40 Jahre nach dem Presseskandal

Bertelsmanns Rolle und Mitverantwortung beim Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher

"Stern"-Titel von 1983: "Hitlers Tagebücher entdeckt".
„Stern“, 1983

Vor 40 Jahren, am 25. April 1983, veröffentlichte der „Stern“ die (gefälschten) Hitler-Tagebücher. Was sich kurz darauf als größter Presse-Skandal der Nachkriegsgeschichte herausstellte, war eine Zäsur für Deutschlands einst erfolgreichste Illustrierte, von der sie sich nie mehr ganz erholte. Auflage und Glaubwürdigkeit stürzten ab, auch wenn der Verlag Gruner+Jahr (G+J) den Verlust von 20 Millionen Mark (inklusive Abfindungen und weiteren Kosten) verschmerzen konnte und die beiden Gesellschafter, Familie Jahr und Bertelsmann, weiterhin viele Millionen mit dem „Stern“ verdienten.

In den Beiträgen zum Jahrestag wird nun wieder, neben dem Fälscher Konrad Kujau, viel von ihm erzählt: Gerd Heidemann. Der „Stern“-Reporter hatte die gefälschten Tagebücher damals angeschleppt. Mit der Veröffentlichung begann dann auch sein Abstieg. Heidemann hat in den vergangenen vier Jahrzehnten unzählige Male davon erzählt, in mehreren Telefonaten auch mir. Und immer wieder wird er, etwa auch in einer aktuellen ARD-Doku, als die zentrale Figur des Skandals gehandelt, die er neben anderen auch ist.

Weitgehend vernachlässigt wird aber, welche Rolle der Bertelsmann-Konzern und seine Verantwortlichen damals mutmaßlich spielten. Schon 2018, als der „Stern“ in einem mehrteiligen Podcast erzählen wollte, „wie es wirklich war“, blieben deren Rolle und Mitverantwortung unscharf. Welchen Anteil an der Veröffentlichung der Fälschung hatte Bertelsmann, namentlich dessen Eigentümer Reinhard Mohn und sein Nachfolger im Vorstandsvorsitz, Manfred Fischer? Welche Fehler machten auch die Verlagsleute bei G+J? Und weshalb wird das kaum thematisiert? In der ARD-Doku „Der Hitler Fake“ etwa, die am Montag im Ersten lief, wird Fischer nicht mal erwähnt und Bertelsmanns Mitverantwortung für das Desaster nicht benannt.

Details und Grautöne

Es gibt heute viele Quellen zu diesem Fall: Ein redaktionsinterner Untersuchungsausschuss unter Vorsitz eines ehemaligen Hamburger Justiz-Senators hat damals, kurz nach der Veröffentlichung, 50 Zeugen aus Verlag und Redaktion gehört und das protokolliert, auf mehr als 3.000 Seiten; außerdem verhandelte ein Gericht viele Monate lang den Fall, und ehemalige „Stern“-Journalisten haben den Skandal in Büchern beleuchtet.

Einer davon ist Michael Seufert, er war von 1970 bis 1997 beim „Stern“, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur. Im Auftrag von „Stern“-Gründer Henri Nannen hat er 1983 aufgeklärt, wie es zur Veröffentlichung der Fälschung kommen konnte und darüber im „Stern“ berichtet. 25 Jahre später erschien sein Buch „Der Skandal um die Hitler-Tagebücher“, in dem er die Affäre aufarbeitet. Er sagt zu Übermedien: „Der Skandal läuft unter ‚Stern-Skandal‘, aber die Rolle von Bertelsmann ist wesentlich.“

Es scheint, als würden Details und Grautöne mit zeitlichem Abstand immer weniger interessieren – zugunsten einer eher oberflächlichen Darstellung, die sich am Ende hauptsächlich um „Stern“-Reporter Heidemann und Tagebuch-Fälscher Kujau dreht, die beide zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Michael Seufert zufolge sind die beiden auch zweifelsohne die Hauptschuldigen. Aber wie ist es mit den anderen?


Januar 1981. Gerd Heidemann hatte eigens eine Mappe vorbereitet über eine Recherchereise in die DDR: Im sächsischen Börnersdorf sollte 1945 angeblich ein Kurierflugzeug mit Hitlers Tagebüchern abgestürzt sein. Heidemann wollte sein Dossier präsentieren, doch der damalige „Stern“-Chefredakteur hatte genug von der „Hitler-Scheiße“, die den Reporter umtrieb. In der Vorstandsetage des Verlags hingegen war Heidemann willkommen, gemeinsam mit Thomas Walde, dem Leiter des Ressorts Zeitgeschichte. Sie trafen sich dort mit Manfred Fischer, dem damaligen Chef von Gruner+Jahr.

