Journalistische Aktenhuberei

Die Masse ist die Message: Der Fluch der Papers, Leaks und Files

2013 hat es angefangen, mit den „Offshore-Leaks“. Es folgten „LuxLeaks“ (2014), „Swiss Leaks“ (2015), „Panama Papers“ (2016), „Paradise Papers“ (2017), „Football Leaks“ (2018) und „Pandora Papers“ (2021). Die Ergebnisse von Großrecherchen werden seit nunmehr zehn Jahren nicht mehr nach ihrem Nachrichtenwert, sondern nach Akten, Daten und Papieren benannt. Aktuell präsentiert der „Spiegel“ die „Vulkan Files“ – und wenn Sie nicht wissen, worum es da geht: viel Glück! Denn der Name erzählt exakt gar nichts. Mittlerweile fürchte ich, auch beim Publikum ein Leck ausgemacht zu haben, und zwar eins, durch das das Interesse entweicht.

Logo Vulkan Files
Uuuh, ein Datenausbruch Screenshot: „Der Spiegel“

Zusammen mit anderen Medien legte der „Spiegel“ letzte Woche „die geheimen Pläne von Wladimir Putins Cyberkriegern“ offen. Die IT-Firma „NTC Vulkan“, hinter der russische Geheimdienste stehen sollen, spielt offenbar eine wichtige Rolle in Putins Cyberkriegsführung. Ein spannendes, wichtiges Thema.

Aber warum um alles in der Welt nennt der „Spiegel“ das ganze „Vulkan Files“? Cyber Warfare, russische Hacker: Das ruft doch eigentlich genug etablierte Bilder hervor. Warum die Artikel dann spröde als „Akten“ oder „Dateien“ präsentieren? Und dann noch mit dem komplett irreführenden „Vulkan“ im Titel. Nichts daran ergibt irgendeinen Sinn, die „Files“ sind wie „Papers“ oder „Leaks“ nur noch eine freidrehende Metapher. Die medieninterne Logik des Leaks wird nach außen gekehrt und alles, was Journalist*innen über gute Titel wissen, ist vergessen.

Doch damit nicht genug der Selbstbespiegelung. Der „Spiegel“ lagert die Beschreibung der Recherchemühsal nicht komplett in einen Hinter-den-Kulissen-Artikel aus. Sie ist integraler Bestandteil der Story. Nach dem an Selbstpersiflage grenzenden Einstieg („Moskau ist düster im feinen Spätwinterniesel, noch immer häufen sich schmutzige Schneereste vor dem grauen Bürogebäude im östlichen Sokolinaja-Gora-Bezirk“) folgen immer wieder Abschnitte, die den zermürbenden Alltag von Investigativ-Journalist*innen dokumentieren. Und ja, ein Großteil dieser Arbeit läuft ins Leere, das macht sie so teuer und frustrierend. Aber die Leserschaft ganze sechs Absätze mit der Beschreibung von Biografie und Wohnort eines Ex-Vulkan-Mitarbeiters zu befassen, nur damit der dem „Spiegel“-Reporter die Tür vor der Nase zuknallt?

Sergej N. ist 35, aber „wirkt jünger“. Mit solchen Einsprengseln soll gezeigt werden: Wir waren wirklich da! Auch wenn wir von Sergej N. selbst nichts zu hören bekommen. Es wird eine Substanz suggeriert, die nicht da ist. Die Länge der Geschichte wird offenbar vom Aufwand der Recherchen bestimmt, nicht von den Ergebnissen.

Das Quellmaterial als Branding

Wie jetzt bei den „Vulkan Files“ wird seit einiger Zeit nicht das Ergebnis einer Recherche, sondern ihr Quellmaterial gebrandet. Aber jedesmal, wenn wieder Soundso-Leaks oder Dingenskirchen-Papers erscheinen, verliere ich schlagartig die Lust, das zu lesen. Selbst wenn es „die größte Recherche aller Zeiten“ ist, gewonnen aus „dem größten Datenleck aller Zeiten“ – ich merke einen Widerstand, mich damit zu befassen.

Das ist ungerecht und ein Problem, gemessen an der Bedeutung dieser Arbeit. Aber es gibt eine Ursache und die liegt an der Präsentation: Medien organisieren das Material nach einer Produktlogik – und scheinen nicht zu merken, welch fatale Wirkung davon ausgeht.

