Brainpool

Das bisschen Diktatur tut beim Produzieren gar nicht weh

Kristall-Halle und Nationaler Flaggenplatz in Baku Foto: Consulbk CC-BY-SA

Wie ist das, wenn man als Chef einer kleinen, als sympathisch geltenden deutschen Firma ein großes Glitzer-Event für ein sehr unsympathisches Regime produziert, das sich damit weltweit in bestem Licht präsentiert? Jörg Grabosch kann das beantworten, der Geschäftsführer der Kölner Produktionsfirma Brainpool, die 2012 den Eurovision Song Contest in Aserbaidschan in Szene setzte.

Lutz Hachmeister hat für die „Medienkorrespondenz“ ein offenbar vielstündiges Gespräch mit ihm geführt, in dem es am Schluss auch um die Umstände dieser Veranstaltung geht.

Hachmeister: Ist das nicht auch eine Diktatur?

Grabosch: Sagen wir mal so: Mit westlichem Demokratieverständnis ist das nicht eins zu eins vergleichbar. Es wird schon gewählt, aber die Präsidentenfamilie heißt Alijew – der Staatsgründer hat das Amt an seinen Sohn weitergegeben, das ist schon eine besondere Form von Demokratie. Aber da wird immer gewählt. Es gibt immer Gerüchte, dass das nicht ganz nach unseren Maßstäben zugeht. Wobei, die würden sowieso gewählt. Also, wenn sie tatsächlich die Wahlen manipulieren, ist das eigentlich überflüssig, denn sie haben natürlich einen Vorteil: Den Aserbaidschanern geht’s relativ gut, denn es sprudeln jeden Tag Millionen Dollar aus der Erde.

Ah, okay, keine Diktatur also, vielleicht sogar eine Demokratie, nur halt keine, die „eins zu eins mit westlichem Demokratieverständnis vergleichbar wäre“, sondern „eine besondere Form von Demokratie“.

Das aserbaidschanische Demokratieverständnis, für das Grabosch offenbar seinerseits viel Verständnis hat, ist also laut Brainpool-Chef so, dass da pro forma Wahlen abgehalten werden, bei denen vermutlich vieles nicht mit rechten Dingen zugeht, was aber egal ist, weil der ohnehin feststehende Präsident, der sein Amt von seinem Vater geerbt hat, auch dann vom Volk gewählt würde, wenn es eine echte Wahl gäbe. Ob die Wahlen manipuliert sind oder nicht, ist insofern egal, denn das Regime müsste die Wahlen gar nicht manipulieren, um gewählt zu werden, insofern kann es sie auch ruhig manipulieren – ist doch nett genug, sie überhaupt abzuhalten, wenn doch eh alle zufrieden sind, weil so viel Öl aus der Erde sprudelt.

Sicher, vielleicht wäre es schöner, wenn sich die kleptokratische Herrscherfamilie nicht selbst die Taschen vollmachen würde mit einem großen Teil dieses natürlichen (und endlichen) Reichtums, aber solange noch irgendwie genug abfällt für die Untertanen, gibt es nun wirklich keinen Grund, auf dieses anstrengende „westliche Demokratieverständnis“ zu pochen, mit den bekannt lästigen westlichen Sonderregelungen wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit und freien Wahlen, die diesen Namen auch verdienen.

So ein anderes Demokratieverständnis hat handfeste Vorteile, vor allem natürlich für Handlanger des Regimes, wie Grabosch und seine Firma es waren. Er kommt heute noch ins Schwärmen – nicht nur über die Schönheit der Stadt Baku:

Eine traumhafte Stadt direkt am Meer. Klein-Istanbul im Prinzip. Dreitausend Jahre alter Stadtkern. Und für die ist das das Größte, sich der Welt zu präsentieren. Und die haben wirklich den alten Militärhafen abgerissen. Als ich zum ersten Mal da war, das war im August – und im Mai ist die Show –, haben die gesagt: „Hier soll’s stattfinden.“ Da habe ich gesagt: „Hier? Aber da ist doch noch…“ – „Ja, das kommt alles weg.“ – „Aber wir brauchen doch eine Halle.“ – „Ja, ja, hier sind die Pläne. Macht übrigens auch eine deutsche Firma. Oder eine österreichische – ihr könnt euch mit denen schon mal kurzschließen.“ – „Aber wir haben August. Die Proben beginnen spätestens Mitte April.“ – „Ja, ja, klappt alles.“ Und es klappte natürlich auch alles. Denn die haben einfach, wenn es sein muss, so viel Geld und Arbeitskraft, dass sie da reinpumpen, was notwendig ist. Das machen die einfach. Und wenn ein Haus im Weg steht – dann kommt das halt weg.

Ein Traum.

Vielleicht bin ich bei dem Thema befangen, denn ich bin in einem der Häuser gewesen, das der Prahl- und Protzsucht des Regimes im Weg stand, bevor es halt wegkam. Ich habe mit Menschen gesprochen, die darin gewohnt haben und im Weg standen und dann halt wegkamen.

Januar 2012: links die Kristall-Halle im Bau, rechts das letzte Haus Foto: nig

Ich habe damals für den „Spiegel“ darüber geschrieben:

Im neunten Stock des Hauses hat jemand alle Fenster aus den Wänden geschlagen. Überall liegt Schutt. In den Ecken haben sich kleine Schneewehen gebildet. Hier haben vor kurzem noch Familien gewohnt, aber die Etage ist inzwischen leer. Neben dem Haus wartet schon ein Kran auf Arbeit. Vermutlich werden sie bald das Dach abreißen. Dann regnet es durch, in die Wohnungen der Menschen, die in den unteren Etagen leben.

Wenn sie jetzt das Treppenhaus hochsteigen, kommen ihnen feixende junge Leute mit Sägen und Bohrern entgegen. Dann fehlt vielleicht wieder irgendwo ein Wasserrohr. Ein Stromkabel hängt offen im Flur. Eine Wand ist aufgebrochen. Oder das Gas ist weg. Die jungen Leute, sagen die Bewohner, sind von der Stadt.

Es ist lebensgefährlich, hier noch zu leben, und das hat System. Die restlichen Bewohner sollen ausziehen. Es wird Zeit: In dreieinhalb Monaten werden Tausende Besucher zum Eurovision Song Contest (ESC) erwartet. Eine große Durchgangsstraße und ein feiner Boulevard am Meer werden dann zur Kristall-Halle führen. Das Haus ist das letzte, das hier noch steht.

Blick aus dem halb entmieteten Haus auf die Kristall-Halle Foto: nig

Ich hätte Jörg Grabosch Anfang 2012 noch die Menschen vorstellen können, die den Preis zahlten für den von ihn so erfrischend unbürokratisch erlebten Umgang der Behörden mit Hindernissen. Ich habe auf der Fahrt zu einem offiziellen Termin im Bus neben ihm gesesssen und ihn auf die Gebäude angesprochen, die damals unter so haarsträubenden und nach Angaben von Bürgerrechtlern unrechtmäßigen Bedingungen entmietet wurden. Grabosch erwiderte: „Um die Häuser ist es nicht schade.“

Viereinhalb Jahre später ist er nicht nachdenklicher geworden.

Grabosch: Also, Diktatur – da weiß ich nicht, ob das das richtige Wort ist. Aber ein autoritäres System ist es natürlich irgendwie schon. Ich bin da aber auch pragmatisch: Der ESC hat dem Land geholfen, nicht nur dem Staatschef. Für uns alle vor Ort war es eine unglaublich aufregende Zeit, keine Frage.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch stellte im Sommer 2013, ein gutes Jahr nach dem ESC, fest:

Seit einigen Jahren schon macht Aserbaidschan Rückschritte in Sachen Meinungs-, Versammlungs– und Vereinigungs-Freiheit, aber seit Mitte 2012 ist die Lage dramatisch schlechter geworden. Seitdem bemüht sich die Regierung gezielt, oppositionelle Aktivitäten einzudämmen, öffentliche Korruptionsvorwürfe und andere Kritik an der Regierung zu bestrafen und Nichtregierungsorganisationen stärker zu kontrollieren.