Der frühere "Stern"-Reporter Gerd Heidemann bei einem Interview.
Gerd Heidemann Foto: Imago / United Archives

Heidemann erzählt, Fischer habe ihm gesagt, der „Stern“ interessiere ihn eigentlich gar nicht; ihm gehe es um Bücher, die er weltweit vermarkten wolle.1)Heidemann beschreibt das auch auf seiner Website, auf der letzten der eingescannten Seiten ganz unten. Der „Stern“ sollte offenbar lediglich die Sensationsnachricht in die Welt tragen und so Interesse wecken für Bücher, mit denen Fischer Geschäfte machen wollte, unter anderem in den USA.

Michael Seufert beschreibt im Gespräch mit Übermedien und in seinem Buch „Der Skandal um die Hitler-Tagebücher“, wie Fischer diese Bücher tatsächlich über Bertelsmann veröffentlichen oder auswerten wollte, anscheinend bearbeitet durch Walde und Heidemann. Deshalb habe er offenbar Bertelsmann-Chef Reinhard Mohn in die so genannte Geheimoperation „Grünes Gewölbe“ und das finanzielle Risiko eingeweiht. Mohn war damals auch Aufsichtsratschef von G+J.

Die Chefredaktion des „Stern“ ahnte damals noch nichts von der „Geheimoperation“ im eigenen Verlag, für die Fischer nach dem Treffen mit Heidemann zwei Millionen Mark bewilligte. So viel hatte Heidemann für den Ankauf von 27 Tagebüchern kalkuliert – angeblich habe der amerikanische Hearst-Verlag diese Summe geboten, habe man ihm gesagt. Am Ende zahlte G+J fast zehn Millionen Mark für mehr als 60 Kladden. Die Chefredaktion des „Stern“ hätte lediglich bis zu 150.000 Mark bewilligen können. Heidemanns Vorhaben hätte wohl keine Chancen gehabt, glaubt Seufert.

Manfred Fischer aber konnte die zwei Millionen problemlos zusichern, mit Einwilligung seines Chefs Reinhard Mohn. 200.000 Mark wurden Heidemann sofort ausgezahlt, der Rest in Tranchen. Von Verlagsseite musste Heidemann keine unangenehmen Fragen fürchten; seine pauschale Versicherung, die Tagebücher seien echt, genügte offenbar. Und weil alles geheim bleiben sollte, prüften auch nicht vorab Historiker die Inhalte. Fischer und seine Manager wähnten ebenso wie Heidemann und Walde, dass die Chefredakteure des „Stern“ den Stoff ins Blatt nehmen könnten, bevor alle Tagebücher geliefert wären. Die Folge? Die weltweite Veröffentlichung der Sensation würde ausfallen – und damit die erwarteten Gewinne.

Echte Tagebücher? Unwahrscheinlich

Die Frage der Echtheit sei bereits Thema beim ersten Treffen mit Verlagschef Fischer gewesen, schreibt Seufert. Thomas Walde und „Stern“-Verlagsleiter Wilfried Sorge sollten „die weltweit besten Schrift- und Materialsachverständigen“ suchen. Sie sollten aber erst beauftragt werden, wenn eine größere Anzahl Tagebücher im Besitz des Verlags ist. Damit sollte ausgeschlossen werden, dass der Lieferant bestimmt, welches Buch untersucht werden soll. Denn es könnten ja echte und falsche Tagebücher vermischt sein, mutmaßte die Runde.

Seufert schreibt:

„Die nach dem Stand der historischen Forschung wahrscheinlichste Möglichkeit, dass Hitler überhaupt keine Tagebücher geschrieben hat, wird an diesem Nachmittag nicht einmal diskutiert.“

Aufgrund der Geheimhaltung erhielten Gutachter später nie alle Informationen, die sie für seriöse Gutachten benötigt hätten und kamen zu teilweise widersprüchlichen Ergebnissen. Zweifel und Warnzeichen ignorierten Walde, Heidemann, die G+J-Manager und auch die Chefredaktion des „Stern“.

