Die Straßen, auf denen sie einst spazieren gingen, gibt es nicht mehr. Die Spielplätze, die Schulen, die Parks – alles in Bachmut, der seit Monaten umkämpften Stadt im Osten der Ukraine, wurde vom Krieg zerstört. Aber ihre Lokalzeitung können die Menschen nun wieder lesen. Dank Svitlana Ovcharenko und ihrer freiwilligen Helfer.
„Bachmut wurde dem Erdboden gleichgemacht. In einem Video habe ich gesehen, wie das Haus meiner Familie brannte und in sich zusammenfiel, daneben die brennenden Häuser der Nachbarn“, erzählt Svitlana Ovcharenko. Die 60-Jährige ist Chefredakteurin der Lokalzeitung „Vpered“, eine der ältesten Zeitungen der Ukraine. Vor mehr als 30 Jahren begann sie als Studentin, dort zu arbeiten. Erst war sie Korrekturleserin, dann Redaktionssekretärin. Vor acht Jahren wurde sie Chefredakteurin. „Ich habe mein ganzes Leben dieser Zeitung gewidmet“, sagt Ovcharenko.
Vor der vollständigen Invasion Russlands erschien „Vpered“ einmal in der Woche mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren. „Wir hatten ein starkes, professionelles Team“, erzählt Ovcharenko. Die Redaktion berichtete über Lokalpolitik, Ereignisse in der Stadt und half armen Bürgern dabei, Unterstützung zu bekommen. Einmal , erzählt sie, war es der Zeitung gelungen, Geld und einen Rollstuhl für eine Frau zu beschaffen, die ihre Wohnung vorher jahrelang nicht mehr hatte verlassen können. „Unsere Leser haben uns vertraut“, sagt die Chefredakteurin.
Sie erinnert sich genau an den 24. Februar 2022, den Tag der russischen Invasion. Sie habe, wie alle anderen, versucht, sich mental auf den Krieg vorzubereiten, aber sie war nicht wirklich bereit, als er losging.
„Wir haben seit 2014 nahe der Frontlinie gelebt. Wir haben regelmäßig Explosionen gehört. Sie haben auch auf Bachmut geschossen. Am erstem Tag der Invasion riefen Freunde und Bekannte aus der ganzen Ukraine an und berichteten von der Bombardierung ihrer Städte. Wir waren entsetzt und erkannten, dass jetzt Krieg ist.“
Die Autoren
Sergey Panashchuk ist Journalist und arbeitet seit fast 20 Jahren für verschiedene ukrainische Medien. Er war unter anderem Redakteur für die Agentur Newsflash und Leiter des Büros von „Katapult Ukraine“ in Odessa. Als freier Autor schrieb er unter anderem für „Daily Mail“, „Daily Mirror“, „The Sun“ und „Die Zeit“.
Roksana Panashchuk ist Journalistin und Schriftstellerin. Vor dem Krieg hatte sie für britische Medien über häusliche Gewalt berichtet. Sie hat an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew ukrainische Sprache und Philologie studiert.
Die bis dahin letzte Ausgabe von „Vpered“ wurde in der Nacht des 24. Februar veröffentlicht. Sie wurde noch von Kramatorsk, wo Druckerei und Verlagshaus ihren Sitz hatten, ins 55 Kilometer entfernte Bachmut geliefert, konnte aber wegen des Dauerbeschusses mit schwerer russischer Artillerie nicht verteilt werden. Kurz später stand auch die Straße von Kramatorsk nach Bachmut unter Beschuss und nichts konnte mehr geliefert werden.
Alltag im Krieg
Ständiger Beschuss, zerbrochene Fensterscheiben, die weggesprengte Haustür, die Angst vor dem Tod, die sinnlose Erwartung, dass am nächsten Tag alles vorbei sein kann; gleichzeitig die Hoffnung, dass alles wieder normal wird –das ist die Realität, in der Svitlana Ovcharenko mehr als einen Monat lang in Bachmut lebte. Als die Schule, die ihre Kinder früher besuchten, bombardiert wurde, traf sie die Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen. Sie zog mit ihrer Mutter in die südliche Hafenstadt Odessa und mietete eine Wohnung. Seitdem war sie nicht mehr in Bachmut.