2014 verhaftete das Regime einen prominenten Bürgerrechtler nach dem anderen unter dubiosen Anschuldigungen. Von den Aktivisten, die ich 2012 Baku getroffen habe, ist keiner mehr frei. Manche wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Endlich, seit einem Jahr, entlässt das Regime einige von ihnen aus der Haft – und dem Land.

Außer mit dem ESC kann sich das Land inzwischen unter anderem mit den sogenannten „European Games“ und einem Formel-1-Rennen schmücken.

Vor einem Referendum in der vergangenen Woche über eine Verfassungsänderung wurden nach Angaben von Amnesty International Kritiker eingeschüchtert, bedroht und verhaftet.

Aber Grabosch ist da pragmatisch: Für ihn und sein Team war es eine wahnsinnig aufregende Zeit.

Medienkorrespondenz: Rauswurf zum Erfolg
Human Rights Watch: „They Took Everything from Me“
Krautreporter: Ausgewandert, eingesperrt, abgetaucht: Für Kritiker ist in Aserbaidschan kein Platz mehr

23 Kommentare

  1. …ist das schon solange her, dass SN begeistert über den European Song Contest geschrieben hat?
    Verwechsele ich da was? Lässt mein Gedächtnis nach? Alles nur Ironie?
    Man wüsste es so gerne…

  2. Als Nachkriegsgeneration fragt man sich ja immer, was das wohl für Menschen gewesen sein müssen, die Bescheid wussten und zum eigenen Vorteil die Augen vor den ganzen Grausamkeiten verschlossen haben.

    Jörg Grabosch ist wirklich ein Prachtexemplar.

  3. Ist ja alles richtig, was hier steht, aber: Welcher Produzent würde sich so einen Auftrag durch die Lappen gehen lassen? Wenn ich das Interview richtig verstanden habe, hat dieser Auftrag Brainpool in dem Jahr 30 % Umsatzwachstum verschafft. Den Unternehmer will ich sehen, der so etwas ignoriert. Wenn Grabosch jetzt poltern würde, wie schlimm dort alles war und ist, wäre er doch völlig unglaubwürdig.

    Und Grabosch war „nur“ Produzent der TV-Shows. Für den ESC selber sind ganz andere verantwortlich.

  4. @Thomas K.

    Ja genau. Die Hauptschuld tragen sowieso immer die Anderen.
    Vielleicht denken Sie mal darüber nach, dass jeder für sein eigenes Handeln verantwortlich ist. Völlig egal, wie groß der Anteil am „großen Ganzen“ ist.

    Und natürlich sind unternehmerische Entscheidungen nicht immer leicht. Gerade wenn es um derartige Abwägungen geht. Das Problem ist hier aber nicht nur, dass Grabosch sich dafür entschieden hat den Auftrag anzunehmen und den ESC zu produzieren. Grabosch geht sogar noch einen Schritt weiter und verhöhnt und verspottet die Opfer einer Diktatur mit Worten wie: „Und wenn ein Haus im Weg steht – dann kommt das halt weg.“ Das ist dann wirklich besonders eklig und sagt viel über den Charakter von Jörg Grabosch aus.

  5. @Gunnar:

    Ich kann an dem Zitat und aus dem Interview nicht erkennen, ob ihm das gefällt oder ob es einfach nur eine nüchterne Tatsachenbeschreibung ist. Ich erkenne in der Interviewpassage auch keine Sympathie für das dortige System.