Als die drei „Stern“-Chefredakteure schließlich im Mai 1981 von Heidemanns Sonderauftrag erfuhren und sich über den Vertrauensbruch empörten, sagte Fischer, wenn sie den Stoff nicht für den „Stern“ wollten, werde Bertelsmann ihn verwerten. Die Drohung wirkte offenbar. Mit Heidemann und Ressortleiter Walde hatte G+J bereits vertraglich vereinbart, dass sie den Stoff exklusiv bearbeiten sollen – und dass gegen ihren Willen keine Historiker hinzu gezogen werden dürften. Damit war laut Seufert die „Katastrophe programmiert“.

„Stern“-Herausgeber Henri Nannen forderte später vergeblich, Experten wie den Historiker und Hitler-Biografen Joachim Fest oder den Journalisten Sebastian Haffner die Tagebücher bewerten zu lassen. Außerdem wurden Heidemann und Walde frühzeitig erhoffte Gewinne vertraglich zugesichert. Walde dürfte somit wenig Interesse an kritischer Kontrolle gehabt haben.

Tatsächlich informierte Bertelsmann bereits 1981 seinen Vertreter in den USA über den sensationellen Fund. Am 4. Juni 1982 besprachen Bertelsmann-Chef Manfred Fischer und sein Nachfolger Gerd Schulte-Hillen mit Olaf Paeschke, dem Geschäftsführer der Bertelsmann-Buchverlage, die Strategie zur Verhandlung von Buchrechten. Verlage mit Bertelsmann-Beteiligungen sollten den ersten Zugriff haben, etwa Bantam Books in den USA. Paeschke verhandelte, aber es lief schleppender als erwartet.

Das falsche Bild von Hitler

Hat es G+J-Manager damals irritiert, dass die Kladden den Massenmord an den Juden völlig verschwiegen? Fälscher Konrad Kujau hatte es in den Tagebüchern so aussehen lassen, als hätte Hitler von vielem nichts gewusst.

Manfred Fischer habe sich in seiner Rolle als Verleger und oberster Redakteur wohlgefühlt und die „Stern“-Leute bei einem Besuch auf Heidemanns Jacht „ermahnt“, wie der ehemalige stellvertretende „Stern“-Chefredakteur Manfred Bissinger in seinem Buch „Hitlers Sternstunde“ schreibt. Fischer habe demnach gesagt:

„Macht euch auf ein Argument gefasst: Hitler hat nicht nur die ganze Welt belogen, er hat auch seine Tagebücher belogen. Und was da drin steht, das hat er hineingeschrieben, damit die Nachwelt ein entsprechendes Bild von ihm bekommt.“

(Heidemann sagte mir, dieser Satz sei so nicht gefallen.)

Bertelsmann-Eigentümer Reinhard Mohn
Bertelsmann-Chef Reinhard Mohn im April 1986 Foto: IMAGO / teutopress

Fischer war einst von Bertelsmann zu G+J nach Hamburg geschickt worden, um den Verlag zu sanieren. Dass Redakteure zu ihm kamen mit einem großen Recherche-Projekt und um Unterstützung bitten gegen die Chefredaktion, das sei neu gewesen und habe ihm geschmeichelt, schreibt Bissinger. Er beschreibt auch, wie Fischer nach Gütersloh fuhr und Reinhard Mohn um ein Gespräch unter vier Augen bat, um ihm mehrere Tagebücher zu zeigen. Mohn habe sie fasziniert in die Hand genommen und gesagt:

„Ungeheuer Manfred! Das ist das unglaublichste Manuskript, das ja meinen Schreibtisch passiert hat. Das ist die Sensation des Jahrhunderts. Es ist unglaublich, wenn es stimmt.“

Weder die hohen Kosten noch die Frage der Echtheit hätten Mohn beschäftigt oder irritiert.

Als Fischer Monate später Mohns Nachfolger in Gütersloh wurde, führte der neue G+J-Chef Gerd Schulte-Hillen die Aktion seines Aufsichtsratsvorsitzenden Fischer weiter. „Wie sollte ich das in Frage stellen?“ Vor Gericht sagte Schulte-Hillen aus, er habe Heidemann vertraut, weil der beim Leben seiner Kinder die Echtheit beschwor. Das habe ihn beeindruckt.


Weshalb findet all das kaum Beachtung in der heutigen Berichterstattung? Oder eben gar nicht, wie in der ARD-Doku und auch im Podcast des „Stern“ von 2018?

