Kamera sagen, scheinen sie aufgefordert worden zu sein, so wirkt es zumindest.
„Nius“ notiert noch bedeutungsschwanger, dass „auffallend“ gewesen sei, dass alle eine deutsche Krankenversicherungskarte vorweisen konnten, „obwohl sie teilweise erst seit einem Jahr in Deutschland lebten“. Dabei ermöglicht eine Gesundheitskarte nur vergleichsweise unbürokratisch, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu bekommen.
Die (ohnehin problematische) Unterscheidung, dass Merz ausdrücklich von abgelehnten Asylbewerbern sprach, die eigentlich ausreisen müssten, lässt „Nius“ ganz weg. Das ist auch alles egal. Es geht nur darum, Stimmung zu machen gegen all die Horden, die es sich angeblich auf Kosten der Deutschen, der Mehrheit, gut gehen lassen. Und es geht darum, diese Menschen zu benutzen, um Stimmung zu machen gegen Leute, die der fremdenfeindlichen Rhetorik von Merz widersprechen, die nicht den Reflex haben, dass man jetzt darüber nachdenken sollte, ob Asylbewerber eigentlich überhaupt zum Zahnarzt gehen müssen oder dürfen oder nicht die Schmerzen einfach aushalten sollten, irgendwo hört’s mit der Humanität ja auch mal auf.
Der „Nius“-Beitrag ist anonym veröffentlicht. Im HTML-Code ist als Autor Philippe Fischer angegeben, Absolvent der Axel Springer Akademie, der für „Computer Bild“ und „Techbook“ gearbeitet hat, bevor er zu „Nius“ wechselte. Als Chefredakteur verantwortet Jan David Sutthoff die Inhalte, ein Menschenfreund, der sich „als Feelgood-Leader“ versteht, der als Führungskraft überzeugt ist, dass Menschen „nur dann ihr Bestes geben können und wollen“, wenn sie sich gut auf ihrer gemeinsamen Mission fühlen.
Man muss sich diese Hetzer gut gelaunt vorstellen.
Nachtrag, 12.10.2023. Das NDR-Medienmagazin „Zapp“ hat die Flüchtlingsunterkunft besucht, vor der „Nius“-Reporter die Männer offenbar angesprochen haben. Die Betroffenen berichten unter anderem, dass sie von den Reportern aufgefordert worden seien, ihr Zähne zu zeigen und den Daumen zu heben. „Im Grunde wurden die Leute missbraucht“, sagt die Leiterin des Wohnheims. „Denen wurden die Worte im Mund umgedreht.“ Dass sie selber eine Zuzahlung für Zahnbehandlung geleistet hätten, sei zum Beispiel nicht erwähnt worden. (Beitrag ab Minuten 24:00.)
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Er hat unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und den „Spiegel“ über Medien berichtet.
Dazu fällt mir nur Max Liebermann ein: „Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“
Bin gespannt, mit wieviel Stolz der Menschenfreund seine Vita um die Station NIUS ergänzen wird und wohin sein Karrierepfad ihn danach führen wird. Kann man dann „verbrannt genug“ sein, um von anderen Medienhäusern nicht mehr angefasst zu werden?
Danke, Stefan, dass Du Dir diesen Kram* für uns anschaust. Dieses sinnlos mit Dreck-werfen-es-wird-schon-was-haften-bleiben funktioniert.
Leider werden diese Spezialhetzer nie nach der Alternative gefragt: #1 Was machen wir, wenn ein Asylbewerber Zahnschmerzen hat? Zahn rausschlagen und Wunde mit glühendem Stahl ausbrennen?
#2 Wohin schieben wir einen abgelehnten Asylbewerber ab, wenn das Herkunftsland ihn nicht nimmt? Zurück ins Mittelmeer?
#3 Was passiert konkret, wenn der 200.001 Asylbewerber im Kalenderjahr es nach Deutschland geschafft hat, wir aber die Obergrenze von 200.000 vereinbart haben? Schubsen wir ihn zurück nach Polen? Oder soll er gleich vor Ort erschossen werden? Und wenn ja, von wem?