    Und was heißt Hauptschuld? Schuldig an der derzeitigen Situation in Aserbaidschan ist außer der dortigen „Regierung“ niemand. Ich wüsste nicht, welche Schuld Grabosch auf sich geladen haben soll.

    Ist es grundsätzlich falsch, in Aserbaidschan den ESC zu veranstalten? Wie verhält man sich nächstes Jahr in der Ukraine? Was passiert, wenn nächstes Jahr Russland gewinnt? Oder Ungarn? Oder wieder Österreich, wo es dann möglicherweise einen faschistischen Bundespräsidenten gibt, der sich mit den Sängern ablichten lässt? Ab welcher Situation ist denn der Punkt erreicht, eine Veranstaltung zu boykottieren?

    Nicht falsch verstehen, ich finde das System in Aserbaidschan und deren Herrscher verabscheuenswürdig. Aber bedeutet das, dass man sich von dem Land abwenden soll, mit Tadel überhäufen? Damit ist doch wirklich niemandem geholfen.

  6. @Thomas K.:

    Um Ihre sechs Fragen im dritten Absatz zu beantworten:
    – Ja, bei diesen Zuständen ist es das selbstverständlich.
    – Boykottieren
    – Boykottieren
    – Boykottieren
    – Boykottieren, unter diesen Umständen.
    – Wenn Zustände wie in jenen Ländern herrschen, die Sie so schön lückenlos aufgerufen haben (Österreich zzt. unter Vorbehalt, natürlich).

    Was ist daran so schwierig? Dass die Entscheidung dafür eine klare Haltung zu den Zuständen erfordert und kein Lavieren und Relativieren verträgt? Und: Wollen Sie wirklich über Appeasement diskutieren und über nützliches Idiotentum (einen Begriff, der übrigens grob aus der Ecke da drüben kommt)?

  7. @Thomas K
    Das Problem ist nicht unbedingt den ESC in Baku veranstaltet zu haben, nur wie kann man Graboschs Aussagen, Aserbaidschan sei „eine etwas andere Demokratie“ und dort würden „Pojekte unkompliziert und unbürokratisch umgesetzt“ sonst verstehen, als komplette Realitätsverweigerung. Siehe Beckenbauer und die Sklaven in Katar.
    Dort herrscht eine Diktatur. Fertig.
    Und wer das selbst Jahre später nicht zumindest anerkennt und dann so rumlaviert hat doch jeden Bonss verspielt.
    Btw: ich würde auf 30 Prozent Umsatzsteigerung verzichten, wenn ich Projekte annehmen müsste die mir zuwiderlaufen.

  8. Die traurige Realität ist doch, dass ein nicht unerheblicher Prozentsatz aller Menschen keinen sonderlich ausgeprägten, moralisch-ethischen Kompass mehr hat.

    Egal ob es um den Export von Überwachungstechnologie, von Kleinwaffen oder eben von „Brot-und-Spiele“ geht, wie in diesem Fall: einer 30%igen Umsatzsteigerung (vulgo: mehr Geld) kann man sich doch nicht verweigern. Das ist man doch als wirtschaftendes Unternehmen den Aktionären schuldig. Den Shareholdern. Dem Eigner. Und überhaupt, die anderen machen es doch auch. Wenn wir es nicht machen, ja dann macht es halt die Konkurrenz. Ja, eigentlich hat man natürlich recht, sicher… es sollte nicht so sein. Schlimm, so ne Diktatur. Ist halt nicht die ideale Welt, in der wir hier leben. Joa, ach guck, die Gutmenschen wieder. Hömma, sei doch Realist. Wir können doch nix dagegen machen. Wat willste? Manches muss man einfach akzeptieren.