Es sei sehr schwer gewesen, sich an das neue Leben anzupassen. Ovcharenko erzählt, sie sei freundlich in Odessa empfangen worden, habe aber bald gemerkt, wie sehr sie ihre Arbeit vermisst. Sie tat alles dafür, um wieder Zeitung machen zu können.
Bevor Ovcharenko im November 2022 entschied, die „Vpered“ wieder ins Leben zu rufen, habe es bei der Evakuierung Bachmuts große Probleme gegeben, erklärt Lina Kushch, Erste Sekretärin des Nationalen Journalistenverbandes der Ukraine (NUJU). Die Menschen hätten sich geweigert, die Stadt zu verlassen, wegen der vielen russischen Falschmeldungen. So sei beispielsweise das Gerücht umgegangen, dass Menschen aus Bachmut in anderen Teilen der Ukraine nicht willkommen seien oder dass man ihnen Organe entnehmen würde. „Stellen Sie sich die Menschen vor, die wochen- oder monatelang unter der Erde in den Kellern sitzen. Sie haben keine Informationen von außen, nur Gerüchte oder Fake News“, erklärt Kushch. Ihrer gedruckten Zeitung vertrauen sie eben.
Svitlana Ovcharenko beschloss, sich auf Geschichten über Menschen zu konzentrieren, die bereits in andere Regionen der Ukraine geflüchtet waren. Sie wollte, dass die Verbliebenen in Bachmut von deren Nachbarn, Verwandten oder Kollegen lesen.
Die NUJU unterstützte Ovcharenkos Idee. Ein japanische Hilfsorganisation übernahm die Kosten für den Druck der ersten Ausgabe. Anfangs produzierte Svitlana Ovcharenko die Zeitung von Odessa aus alleine, nur beim Layout bekam sie Hilfe von einem Mann, der aus Bachmut in den Norden des Landes geflohen war. Ovcharenko erzählt:
„Es war eine Menge Arbeit. Es gab einen Tag, an dem ich von vier Uhr morgens bis ein Uhr nachts am Computer saß. Ich habe vor Müdigkeit und Verzweiflung geweint. Aber ich habe durchgehalten.“
Am 4. November 2022 war es endlich so weit und die Zeitung „Vpered“ erschien nach acht Monaten zum ersten Mal wieder. Gedruckt wird die Zeitung nun in Kiew, von wo aus Soldaten das Blatt nach Bachmut bringen. Dort wird sie dann von Freiwilligen verteilt. Auch wenn die Zeitung heute nur noch vier anstatt, wie früher, 24 Seiten hat und nur zwei Mal im Monat erscheint, ist sie für die Menschen in Bachmut von großer Bedeutung.
Leserin in Bachmut Foto: „Vpered“
„Die Freiwilligen haben mir berichtet, dass Leute geweint haben, als sie eine Zeitung in die Hand nahmen“, erzählt Ovcharenko. Eine Frau habe gesagt: „Es riecht wie zu Hause.“ Der Geruch der Druckerschwärze habe sie an die Zeiten des Friedens erinnert, als der Postbote jede Woche eine neue Ausgabe brachte. „Als ich das hörte, brach mir fast das Herz. Mir wurde klar, dass es kein Zurück mehr gab. Danach war die Kraft da, die Zeitung weiter zu machen.“
„Gefühl der Gemeinschaft“
Rund 80.000 Menschen haben vor dem Krieg in Bachmut gelebt. Anfang April 2023 waren schätzungsweise noch knapp über 2000 Zivilisten in der Stadt. Ein Teil der Auflage geht an aus Bachmut stammende Binnenflüchtlinge in Kiew, Odessa, Dnipro, Charkiw und anderen ukrainischen Städten und Regionen. „Obwohl wir über die ganze Ukraine verstreut sind, haben wir ein Gefühl der Gemeinschaft und schätzen es sehr“, sagt Ovcharenko.