Titelbild des "Stern"-Podcasts "Faking Hitler"
„Stern“-Podcast „Faking Hitler“ Screenshot: Stern

Malte Herwig, der den „Stern“-Podcast gemacht hat, schreibt auf Anfrage von Übermedien:

„Ich habe mich damals bewusst entschieden, die sattsam bekannte Hitler-Tagebuch-Geschichte anhand der Tonbänder neu zu erzählen, die ich bei Heidemann gefunden habe. Als Geschichte über den Reporter und den Fälscher.“

Herwig betont: „Mir hat in Sachen Podcast und Artikel niemand vom Verlag G+J je reingeredet, das hätte ich als Autor auch nicht geduldet.“

Auch in der ARD-Doku von Christian Bock spielen die Tonbänder, die Heidemann heimlich von seinen Telefonaten aufnahm, eine Hauptrolle. Für das Filmprojekt „Der Hitler-Fake“, heißt es in der Ankündigung, habe Heidemann „sein Archiv in einem Hamburger Keller“ geöffnet und auch „bislang unveröffentlichte Dokumente zugänglich“ gemacht, „außerdem sämtliche aufgezeichnete Telefonate mit dem Fälscher Konrad Kujau“.

Titel der ARD-Doku "Der Hitler-Fake"
ARD-Doku „Der Hitler-Fake“ Screenshot: ARD

Christian Bock antwortet auf Anfrage von Übermedien:

„Grundsätzlich war der Ansatz des Films, das Thema ‚Geschichte fälschen‘ zu erzählen und neben der Frage nach der ideologischen Tendenz der ‚Tagebücher‘ den Fokus auf die Entwicklung der Beziehung zwischen beiden Protagonisten Kujau und Heidemann zu legen.“

Bestimmte Themen, wie etwa die internationale Vermarktung, habe er daher nicht vertieft. Der Film mache aber sehr deutlich, dass die Verlagsleitung das Projekt förderte, und nicht allein wegen der Veröffentlichung im „Stern“. Die Motivation, international Buchrechte zu verkaufen, und die Rolle von Bertelsmann und Mohn zu beleuchten, sei „sicher richtig, aber nicht der Fokus unserer Fragestellung“. Die Auswirkung, dass die Chefredaktion umgangen wurde und damit die journalistischen Entscheider vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, sei „klar in ihrer Konsequenz für den Fortgang und Ausgang der Affäre benannt“.

Wieso aber wird die Aussage von Gerd Heidemann zur Motivation von Manfred Fischer im zweiten Teil der Doku nicht genutzt, um den großen Zusammenhang zu erzählen? An die Verwertung durch Bertelsmann stellen sich immerhin eine Reihe Fragen: von der Geheimhaltung über die Finanzierung bis hin zum vorgezogenen Veröffentlichungstermin. Bock schreibt:

„Da kann ich mich nur wiederholen, das sind in der Tat interessante Aspekte, die ich sicherlich vertieft behandelt hätte, wenn sie in ihrer Bedeutung für das Thema ‚Geschichte fälschen‘ entscheidend gewesen wäre.“

Kann man den Ansatz „Geschichte fälschen“ wählen und der Frage nach der ideologischen Tendenz nachgehen, ohne neben den Hauptverantwortlichen Heidemann und Kujau auch nach den Mitverantwortlichen zu fragen? Und ohne die Rolle von Bertelsmann zu berücksichtigen?

Kann man. Aber sollte man?


Michael Seufert beschreibt in seinem Buch, wie die Verlagsspitze vor Gericht aussagte: In Gutachten wurde nur das gelesen, was für die Echtheit der Tagebücher sprach. Aber selbst das war fragwürdig. Teilweise wurden Gutachter mit Schriftproben ausgestattet, die ebenfalls aus Kujaus Fälscher-Werkstatt stammten. Sie verglichen Kujau mit Kujau. Warnungen, die in einem Gutachten zu ungeeigneten Vergleichstexten standen, wurden übergangen.

Der ehemalige „Stern“-Verlagsleiter Wilfried Sorge sagte 1984 als Zeuge vor Gericht: „Ich muss mir den Vorwurf machen, wir haben nur die letzten Sätze gelesen.“ Sorge hatte für seinen Jugendfreund Walde den Termin bei Fischer ermöglicht und spielte eine gewichtige Rolle bei der Beschaffung der Tagebücher: Er zahlte Geld an Heidemann aus, sammelte Kladden ein, war bei allen Besprechungen mit dabei und flog um die Welt, um gemeinsam mit Bertelsmanns Buchverlagschef Olaf Paeschke über Rechte zu verhandeln.

Sorge will sich heute zu seiner Rolle nicht mehr äußern. Der Tagebuch-Skandal sei für ihn abgeschlossen, schreibt er auf Anfrage.

