Wochenschau (152)

Wie Hans-Werner Sinns alte These, dass die Klimapolitik schlecht fürs Klima ist, immer neue Ehrenrunden dreht

Nicht selten hört man den Vorwurf, dass Medien voneinander abschreiben würden. Diese Klage wird nachvollziehbarerweise besonders laut, wenn viele Publikationen nahezu wortgleich einen zweifelhaften Inhalt verbreiten. Wie am vergangenen Dienstag, als eine Aussage des Ökonomen Hans Werner Sinn über die Effizienz der klimapolitischen Maßnahmen mit einem peppigen „Das Verbrennerverbot beschleunigt den Klimawandel“ als Überschrift in diversen Online-Medien zu lesen war.

An diesem Beispiel lässt sich prima die Spannung der Verwertungskette veranschaulichen, die zwischen Medien und Nachrichtenagenturen aufgezogen ist. Nachrichtenagenturen beliefern Redaktionen mit Inhalten, aus denen dann in der täglichen Produktion zusammen mit redaktionseigenen Recherchen und Analysen, wie zum Beispiel Meinungsstücken, das publizistische Angebot einer Nachrichtenanbieters entsteht. So werden allerdings erfolgreich auch Politiker- oder Expertenaussagen amplifiziert, die Nonsense, selbstreflexiv im Provokationsbestreben oder schlicht publizistisch nicht so relevant sind und nur Reichweite erfahren, weil der Absender prominent ist. Der Akt des Verbreitens macht den Inhalt – das was Medienwissenschaftler Lorenz Engell vielleicht als “das tägliche Gerede” beschreiben würde – zur Nachricht. Und dadurch, dass es eine Nachricht wird, findet es Verbreitung.

Wenn zweifelhafte Aussagen dann auch noch ohne kritische Einordnung in Erfüllung einer Chronistenpflicht als „He-said-she-said“-Inhalt von Redaktionen pflichtbewusst oder unreflektiert veröffentlicht werden, wird im schlimmsten Fall auch Bullshit zu einer Meldung. Und irgendwo steht in dieser Kette nicht selten jemand, dem dieser Bullshit politisch gut in den Kram passt.


Chronik einer Meldung – das Dramolett einer Nachrichtenverwertungskette in vier Akten.

Prolog

Klimaklub statt Alleingänge: Die aktuelle Klimapolitik ist kontraproduktiv
Screenshot: merkur.de

Im Juni veröffentlicht der frühere Präsident des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn einen Gastbeitrag im „Münchner Merkur“, in dem er argumentiert, warum „Klimapolitische Alleingänge im Kampf gegen den Klimawandel nicht viel bringen“ würden. Seine These: Wenn nur einige Länder ihre Nachfrage nach Brennstoffen reduzieren, fällt der Ölpreis, weshalb andere Marktteilnehmer umso mehr Öl kaufen. So könne eine Einschränkung der Nachfrage nach Öl sogar zu einer Beschleunigung des Klimawandels führen.

Im Laufe der Jahrzehnte hätten die erdölfördernden Länder eine „rigide Angebotsstrategie“ gefahren, „die sich durch Preisschwankungen nicht beirren ließ“, also: im ungefähr gleichen, langsam ansteigenden Maß Öl gefördert. Das habe sich allerdings während der Corona-Krise geändert:

„Als Reaktion auf die Krise fielen zunächst die Ölpreise, weil überall auf der Welt die Räder der Industrie wegen der Lockdowns und Quarantänemaßnahmen zum Stillstand kamen. Um zu verhindern, dass die Preise ins Bodenlose fallen, reagierte die OPEC erstmals seit fast vier Jahrzehnten mit einer Reduktion der verkauften Mengen. Der gewünschte Effekt stellte sich alsbald ein, denn die Preise stiegen sofort wieder und schossen dabei sogar über das anfängliche Niveau hinaus. Mit dem absehbaren Ende der Covid-Krise normalisierten sich die Preise und die Angebotsmengen allmählich wieder.“

Sinn zieht daraus folgende Lehre:

„Wenn nur Teile der Welt die Nachfrage nach Brennstoffen einschränken, reagieren die Ressourcenländer nicht, weil andere Teile der Welt zu fallenden Preisen bereitstehen, die freigegebenen Mengen zu absorbieren. Der Klimawandel setzt sich ungemindert fort.