Alle Geschichten, die in „Vpered“ erscheinen, haben Bezug zu Bachmut und den Menschen, die dort noch leben oder die aus der Stadt geflohen sind. In der Ausgabe vom 26. April gibt es zum Beispiel einen Artikel über den möglichen Wiederaufbau des lokalen Stadions zu lesen, und das Porträt einer Geografielehrerin, die in Bachmut am Anfang der Invasion Schüler online unterrichtete. Eine weitere Geschichte handelt von Menschen aus Bachmut, die in einem Wohnheim in Hostomell nahe Kiew leben.
Ausgabe der Zeitung „Vpered“ vom 26.4.22
Das Zeitungsteam ist mittlerweile wieder auf fünf Personen gewachsen, dazu zählen zwei weitere Journalisten – eine Kollegin, die schon vor dem Krieg für „Vpered“ gearbeitet hat, und ein junger Kollege aus Odessa. Die Mitarbeiter bekommen Gehälter und arbeiten aus der Ferne. Die Interviews führen sie telefonisch. Die Zeitung ist für die Leser kostenlos. Momentan wird „Vpered“ von der NUJU und ausländischen Hilfsorganisationen unterstützt.
An dasRedaktionsbüro in Bachmut, das erst vor drei Jahren renoviert worden war, erinnern nur noch Videos. „Wir liebten diesen Ort wie unser Zuhause. Wir machten gemütliche Pausen mit Tee, Kaffee und Keksen. Ich vermisse die Kommunikation, das Lachen, die persönliche Verbindung, die Menschen zu einem Team formt“, erzählt Ovcharenko. Die anderen Kollegen, die vor dem Krieg bei der Zeitung gearbeitet haben, leben nun in verschiedenen Teilen der Ukraine. Einige von ihnen wurden krank. Einige fanden eine andere Arbeit. Einige gingen in den Ruhestand.
Vor dem Krieg habe sie nie geweint, sagt Svitlana Ovcharenko. Jetzt schon. „Ich weine, wenn ich in den sozialen Netzwerken ein Video von Bachmut sehe. Die jungen Leute, die dort ihr Leben lassen, tun mir leid. Das Land von Bachmut ist mit ihrem Blut getränkt. Das ist der schrecklichste Verlust, nicht die zerstörten Häuser. Wir müssen stark sein und uns gegenseitig unterstützen.“
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit „Save UA Media“. Das Projekt wurde von ehemaligen Mitarbeitern von „Katapult Ukraine“ gegründet. Man kann „Save UA Media“ hier und bei Patreon unterstützen.
Laut der Nationalen Journalistenunion der Ukraine (NUJU) haben rund 90 Prozent der ukrainischen Medien seit Beginn des Krieges keine Anzeigeneinnahmen mehr, mindestens 30 Prozent der Medien wurden geschlossen. Vor dem Krieg gab es in der Ukraine etwa 35.000 Journalisten. Ein Großteil ist derzeit arbeitslos. Die Gehälter vieler Journalisten, die noch Arbeit haben, wurden stark gekürzt. Ein Viertel der Journalisten arbeitet seit Februar 2022 ohne Gehalt, und etwa ein Drittel der Medienmitarbeiter wurden in unbezahlten Urlaub geschickt, so die Ergebnisse einer NUJU-Umfrage.
2 Kommentare
Off Topic:
Ich habe seit heute ein Problem mit Euren Zählpixeln, die blähen alle Artikel auf. Konkret ist es wohl immer http://vg08.met.vgwort.de/na/%id%, wobei %id% für die Unique-Zählpixel-ID steht. Hier im Artikel kommen zwei davon vor. Sie werden 516 x 516 Pixel groß angezeigt. Das kommt wohl aus der main.css aus der Klasse „auto.entry__content“.
Off Topic:
Ich habe seit heute ein Problem mit Euren Zählpixeln, die blähen alle Artikel auf. Konkret ist es wohl immer
http://vg08.met.vgwort.de/na/%id%, wobei %id% für die Unique-Zählpixel-ID steht. Hier im Artikel kommen zwei davon vor. Sie werden 516 x 516 Pixel groß angezeigt. Das kommt wohl aus der main.css aus der Klasse „auto.entry__content“.
Könntet Ihr das bitte wieder reparieren?
Danke.
Jetzt ist es nur noch ein Zählpixel…