Manfred Fischer erlebte die Veröffentlichung nicht mehr als Chef von Bertelsmann. Er sagte im Mai 1983 zu „Bild“:

„Es hat mir die Kehle zusammengeschnürt, als ich von der Fälschung erfuhr. Ich habe diese Sache begonnen, und wenn ich sechs Monate später nicht nach Gütersloh an die Konzernspitze gegangen wäre, hätte ich sie auch fortgeführt – genauso wie mein Nachfolger Schulte-Hillen es dann getan hat.“

Hatte er Zweifel an der Echtheit? Nein.

„Selbst wenn wir nur zu zehn Prozent an ihre Echtheit geglaubt hätten, hätte ich gesagt: Her damit! … Wir alle – von mir über meinen Nachfolger Schulte-Hillen zu Henri Nannen und Chefredakteur Koch bis hin zu Reinhard Mohn – wir alle miteinander haben Heidemann geglaubt. Und zwar waren wir nicht fast sicher, sondern absolut sicher, dass die Tagebücher echt waren.“

Vor Gericht sagte Fischer im Januar 1985 als Zeuge aus. Er habe es für seine „Pflicht“ gehalten, „mit zwei Millionen Mark ins Risiko zu gehen“. Und natürlich habe er sich von den Millioneninvestitionen ein gutes Geschäft versprochen: „Irgendwie muss natürlich die Kasse stimmen.“

„Geheimhaltungswahn und unzulässige Mystifikation“

Als sich die 60 Kladden als Fälschung heraus stellten, übernahmen die Chefredakteure Peter Koch und Felix Schmidt die Verantwortung für das Desaster. Sie verhandelten über Abfindungen. Aber Schulte-Hillen habe „ein nicht akzeptables Angebot“ gemacht, schreibt Felix Schmidt in seinem Tagebuch über die Tagebücher, das er erst 30 Jahre später in der „Zeit“ veröffentlichte.

Als er es nach vielen Jahren wieder gelesen hatte, war er angeblich erschüttert, wie „Geheimhaltungswahn und unzulässige Mystifikation“ die Vernunft außer Kraft gesetzt hätten. Sich selbst bezichtigte er der „unverzeihlichen Mutlosigkeit gegenüber dem mächtigen Vorstandsvorsitzenden“. Darüber sprechen möchte Felix Schmidt nicht mehr; über seinen Agenten lässt er ausrichten, er habe alles gesagt. Es gebe „keine neuen Erkenntnisse“.

Chefredakteur Koch sagte während der Abfindungsverhandlungen zu Schulte-Hillen:

„Sie müssen doch einfach einsehen, dass von mir keiner mehr ein Stück Brot nimmt. Ich bin als Journalist erledigt; ich kann doch jetzt Segellehrer werden. Ich bin ja zum Rücktritt bereit, aber nur unter materiellen Konditionen, die berücksichtigen, dass ich für Sie, Herr Schulte-Hillen, mitzurücktrete.“

Am Ende erhielt jeder von beiden mehr als drei Millionen Mark. So hatte man zwei Verantwortliche des „Stern“ für die Öffentlichkeit.

Später, schreibt Seufert, habe Peter Koch vor Gericht seine Fehler und Versäumnisse schonungslos aufgezählt. Er habe Heidemann nicht konsequent genug nach seiner Quelle befragt und sich anstecken lassen von der Bunkermentalität. Dieses brisante Projekt sei „im Niemandsland der Verantwortlichkeit“ geblieben. Er habe Walde und Heidemann einfach zu sehr vertraut und ihre vertraglichen Exklusivrechte sogar verteidigt. Deshalb trage er die journalistische Verantwortung dafür, dass die Fälschung im „Stern“ veröffentlicht worden sei.

Henri Nannen war 1983 nur mehr Herausgeber und 1985 bekannte auch er sich vor Gericht zu seiner Verantwortung. Er habe sich „um gar nichts gekümmert“. Seine Forderung, Fachleute hinzuzuziehen, hätte er durchsetzen können. Er habe da versagt. Den „Freispruch erster Klasse“ des internen Untersuchungsausschusses könne er deshalb nicht akzeptieren. Leider habe er an der Echtheit der Tagebücher nicht den geringsten Zweifel gehabt.

Bertelsmann versuchte die Krise damals zu nutzen, um konservative Chefredakteure beim „Stern“ zu installieren. Redakteurinnen und Redakteure protestierten dagegen2)Michael Jürgs erzählte davon bei einer Tagung des Netzwerk Recherche (ab Seite 61)., besetzten ihre Arbeitsplätze Tag und Nacht. Die Redaktion war ohnehin aufgebracht wegen der Fälschung, und besonders wütend habe es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemacht, erinnert sich Emanuel Eckardt, damals Redakteur beim „Stern“, dass die Gesellschafter versucht hätten, die linksliberale Redaktion politisch „nach rechts zu drehen“.