Wenn es aber gelingt, den großen Klimaklub zu gründen, bei dem die relevanten Länder gemeinsam die Nachfrage einschränken, dann haben sie die OPEC in der Hand und können sie mangels Absatzalternativen zwingen, das Öl im Boden zu lassen.“

Allerdings hat seine Argumentation Lücken, zum Beispiel: Warum sollten Länder, selbst wenn es günstiger wäre, mehr Öl kaufen als sie verbrauchen?

Sinn behauptet auch, dass das europäische Verbrennerverbot bei den Autos und der Ersatz von Ölheizungen durch Wärmepumpen kontraproduktiv sei, weil Elektroautos und strombetriebene Wärmepumpen dazu führten, dass mehr Strom aus Braunkohle produziert würde: „Elektroautos sind ‚Kohleautos‘“, schreibt er. (Er müsste eigentlich wissen, dass über die Hälfte des Stroms in deutschen Haushalten aus erneuerbaren Energien generiert wird.)

Allerdings ist sein Fazit nicht, dass wir nur auf alte Autos und herkömmliche Heizungen setzen sollten, sondern er plädiert dafür, eine „notwendige weltweite Übereinkunft“ zu erlangen, „eine weltweite Friedensordnung“, und „gemeinsame politische Maßnahmen“, um Länder daran zu hindern, das günstiger werdende Öl zu kaufen. (In dem Punkt, dass mehr Klimaschutz mit Hilfe internationaler Zusammenarbeit besser wäre, widerspricht ihm sicherlich keiner seiner Kritiker.)

Die „Bild“-Zeitung nahm seinen Gastbeitrag auf und machte ein eigenes Stück daraus, in dem Sinns Einschätzungen ausführlich paraphrasiert werden.

Prof. Sinn rechnet mit Ampel und EU ab: So schlecht ist unsere Klimapolitik fürs Klima!
Screnshot: Bild.de

Der Artikel beginnt mit den Worten: „Der Vorwurf des Münchener Wirtschaftsprofessors: Unsere Klimapolitik, die den Ausstieg aus Öl und Kohle vorantreibt, hilft dem Klima nicht.“ Die Headline „So schlecht ist unsere Klimapolitik fürs Klima!“ und die Zwischenüberschrift „Klimaeffekt der EU-Anstrengung: gleich Null!“ klingen, als würden hier Fakten präsentiert und nicht etwa persönliche Einschätzungen.

1. Akt: Die „Bild“ und der Mann mit der gewünschten These

Der „Bild“-Zeitung haben Sinns Aussagen offenbar gut gefallen. Am 1. August veröffentlicht sie ein Interview mit ihm und lässt sich für einen neuen Artikel einfach nochmal direkt von ihm erzählen, was sie in ihrem Beitrag über seinen Beitrag im „Münchner Merkur“ bereits von ihm zitiert hatte. (Praktischerweise führt das Interview derselbe „Bild“-Journalist, der vorher auch schon Sinns Aussagen im „Münchner Merkur“ für „Bild“ zusammengefasst hatte: Felix Rupprecht.)

ÖKONOM HANS-WERNER SINN IM BILD-INTERVIEW: Habecks Verbote beschleunigen den Klimawandel
Screenshot: Bild.de

Da Sinn in den letzten vier Wochen seine Thesen nicht neu erfunden hat und sich auch in der Weltgeschichte bezüglich des Klimas nicht so unglaublich viel verändert hat, ist es inhaltlich der nahezu gleiche Artikel. Die Quintessenz, der deutsche Klimaschutz schade dem Klima, solange nicht alle mitmachen, wird hier noch ergänzt um eine Frage nach Wind- und Sonnenstrom (Antwort: „werden uns nicht alleine versorgen. Die Quellen sind nicht regelbar und das Wetter ist unstetig. […] Wir können die Energiewende leider nicht ohne fossile Energieträger bestreiten, weil wir auf die Kernkraft verzichten.“).

Das sind natürlich Aussagen, die jedem Vertreter der fossilen Lobby den Start in den August besonnt hat.

2. Akt: Eine Nachrichtenagentur macht aus keiner Nachricht eine Nachricht

Aus dem „Bild“-Interview mit den wiederholten Aussgen von Sinn macht die Nachrichtenagentur Reuters eine eigene Meldung, die sie in der Nacht von Montag auf Dienstag um 00:28 Uhr publiziert.

Ex-Ifo-Chef – Klimawandel beschleunigt sich durch Verbrennungs- und Heizungsverbot

Der emeritierte Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, kritisiert die Energiepolitik der Bundesregierung. Der CO2-Ausstoß bei Öl, Kohle und Co. könne nur reduziert werden, wenn „alle oder fast alle mitmachen, denn was wir nicht verbrauchen, verbrauchen sonst andere“, sagte der Wirtschaftsprofessor der Zeitung „Bild“
(Dienstagausgabe). „Wenn Deutschland kein Öl mehr kauft, fällt der Weltmarktpreis, und andere kaufen es“.