    Tja. Aber was regen wir uns auf, über den ESC in Baku? Unsere Gesellschaft akzeptiert heute ja sogar tote Kinder am Strand. Es wird darüber gestritten ob es legitim ist so ein Foto zu drucken.. von einem kleinen Körper, tot im Sand. Darüber regen wir uns auf. Anstatt uns darüber aufzuregen das wir es geschehen lassen das ein 3-jähriges Kind im Mittelmehr stirbt, und tot am Strand angespült wird. Das macht z.B. unsere Einwanderungspolitik. Nicht mehr, und nicht weniger.

    Wir könnten was dagegen tun, wenn wir wollten. Wir – das ist jeder einzelne von uns. Aber „wir“ – wir wollen nicht. Jeder Asylsuchende und jeder Flüchtling könnte sicher via Flugzeug aus dem mittleren Osten in Frankfurt einfliegen. Von dem Geld mit dem die Schlepper und Schleuser sonst bezahlt würden. Da bleibt auch noch genug Geld über für ein Rückflugticket, und für eine Unkostenbeteiligung, während eines ehrlichen, humanen und menschlichen Asylverfahrens. Und nicht einer müsste mehr im Mittelmehr ersaufen. Aber das wir, und unsere von uns gewählten, politischen Repräsentaten: Sie wollen nicht.

    Und wir, was tun wir dagegen? Wir tun nichts. Wir stumpfen ab. Wir nehmen keinen Anteil. Wir gucken sinnlose TV-Shows, lassen uns mit Werbung bombardieren. Wir verblöden. Verfallen Menschenfängern und Angstmachern, Terror-Gefahr-Beschwörern und Fremdenfeinden. Gehen nicht mehr wählen. Besaufen uns, und werfen statt dessen wie damals in Rostock Lichtenhagen heut wieder Bomben auf Menschen. Und der Aufschrei in der Presselandschaft bleibt aus. Keine Konzerte gegen Fremdenfeindlichkeit. Statt dessen die AFD bei zweistelligen Prozenten. Und bei der nächsten Wahl wählt doch jeder wieder CDU, weil er das immer so gemacht hat, und weil es ja eh total egal ist. Das Programm spielt keine Rolle.

    Wo bleibt nur unsere Menschlichkeit!?

    Und was ist jetzt der Punkt?

    Opportunismus – aber die anderen machen es doch auch: Das ist eine Ausrede. Ein davonstehen aus der Verantwortung – was in diesem Fall extremst attraktiv, weil sehr sehr einfach ist, da niemand NIEMAND jemals kommt, um Rechenschaft zu verlangen. Sitte Anstand und Moral… das Gewissen, die Ethik, die Werte: Das gibt es nicht mehr. Gott ist tot.

    Und trotzdem muss man irgendwie weiter machen. Und da gehts, wie ich finde, nicht um das Wir. Das Wir bringt gar nichts. Das Wir nimmt jeden nur wieder selbst aus der Verantwortung. Das wichtigere, einzige ist: Das Du. Denn Veränderung beginnt mit jedem Einzelnen. Mit Dir.

    Schau dich um. Wenn deine Mitmenschen nicht mehr wissen was sie tun, dann sei Du der bessere Mensch. Das ist nicht einfach, und dafür gibt’s auch keine Lorbeeren, und kein Geld, und vermutlich gar nichts, am Ende des Tages. Aber Du solltest es trotzdem tun. Ganz einfach weil unsere Welt scheisse wird, wenn Leute wie Du und ich den Kopf nur senken, und weiter gehen, weil wir ja eh nix tun können.

  9. Vielleicht sollten sich die Fans und Produzenten dieses seit einiger Zeit doch recht seltsamen Sängerwettstreits nicht so wichtig nehmen und ihre gesellschaftliche Relevanz nicht überschätzen.