Am Ende konnte die Redaktion mit Johannes Gross den Chefredakteurs-Kandidaten verhindern, den sie strikt ablehnte. Den anderen, Peter Scholl-Latour, musste sie akzeptieren.

Wenige Wochen nach Bekanntwerden der Fälschung im Mai 1983 hat der „Spiegel“ die Verantwortung von Bertelsmann klar benannt. Der Konzern sei „auf doppelte Weise direkt verantwortlich für den Skandal“:

„Es waren die Mohn-Leute an der Spitze von G + J, erst der Vorstandsvorsitzende Manfred Fischer und dann dessen Nachfolger Gerd Schulte-Hillen, die unter konspirativer Umgehung der Redaktion mit dem Reporter Gerd Heidemann die Beschaffung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher ausmachten und dafür kofferweise Geld hergaben.

Es waren die Mohn-Leute aus Gütersloh, so der Vorsitzende der Bertelsmann AG, Mark Wössner, und aus Hamburg, wiederum Schulte-Hillen, die zusammen mit Mohn und den Gründern von G + J (John Jahr, Gerd Bucerius) dem ‚Stern‘ handstreichartig eine neue Chefredaktion präsentierten – unmittelbare Ursache für den Aufstand der Redaktion, die nun auch vom Illustriertengründer Henri Nannen nichts mehr wissen will.“

In zwei Absätzen ist das Wesentliche über die Mitverantwortung gesagt. Warum ist das heute nicht mehr Teil der Geschichte? Zu unwichtig? Zu kompliziert? Oder zu unangenehm?


Aus dem „größten Presseskandal der Bundesrepublik“, wie Michael Seufert ihn nennt, zieht er folgende Lehre:

„Die Grenzen zwischen Verlag und Redaktion dürfen nicht verwischt werden. Es muss immer deutlich sein, wer für was verantwortlich ist.“

Die Fälschungen wurden veröffentlicht, weil G+J und Bertelsmann sämtliche redaktionellen Kontrollen aushebelten und sich die Verantwortung gegenseitig zuschoben. Verlagschef und Chefredaktion hatten bis zuletzt akzeptiert, dass Heidemann ihnen vorenthielt, von wem er die Tagebücher hatte, weil angeblich Leben in Gefahr seien. Was Heidemann später abstritt.

Eile aus Angst vor einem Raubdruck

Selbst der vorzeitige Veröffentlichungstermin im April geht auf das Konto des Verlagschefs. Schulte-Hillen hatte mit dem US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ zu hoch gepokert, wie er Reinhard Mohn hinterher mitteilte. „Newsweek“ stieg aus den Verhandlungen aus, hatte aber bereits die fertigen Druckvorlagen vom „Stern“ erhalten. Aus Angst, das Blatt würde einen Raubdruck veröffentlichen, brachte der „Stern“ die Tagebücher bereits zwei Wochen vor dem Ergebnis des Material-Gutachtens, das die Fälschung entlarvte. Für die Redaktion war es wie ein Weltuntergang.

Und Reinhard Mohn? Der Eigentümer von Bertelsmann und langjährige Aufsichtsratsvorsitzende von G+J lehnte den Rücktritt von G+J-Chef Gerd Schulte-Hillen ab, weil die Verantwortung bei der Chefredaktion gelegen habe. Als der „Spiegel“ Mohn zum fragwürdigen Vorgehen des Verlags, die Chefredaktion zu übergehen, befragte, wollte er nicht näher darauf eingehen. Er selbst oder Bertelsmann-Chef Mark Wössner seien sicher nicht verantwortlich für das Debakel beim „Stern“.

Das Landgericht Hamburg betonte im Juli 1985 bei der Urteilsverkündung die Mitverantwortung des Verlags und wertete „ein erhebliches Mitverschulden der an der Beschaffungsaktion beteiligten Personen des Verlags und der Redaktion“ strafmildernd für Heidemann und Kujau, schreibt Seufert.


Im Februar 2023 berichten der NDR-Journalist John Goetz und der Politikwissenschaftler Hajo Funke, dass sie die gefälschten Hitler-Tagebücher erstmals umfassend inhaltlich ausgewertet haben und sich zeige, dass Hitler dort vom Massenmord an den Juden freigesprochen werden sollte.