</zynismus>
* Ich hatte da erst ein etwas weniger freundliches Wort stehen. Aber: Michelle Obama.
Ja schlimm. Und nun auch noch ein „ABER“.
Aber wer hat das Thema Migration im Vorfeld der Wahlen so hochgejazzt?
Waren es nur die rechten Schmierlappen – sorry, Kampagnensoldaten?
Wie gut wirken denn mißglückte Faktenchecks zum Thema, inhaltlich halbgare Kontras und Kampagnenkopien aus der Hölle (danke SZ)?
Die AfD wünscht sich Migration als Thema und keiner schafft es ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Die Populisten und Kampagnenschmierer unter den Medienmenschen sind allen anderen um Längen voraus, einfach weil sie keine Skrupel haben.
Nicht falsch verstehen, ich bestehe auf diese Skrupel, aber der Umgang mit den Kollegen von der Hetzjournaille ist fatal schwach und verstärkt am Ende nur noch die Narrative der Kampagnen.
Das, was Übermedien versucht, nämlich über Medienkritik ein Gegengewicht zu schaffen, erreicht leider nur einen sehr kleinen Kreis.
Ja man könnte böse von einer Nabelschau sprechen.
Ich habe leicht quatschen, das ist mir klar, aber verdammt, was kann man tun?
Ist „Nius“ die Stimme der Mehrheit? Nach den Wahlen in Bayern und Hessen glaube ich: Rot-Grün ist in der Minderheit. Die „Süddeutsche Zeitung“ ist nicht mehr tonangebend. ARD und ZDF sind keine Meinungsführer mehr. Frank Gemein ist ziemlich allein.
Also das obige Foto von Nius wirkt nicht nur auf den ersten Blick so, als würde ich es eher in der Titanic vermuten als sonst irgendwo anders. Das geht echt nicht in meinen Kopf, dass das für irgend jemanden nicht satirisch/lächerlich/absurd wirken könnte…
(An sich wäre das eine schöne Vorstellung, wie NIUS versucht, Ausländerhass zu schüren, aber dann seine Leser eher zum gutmütigen, sympathisierenden Schmunzeln bewegt.)
@Florian Blechschmied:
Nius ist die Spitze eines populistischen Eisberges.
Und die Ampel wird auch gleich auf „Rot-Grün“ reduziert, indem man die gelben Loser aussen vor läßt.
Monate der Dauerkampagne gegen Habeck, primitivste Angriffe gegen Frau Lang.
Das Döpfner-Leak, welches offenbarte wie bei Springer Meinungsmanipulation Chefsache ist. Ein gelber Koalitionspartner, der in der Regierung Opposition macht.
Ich mag die Grünen nicht.
Aber da sich der Rest der Kaste komplett dem Wahnsinn gegen die Physik verschrieben hat, tut es schon weh zuzusehen, wie idiotisch teilweise gegen sie polemisiert wird.
Schäbig, wie die Krisen benutzt werden aus reinem Machtkalkül.
@#5:
Selbst wenn Rechte und Rechtskonservative in der Mehrheit seien sollten, müssten sie sich doch ein Organ wünschen, dass nicht lügt und diffamiert? Was habe ich davon, wenn mir pausenlos mein Weltbild wiedergespiegelt wird, das Ganze aber vorne und hinten zusammengeschwindelt und nur darauf ausgelegt ist, den Erregungsapparat auf Temperatur zu halten – koste es was es wolle.
@Frank Gemein:
> was kann man tun?