Ausführlich erzählt die Agentur nach, was Sinn gegenüber „Bild“ wiederholt hat. Etwas, das keine Nachricht ist, wird zu einer.

3. Akt: „Klimaschutz schadet Klima“ is a thing now

Die Agenturmeldung erscheint in den folgenden Stunden auf vielen Nachrichtenseiten – automatisch oder in Form eigener Beiträge. Die FAZ beispielsweise bringt um 2:21 Uhr einen Artikel, der auf der Reuters-Meldung beruht. Auch andere etablierte Medien veröffentlichen die Meldung ohne weitere Bearbeitung oder kritische Kommentierung – wie das gemeinhin mit Agenturmeldungen gemacht wird. Im Laufe des Tages wird einem dann immer wieder in vielen unterschiedlichen Medien die Headline „Hans-Werner Sinn: „Das Verbrennerverbot beschleunigt den Klimawandel“ begegnen.

„Klimaschutz schadet Klima“ wird so zumindest für diesen Dienstag zum publizistischen Inhalt seriöser Nachrichtenanbieter.

Diese Verwertungskette scheint der Standard zu sein, wenn Nachrichten auf der Grundlage von Agenturmeldungen entstehen. Sie offenbart ihre Schwächen, insbesondere wenn Menschen mit „streitbaren“, „polemischen“ oder „umstrittenen“ Aussagen groß präsentiert werden, eben weil ihre Aussagen streitbar, polemisch und umstritten sind. Die Kantigkeit oder Abwegigkeit solcher Aussagen ist der Nachrichtenwert und bekommt durch die Verteilungssysteme der Nachrichtenagenturen und die unkritische Wiedergabe einen Schub, auf den sogar das Marketing-Team des Barbie-Films neidisch sein dürfte.

4. Akt: „Schnell, wir brauchen Experten, die den Mann korrigieren, den wir ausgiebig zu Wort kommen ließen!“

Hier hört aber die Kette noch nicht auf. Insbesondere bei den „streitbaren“ Aussagen folgen zumindest im besten Fall Gegenreden. Oder die Redaktion selbst ordnet schließlich die von ihr per Agenturmeldung veröffentlichten Aussagen in einem Beitrag noch ein.

Die FAZ beispielsweise veröffentlichte am Nachmittag des Klimaschutz-schadet-Klima-Dienstags die O-Ton-Sammlung „Scharfe Kritik an Hans-Werner Sinns Klima-Thesen“, in der sie „führende deutsche Volkswirte und Energieökonomen mit Sinns Thesen konfrontiert“ hat.
„Bei aller Wertschätzung für meinen Kollegen Sinn: Mit dieser Behauptung liegt er falsch“, erklärt hier nun die Vorsitzende des Sachverständigenrates, Monika Schnitzer. Moritz Schularick, der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel), kritisiert ebenso die „streitbaren“ Aussagen: „Es gibt schon genug Verkrustung und Beharrung in diesem Land. Jetzt nach Argumenten zu suchen, warum wir am Ende doch so einfach so weitermachen können, wie wir es schon immer gemacht haben, vertieft nur die Probleme.“

Weitere Ökonominnen und Ökonomen kommen zu Wort, die verschiedene Aspekte der Behauptungen von Sinn widerlegen. Das ist super, das ist erkenntnisfördernd, das ist journalistisch, das ist nur leider – im Gegensatz zu Sinns Statement – hinter einer Paywall. Und das natürlich völlig zurecht, weil darin journalistische Arbeit steckt, die bezahlt werden muss, klar. Aber die Tatsache, dass Behauptungen für alle frei lesbar sind und deren fundierte Kritik nicht, verstärkt zwangläufig eine Informations-Asymmetrie. „Verstärkt“ deshalb, weil diese ja schon vorher entstand, bei dem Versuch, im Namen falsch verstandener False Balance, auch abwegige Takes abzubilden.

Epilog

Hier könnten Nachrichtenkette und Kolumne enden, aber es gibt noch eine Szene nach dem Abspann. Wir reisen zurück ins Jahr 2008. Hans-Werner Sinn veröffentlicht sein Buch „Das grüne Paradoxon“. Es beinhaltet nahezu jede seiner jetzigen Aussagen, also die These, dass eine strengere Klimapolitik in der EU sogar zu mehr CO2 Ausstoß führe.