Der amtierende Bertelsmann-Chef Thomas Rabe erweiterte daraufhin den Auftrag an das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ), das sich mit dem „Stern“ befasst. „Wir halten es für notwendig“, sagte Rabe, „den Umgang mit der Entdeckung, Bewertung und Veröffentlichung der gefälschten Tagebücher bei Gruner+Jahr und Bertelsmann wissenschaftlich untersuchen zu lassen.“

Journalist John Goetz verwies damals auf das Tagebuch zur Tagebuch-Affäre des ehemaligen „Stern“-Chefredakteurs Felix Schmidt, der darin notierte:

„Den Text für die erste Folge (…) lese ich vier oder fünf Mal. Den Satz, dass ‚die Biografie des Diktators und die Geschichte des Dritten Reiches in großen Teilen neu geschrieben werden muss‘, will ich ändern zu ‚in Teilen umgeschrieben werden muss‘. Der Chef vom Dienst und der Serien-Chef raten ab. Schließlich habe Hitler, folgt man den ‚Tagebüchern‘, das Ausmaß der Judenvernichtung nicht gekannt. Ich gebe nach.“

Waren Reinhard Mohn, Manfred Fischer und andere Verantwortliche sich dessen auch bewusst? Ging es ihnen nur ums Geschäft? Oder war es (auch) ihr Ziel, Hitler mit der Veröffentlichung zu entlasten?

Dass sie in den Kladden lasen, ist bekannt. Die Tagebücher wanderten vom Tresor in Hamburg nach Gütersloh und weiter in einen Tresor nach Zürich. Lässt sich klären, was sie tatsächlich vom Inhalt wussten und mit der Veröffentlichung beabsichtigten? Möglich, dass sich in den Akten aus den 80er-Jahren Antworten finden.


In Berlin trafen sich diese Woche Historiker und Medienwissenschaftler auf Einladung von Bertelsmann und dem Institut für Zeitgeschichte, um über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Henri Nannen und des „Stern“ zu debattieren – und über Kontinuitäten nach 1945 und den Umgang mit den Kujau-Kladden. Dabei ging es auch um die Vorwürfe, G+J und Bertelsmann hätten Hitler vom Holocaust reinwaschen wollen.

Als ich bei der Diskussion die Rolle von G+J und Bertelsmann ansprach, sagte Magnus Brechtken, stellvertretender Leiter des IfZ, man dürfe Heidemann und Kujau nicht zu Opfern machen. Es gebe keine Belege, dass die Verantwortlichen bei G+J und Bertelsmann das inhaltliche und ideologische Ziel verfolgten, Hitler zu entlasten. Im SWR stellte Brechtken Anfang der Woche im Gespräch mit John Goetz und Hajo Funke den Neuigkeitswert der Kladden außerdem in Frage.

Auf Anfrage von Übermedien schreibt Magnus Brechtken:

„Konrad Kujau schrieb einen Hitler für seine Kunden. Das war sein Geschäftsmodell. Seine Kunden zahlten für einen verklärten Hitler. Das war deren Erwartung. Kujaus moralfreie Geschäftstüchtigkeit ist nicht automatisch eine ideologische oder politische Agenda. Seine Verbindungen in rechte Kreise sind bekannt. Das sind seine Kunden. Wer meint, dass mehr dahinter steckt, muss sich fragen lassen: Wo sind Kujaus politische Aktivitäten? Wo seine ideologischen Auftritte? Beliebte Fälschungen für ziemlich viel Geld zu produzieren und zu verkaufen ist noch kein Weg zum politischen Umsturz.

Heidemann war geschickt und begierig, wie seine Gespräche mit Kujau zeigen. Aber analytisch war er ignorant und unwillig. Heidemann versteht zu keinem Zeitpunkt, was geschichtswissenschaftliche Analyse bedeutet. Einfachste Vergleiche finden nicht statt. Beispiel: Hitlers überlieferte Reden lesen, Hitlers Tagesablauf analysieren, seine täglichen Entscheidungen. Vor dem Krieg und besonders im Kriegsverlauf. Heidemann prüft weder die Inhalte, wie das möglich gewesen wäre, noch hört er auf klare Warnungen. Und Kujau bedient geschickt Heidemanns Gier.