    Im September 2016 fand im Kristallpalast in Baku einer der größten Sportwettbewerbe der Welt, die Schacholympiade statt. Es nahmen 170 Nationen bei den Herren und 134 Länder bei den Damen teil. Nur Armenien fehlte aus bekannten Gründen. Ich konnte nirgendwo lesen, dass Herr Niggemeier oder andere gegen die Austragung dieses prestigeträchtigen Wettbewerbs protestiert hätten. Russen und Ukrainer, US-Amerikaner und Iraner spielten in einem Saal zum Teil gegeneinander, ohne das es zu irgendwelchen diplomatischen oder sonstigen Zwischenfällen gekommen wäre. Alle äußerten sich nach dem Ende sehr positiv über die perfekte Organisation und die Herzlichkeit der Azeris.
    Geht also auch!

  10. Vielleicht sollten gewisse Kommentatoren den Artikel noch einmal in Ruhe lesen und ihr Textverständnis nicht überschätzen.

    Es geht hier nur in Ansätzen um den ESC. Tatsächlich geht es um die, sagen wir mal „interessante“, nachträgliche Bewertung der politischen Situation im Land durch einen Profiteur derselben. Die könnte man, vielleicht etwas euphemistisch, als naiv bezeichnen, oder als schlicht menschenverachtend. Da ich Herrn Grabosch nicht kenne bilde ich mir kein Urteil darüber, ob er tatsächlich glaubt was er sagt, oder ob es ihm einfach scheißegal ist, solange für ihn alles super läuft.

  11. Immerhin hält Herr Niggemeier die Aussagen eines Unterhaltungsfuzzis für so relevant, dass er sie hier dokumentiert. Warum wird Grabosch überhaupt mehr als vier Jahre nach dem Ereignis ausgerechnet jetzt dazu interviewt? Damit wird ihm und dem ESC als solchem eine Bedeutung beigemessen, die ihnen im Vergleich zu anderen Großereignissen, um die zu recht weniger Aufheben gemacht wird, meiner Ansicht nach nicht zukommt oder zumindest nicht zukommen sollte. Insofern kann ich an meinem Textverständnis nichts anstößiges finden!

  12. Man muss es doch ganz nüchtern betrachten. Grabosch kann, wie gesagt, überhaupt gar nicht anders reden. Über die Zustände jammern und dann einen Millionenauftrag annehmen, geht nicht. Schon gar nicht im Nachhinein. Also beschreibt er die Situation mehr oder weniger diplomatisch.

    Aber ein Vorschlag, wie man es in Zukunft machen kann:

    Wir schauen uns, wie bisher, die Veranstaltungen in Baku, Sochi, Rio & Co. zu zig Millionen an den Bildschirmen an, klagen über die schlimmen Zustände dort und freuen uns, dass wir so moralisch gefestigt sind und dabei nicht mitmischen. Damit setzen wir dann ein großes Zeichen. Oder auch nicht.

    Würde der Wirtschaftsminister doch nur nicht zeitgleich mit Delegationen durch diese Länder reisen und trotzdem Geschäfte abschließen. Verdammt.

  13. @Thomas K.: Natürlich kann Grabosch anders reden. Er müsste sich und uns das Regime nicht so schönreden, und er könnte zumindest das Fingerspitzengefühl haben, nicht davon zu schwärmen, wie toll unbürokratisch das in so einem Regime zugeht. „Diplomatisch“ ist keine treffende Beschreibung für seine Formulierungen, finde ich.

    @Frank Reichelt: Ich weiß nicht, was Produzenten von Fernsehshows zu „Fuzzis“ degradiert. Wenn Sie auf den entsprechenden Link zur „Medienkorrespondenz“ klicken, können Sie sehen, dass es einfach ein sehr langes Gespräch ist mit jemandem, der das deutsche Fernsehen in vielfacher Weise erlebt und geprägt hat, und am Ende geht es auch um eine besondere Show: den ESC in Baku.

    Ich kann aber ganz gut damit leben, dass Sie das nicht interessiert.

  14. @Stefan:
    Um sich dann – zu recht – dem Vorwurf auszusetzen, warum er denn mit so einem Regime zusammenarbeitet?