Im Grunde war die eigentliche Meldung am Dienstag:

+++ BREAKING NEWS: HANS-WERNER SINN SAGT NOCHMALS, WAS ER BEREITS 2008 IN EIN BUCH GESCHRIEBEN HAT! +++

… und das damals schon kritisch betrachtet wurde und das 2013 als Ausgabe mit Kommentaren von Richard S.J. Tol, David Anthoff, Ottmar Edenhofer, Matthias Kalkuhl und Claudia Kemfert erschien, in welchen sie Sinns Einschätzungen ebenfalls widersprechen.

10 Kommentare

  1. Oder um es anders zu sagen: Die Bild schreibt wieder Scheiße (Excuse my Springerpressisch) und alle springen drauf!
    Denn das das Bullshit ist hätte man schon wissen können bevor man die Habeck-Schlagzeile brachte!

  2. Hans Werner Sinn verfolgt ein Ziel.
    Zu beobachten war das schon bei der Elektroauto „Studie“, die bei genauerem Hinsehen keine war, sondern ein manipuliertes Elaborat.
    „Studie“ schon deshalb nicht, weil der Artikel nicht einmal einem peer-review Verfahren ausgesetzt war. Wie denn auch, keiner der Autoren hatte irgendwelche Kompetenzen auf den notwendigen Feldern vorzuweisen.

    Auch jetzt liefert Sinn ausschliesslich Behauptungen, die teilweise auch noch leicht zu widerlegen wären.
    Die benutzten „Argumente“ sind bestenfalls überholt, wahrscheinlich aber Kampagnenfutter billigster Sorte.

  3. Danke dafür. Das Rumgeistern – auch bei Spiegel Online – war wirklich ein einziges Trauerspiel!

  4. Die Springerschmierenfraktion verbreitet mal wieder ihre Agenda und alle machen mit. Es ist ein einziges Trauerspiel. Aber die Leute wollen’s halt glauben, also wird jeder noch so hanswernerunsinnige Stuss nachgeplappert und wiedergekäut. Die journalistische Verantwortung bleibt auf der Strecke.

    Kleiner Formulierungsfehler: Es handelt sich nicht um „falsch verstandene False Balance“, sondern tatsächliche False Balance.

  5. Die endlose Wiederholung von Nullnachrichten wird in Zukunft durch KI erst richtig losgehen. Man braucht dafür auch keine Journalisten mehr.

  6. @Samira El Ouassil – großartige Aufbereitung, danke dafür.
    Wie kann man als Medienkunde dagegensteuern, ohne dass es in „Kommentargetrolle“ endet?

  7. Samira El Ouassil findet in Sinns Argumentation „Lücken, zum Beispiel: Warum sollten Länder, selbst wenn es günstiger wäre, mehr Öl kaufen als sie verbrauchen?“ Ja, warum sollte ich, wenn ich gern Kaviar esse, Kaviar kaufen, wenn der billiger wird? Was brauchen Länder, die sich wirtschaftlich entwickeln wollen, neben stabilen politischen Verhältnissen dringender als billige Energie? Weiter: „Er“ – Sinn – „müsste eigentlich wissen, dass über die Hälfte des Stroms in deutschen Haushalten aus erneuerbaren Energien generiert wird“. Sie, Samira El Ouassil, müsste eigentlich wissen, dass Haushalt und Verkehr – über Autos, also Verkehr, redet Sinn an der kritisierten Stelle – in Energiestatistiken als verschiedene Sektoren berechnet werden, heißt: Im Strom der deutschen Haushalte ist Verkehr statistisch überhaupt nicht berücksichtigt; siehe hierzu https://www.umweltbundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/wohnen/energieverbrauch-privater-haushalte#endenergieverbrauch-der-privaten-haushalte. Der Anteil der Erneuerbaren am Verkehrssektor betrug 2022 7%; siehe hierzu https://www.umweltbundesamt.de/daten/energie/erneuerbare-energie-im-verkehr. Der Anteil der Erneuerbaren am deutschen Endenergieverbrauch lag 2022 bei 20,4% – da fehlen noch wieviel an 100? (Siehe hierzu https://www.umweltbundesamt.de/themen/klima-energie/erneuerbare-energien/erneuerbare-energien-in-zahlen#uberblick.)
    Der Artikel von S. El Ouassil ist typisch für die desaströse deutsche „Klimadiskussion“, und Artikel wie dieser sind mit Schuld daran. Aber Frau El Ouassil schreibt offensichtlich, was die Leserschaft von Übermedien gern liest. – „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“

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