Der Ankauf und die Veröffentlichung sind bei G+J und Bertelsmann eine Management-Frage. Das war nicht ideologisch motiviert. Ich bin der festen Überzeugung, dass Reinhard Mohn nicht auf die Verbreitung ideologischer Inhalte zielte. Das war ein geschäftlicher Vorgang und aus Gütersloher Perspektive nicht mal besonders groß. Mohn ist kein Ideologe. G+J-Chef Manfred Fischer hat abgewogen zwischen den Kosten und dem Potenzial einer weltweiten Vermarktung und wie sein Nachfolger Schulte-Hillen darauf vertraut, dass die Redaktion das angemessen prüft. Für den Skandal hauptverantwortlich ist eine überschaubare Gruppe, die in einem Tunnel lebte. Im Zentrum stehen Kujau, Heidemann, Walde und Sorge, dann Peter Koch, auch Felix Schmidt. Die Redakteure haben ihre Kenntnisse überschätzt und sind nicht offen in der Analyse, ehrlich kritisch schon gar nicht.  Sie hatten Angst ums Geschäft, nicht Sorge um die Wahrheit.“

Auf die Frage, ob das IfZ prüfen werde, ob Akten womöglich doch Hinweise enthalten, dass Verantwortliche von G+J und Bertelsmann Hitler reinwaschen wollten, schreibt Brechtken, dass selbstverständlich alles analysiert werde. „Das ist der wissenschaftliche Weg.“

Bis ein Bericht des IfZ vorliegt, dürften noch Jahre vergehen.

Fußnoten

Fußnoten
1 Heidemann beschreibt das auch auf seiner Website, auf der letzten der eingescannten Seiten ganz unten.
2 Michael Jürgs erzählte davon bei einer Tagung des Netzwerk Recherche (ab Seite 61).

8 Kommentare

  1. Im zweiten Satz heißt es: „Was sich kurz darauf als größter Presse-Skandal der Nachkriegsgeschichte herausstellte, war eine Zäsur für Deutschlands einst erfolgreichste Illustrierte, von der sie sich nie mehr ganz erholte.“ Und weiter: „Auflage und Glaubwürdigkeit stürzten ab, …“
    Woran macht der Autor fest, dass der der Stern sich „nie mehr ganz erholte“? An der Auflage? Wie hoch hätte die Auflage zu welchem Zeitpunkten wie sein müssen, dass sie sich „ganz erholte“? Wie hätte sich die Auflage ohne Skandal entwickelt? Oder geht es um den Ruf? Wie genau erholt sich ein Ruf? Und wie lange dauert das und wie wird das beurteilt? Es ist klar, dass der Skandal ein herber Schlag für den Stern war und die Auflage zunächst deutlich gelitten hat und der Ruf verstört war. Aber die Formulierung des Autors ist unklar und vielleicht sogar – falsch!? Möglicherweise ist die heutige Auflage genau so hoch wie ohne damaligen Skandal? Ich weiß das natürlich auch nicht, aber störe mich an der Aussage im zweiten Satz.

    PS: Es gibt Tippfehler bei Brechtgen/Brechtken im Text.

  2. Könntet Ihr gleich am Anfang das Datum korrigieren: „Vor 40 Jahren, am 25. April 1984, veröffentlichte der „Stern“ die (gefälschten) Hitler-Tagebücher.“?

  3. Ich stelle fest, dass das Thema anscheinend doch noch nicht so aufbereitet wurde, wie ich dachte.
    Aber hätte man die Tagebücher wirklich als „entlastend“ verstanden, weil der Holocaust nicht vorkam? Wenn ich Tagebuch führen würde, dann deutlich mehr über mein Privatleben als über meine Arbeit.

  4. @Mycroft (#5):

    „Aber hätte man die Tagebücher wirklich als ‚entlastend‘ verstanden, weil der Holocaust nicht vorkam?“

    Ja, denn das Thema kommt durchaus vor. Fake-Hitler schreibt mehrmals, er habe Himmler angewiesen, im Osten Land für die Juden zu finden, „wo sie sich selbst ernähren können“. Er behauptet, Himmler zu misstrauen und nicht zu wissen, warum die Sache nicht vorankomme, etc. Er zeigt sich auch überrascht und empört angeichts der Novemberpogrome.

    Kujaus Botschaft: Hitler wollte den Juden eigentlich einen eigenen Staat schenken; die Vernichtung sei allein Himmlers Projekt gewesen, das er gegen den erklärten Willen des Führers hinter dessen Rücken betrieben habe. (Nicht zuletzt darauf dürfte sich die unendlich dumme Behauptung des Stern stützen, wonach Teile der Geschichte neu geschrieben werden müssten).

  5. Okeeee…?
    DAS ist dann aber mal wirklich mal ein Fall von „viel zu schön um wahr zu sein“.

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