    Und nochmal, ich erkenne in dem Gesagten keine Sympathie für diese Zustände. Mit welchen Worten lobt er dieses System? Ich erkenne nur eine neutrale Beschreibung der Lage. Im Gegenteil, wenn man aus meiner Sicht etwas kritisieren könnte, dann das, dass er sich eben nicht festlegt. Aber er ist halt auch Geschäftsmann und will vielleicht noch ein paar internationale Aufträge.

    Er sagt am Ende auch noch bezüglich eines Flughafenbaus: „Ich glaube, die Chance, sich dagegen zu wehren, ist auch geringer.“. Damit hat er doch realistisch eingeschätzt, wie es dort abläuft.

  15. @Thomas K.: Welche Notwendigkeit besteht denn, ein autoritäres Regime zu einer besonderen Art der Demokratie zu verklären? Und sich noch ausführlich auszulassen, dass die Wahlen vielleicht womöglich manipuliert sind, aber trotzdem den Volkeswillen widerspiegeln? Das ist einfach ein Schlag ins Gesicht der Bürgerrechtler und Opfer dieses Systems, ebenso wie die flapsige Formulierung, dass ein Haus, das im Weg steht, einfach wegkommt.

    Überhaupt schon die Relativierung mit einem „westlichen Demokratieverständnis“, als seien Menschenrechte nicht universal, bringt mich auf die Palme. Niemand zwingt Grabosch dazu, sich so zu äußern, auch nicht als Produzent dieser Show.

  16. Ich war 2013 zur Zeit der Präsidentschaftswahl auf einer Pressereise in Baku, die um die absurde Rallye in der Hauptstadt herum gestrickt war und konnte das spezielle Demokratieverständnis auch erleben: Ich hatte mich abgesetzt, weil ich eine Reisereportage draus machen wollte und mir einen einheimischen Fixer gesucht, der mehrere Jahrzehnte im Ruhrgebiet gelebt hat. Der erzählte dann hinter vorgehaltener Hand vom Gebaren der Eliten, die Grundstücksbesitzer, bei denen Öl gefunden wird, einfach enteignen und irgendwo anders ansiedeln. Aber auch, was vom Öl-Reichtum beim Volk ankommt: Die Umstellung von Sowjet-Sozialismus auf autokratischen Turbokapitalismus habe viele kalt erwischt, unbotmäßiger Geschäftskonkurrenz werde schon mal der Laden dichtgemacht etc. Die unauffälligen Herren in Sichtweite auf dem Weg von der historischen Altstadt zu den Flammentürmen waren auch eine nette Dreingabe.

  17. Es geht bei den „im Wege“ stehenden Häusern ja noch nicht mal um das „Demokratieverständnis“, sondern um die Rechtsstaatlichkeit.
    Selbst, wenn eine demokratisch einwandfrei gewählte Regierung den ESC ausrichtete, und die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich eine große, neue Angeberhalle haben will, die Art, wie das Haus „dann eben weg kommt“, ist hier doch das Hauptproblem.
    Es wäre aus meiner Sicht genauso schlimm, wenn jemand, der in einem undemokratischen Land Geschäfte macht, sagt: „Ja, das ist eine Diktatur. Ja, die Wahlen, die ab und zu abgehalten werden, sind nicht gerade demokratisch. Ja, die Eliten teilen den Reichtum des Landes untereinander auf. Aber dafür sind Enteignungen hier viel unbürokratischer.“

    Sicher ist es eine Option, bestimmte Länder komplett zu schneiden, aber ob das der dortigen Demokratiebewegung hilft, ist auch fraglich. Von daher bin ich jetzt nicht notwendigerweise gegen ein Land im Kaukasus, das bei einer europäischen Spaßveranstaltung mitmacht, aber man sollte Unrecht nicht als „unbürokratisch“ verklären.