* Für Übermedien werben, da die behandelten Themen hier sehr wichtig und unterhaltend zugleich sind. (Prinzip: mehr Geld für bessere Medien)
* Antworten aus der Wissenschaft recherchieren und danach handeln: https://en.wikipedia.org/wiki/Populism#Mainstream_responses
(zeitaufwendig, gerade das Einbringen in die Politik)
* Die Vorschläge von https://www.deutschlandfunkkultur.de/poerksen-und-schulz-von-thun-die-kunst-des-miteinander-100.html aufnehmen:
„Im Umgang mit Andersdenkenden empfehlen die beiden Autoren einerseits eine Balance von Empathie und Konfrontation beziehungsweise von „Achtung und Ächtung“ – eine von vielen treffend zugespitzten Wendungen. Andererseits sind sie sich darin einig, dass nicht unter allen Umständen ein Gespräch möglich ist.
„Man muss in einer Zeit, in der sich die Grenzen des Sagbaren so rasant verschieben, härter diskutieren, klarer die roten Linien einer Debatte definieren“, so Pörksen. [..]
[..] „Analysiere den Kontext! Erkenne dein Dilemma! Begreife das Risiko! Kalkuliere den Preis!“
„
Für mich sind diese Leute wie Reichelt, Basad, Schreiber etc. schlicht und einfach „Rechte Hassprediger“. Und so sollten Sie meiner Meinung nach immer tituliert werden damit sich das verfängt.
@Tom
Sie werfen Leute in einen Topf, die nicht in einen Topf gehören. Das läuft auf ein moralisches Verbot hinaus, bestimmte Strömungen und deren Ideologie zu kritisieren, weil das rassistisch oder islamophob wäre. Dann landet man schnell bei Thesen wie der, dass die Hamas nichts mit dem Islam zu tun habe oder gar im aktuellen Konflikt das eigentliche Opfer sei. Und liefert Futter für die wahren Hassprediger (zu denen ich in Ihrer Reihe nur Reichelt zählen würde).
Heute Abend dazu im ZAPP Medienmagazin ein Beitrag, wie NIUS vorgegangen ist. Ich zitiere von Twitter: „Vor einem Flüchtlingswohnheim in Berlin haben zwei Nius-Reporter gezielt Anwohner angesprochen und gefilmt. Vergangene Woche waren auch wir vor Ort: Betroffene erzählen uns: Sie sollen aufgefordert worden sein, ihre Zähne zu zeigen und den Daumen zu heben. “Im Grunde wurden die Leute missbraucht“, sagt uns die Leiterin des Wohnheims. „Denen wurden die Worte im Mund umgedreht. Dass sie selber die Zuzahlung (für die Zahnbehandlung, d. Red.) geleistet haben, wurde nicht gebracht.“
[gelöscht]
In Deutschland dürfte kaum bekannt sein, wie die Gelder im ambulanten Bereich quartalsweise via Körperschaft „Kassenärztliche Vereinigung“ zugeteilt werden – was letztlich von erfolgten Sachleistungen für die Leistungserbringer dann in konvertibler Währung €uro auf das Konto transferiert wird und welche Vorwegabzüge noch so schon zuvor „reklamiert“ werden.
Die Folge sind Auszahlungsquoten von teilweise weniger als der Hälte, wenn man Prozentrechnung bemüht.
Der geballte Unmut zeigt sich inzwischen in Aktionen wie dieser beispielweise:
https://praxenkollaps.de/#7-punkte
@ Florian Blechschmied / #5: Genau dieses Selbsverständnis: Wir sind oder sprechen für die Mehrheit – ob nur gefühlt oder tatsächlich, ist da ziemlich egal – und das gibt uns das Recht, nach Belieben gegen irgendwelche Minderheiten zu hetzen, zu lügen und zu manipulieren, wie wir wollen – das wird im Artikel kritisiert. Wenn Sie diesen rassistischen Dreck, diesen „Journalismus“ in Stürmer-Tradition, auch noch toll finden (weil MEHRHEIT!!!11!), ist das Ihre Sache.
Ex-BILD-Chef Reichel – der Hassprediger, der die Zündeleien von Brandstifter Merz zu Feuer entfacht. Die zweite Klimakatastrophe – wo gibt es hier noch eine Feuerwehr?