  18. „…hat das Amt an seinen Sohn weitergegeben, das ist schon eine besondere Form von Demokratie“
    .
    USA & Bush, z.B.

  19. @Klaus D. Mueller, #20

    Nur weil ich den Unsinn nicht unkommentiert stehen lassen kann: Sie haben aber schon mitbekommen, dass zwischen George Bush und George W. Bush ein gewisser Bill Clinton gewählt wurde? Wo Bruder Jeb Bush bei seinen Vorwahlen gelandet ist, wissen sie gewiss auch.

    Zwischen John Adams und John Quincy Adams indes wurden sogar zwei andere Präsidenten gewählt. Franklin D. Roosevelt ist dann wiederum nur entfernt mit Theodore Roosevelt verwandt. Und auf den Kennedys lastet ja bekanntlich deren eigener Fluch.

    Wenn also in gut 200 Jahren Demokratiegeschichte ganze zwei Söhne ebenso wie ihre Väter zu Präsidenten gewählt wurden, ist das natürlich genauso äh besonders als wenn innerhalb eines gut 20jährigen Staatsbestehens ein Sohn unmittelbar seinem Vater ins Präsidentenamt folgt.

  20. Meines Erachtens kommt man eher zu größeren Geldbeträgen, wenn man mit den Reichen und Mächtigen kooperiert, als wenn man opportuniert. Es gibt allerdings auch Ausnahmen. In Aserbaidschan stelle ich mir diese Ausnahmen jedoch ausgesprochen schwierig vor.

  21. Was Herr Grabosch so von sich gibt ist in der Tat mehr als fragwürdig. Die Frage, as man tun soll, in dieser globalisierten Welt im Umgang mit Regimen finde ich aber sehr viel schwieriger.
    Sich hier moralisch zu empören ist einfach und ich würde selbstredend auch da zu neigen.
    30% mehr Umsatz sind ja nicht unbedingt automatisch nur ein dickeres Auto für den Chef, gerade für eine ‚kleine Firma‘ (Zitat) gibt es real oder auch nur gefühlt sehr häufig nur die Wahl Aufträge anzunehmen, oder Gefahr zu laufen zumindest Mitarbeiter entlassen zu müssen…
    Aber das ist natürlich auch nur ein Dilemma des Unternehmers. Wir alle kaufen Waren aus China, wo Demokratie auch ganz anderes buchstabiert wird als hier. Also keine herrscht. Die Amerikanischen Präsidenten namens Adams sind nach meinen (unseren heutigen Maßstäben) auch alles andere als demokratisch gewählt worden, keine Frauen, keine Schwarzen…
    Es ist in den Kommentaren der Satz gefallen, dass für die Zustände in Aserbaidschan nur die dortige Regierung verantwortlich sei. Nun, man könnte auch sagen, dass eine Regierung auch nur so lange an der Macht sein kann, wie ‚das Volk‘ diese mehrheitlich gerade noch toleriert…
    Oder zumindest könnte man fragen, wer denn verantwortlich wäre diese Regierung aus dem Amt zu jagen. Da wo das von außen versucht wurde, ist in der Regel moralische Empörung ebenfalls sehr zu Recht angebracht worden. Und z.B. in Afghanistan und im Irak ja auch mit zweifelhaftem Erfolg.

    Wenn ich heute nur tief genug grabe, dann komme ich immer darauf, dass ein Teil meines (wirtschaftlichen) Handelns irgendwo indirekt ein politisches System unterstützt das alles andere als demokratisch ist, ob ich Waren aus China selbst konsumiere, einen Auftrag von einer Zeitung bekomme, die von Anzeigenkunden in der Hand russischer Investoren lebt etc. etc.

    Ich muss das nicht schön finden, aber Abschottung ist weder wirklich möglich, noch wünschenswert. Kritische und vor allem auch selbstkritische Sicht auf die Dinge dagegen immer angebracht.

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