Dabei haben die bisherigen „Leaks“-Recherchen weltweit zu Festnahmen und Nachzahlungen an Finanzämter geführt. Viele Autor*innen erhielten höchste Auszeichnungen (für die „Panama Papers“ gab es gar den Pulitzerpreis). Aber so wie die gesammelten Skandale aus den Datenlecks verpackt werden, verzwergen sich die meisten der enthaltenen Geschichten zu Fußnoten der Recherche. Es geschieht das Gegenteil von dem, was Redaktionen bewirken wollen: Die Aufbereitung entzieht der Nachricht ihre Wirkung.

Wenn die Recherche selbst zur Story gemacht wird, die Designer*innen Extraschichten geschoben haben, um irgendwelche Personen, von denen man noch nie gehört hat, in einem konsistenten Look darzustellen, wenn Logos designt werden, mit denen man auch einen Kandidaten in den US-Präsidentschaftswahlkampf schicken kann, dann spült der Produktionswert irgendwann die Substanz weg.

Nach dem Datenproblem ein Erzählproblem

Ein Grund für diese merkwürdige Strategie ergibt sich aus den Datenmengen, die nur mehrere Redaktionen zusammen aufbereitet bekommen. Aus Bergen von Daten erstellen Redaktionen über Monate Texte und Grafiken, die dann schlagartig, koordiniert mit den anderen beteiligten Medien, veröffentlicht werden müssen. Die Menge an Inhalt, der strukturiert, gestaltet und beworben werden muss, der Erfolgsdruck, der auf einer so aufwendigen und teuren Zusammenarbeit von fünf oder auch fünfzig Redaktionen lastet – all diese Probleme versuchen die Redaktionen absurderweise mit den Mitteln des Corporate Designs zu bewältigen.

Darüber wird aber das grundlegende narrative Problem ignoriert: Ab einem gewissen Punkt wird „Reiche vermeiden Steuern“ für das Publikum nicht mehr interessanter, je mehr Reiche Steuern vermeiden. Und „Russland betreibt Cyberkriegsführung“ wird nicht brenzliger, je mehr Gigabyte Belege dem Spiegel rübergeschoben wurden. Aber genau das versucht das Leak-Branding zu erzählen: Die Masse ist die Message.

Das Datenproblem haben Redaktionen mit spezialisiertem Personal und besseren Tools niedergerungen – das Erzählproblem wird derweil immer größer. Wie erzählt man etwas, das gleichzeitig zu viel und zu wenig zu erzählen ist? Die Stoffmasse erzeugt ein journalistisch besonders unangenehmes Problem: Hätten wir nur vom Fehlverhalten einer prominenten Person erfahren: Die Geschichte hätte einen Protagonisten. Es wäre ein handfester Skandal. Bei den Steuerleaks gibt es aber zu viele (fragwürdig) handelnde Personen, so dass sich der publizistische Impuls aufdrängt, die schiere Menge der Daten zur Story zu machen.

Bei den „Vulkan Files“ ist das Problem anders, aber die Lösung gleich: ein Geflecht undurchschaubarer Organisationen, schweigende Protagonisten, eine wenig überraschende Erkenntnis (Russland sabotiert Computersysteme im Ausland). Der journalistische Ausweg: Das Leak selbst ist die News.

Blaupause für Lecks

Zudem hat sich eine merkwürdig standardisierte Ästhetik herausgebildet, die sich seit den ersten Leaks kaum verändert hat. Es gibt mittlerweile offenbar so etwas wie eine Blaupause für die Leak-Berichterstattung. Dazu gehören:

  • Ein Markenname: Der kleinste gemeinsame Nenner aller Stories, die sich aus einem Leak ergeben ist das Leak selbst. Und weil man sich Daten so schlecht vorstellen kann, bekommen sie einen Ortsstempel: Dabei ist es egal, ob die Daten von dem Ort kommen („Panama Papers“) oder von ihm handeln („Swiss Leaks“). Wenn mehrere Orte betroffen sind, werden sie irgendwie suggestiv zusammengefasst („Paradise Papers“). Bei den „Pandora Papers“ konnte man auf den etablierten Begriff „Papers“ zurückgreifen und die phonetische Ähnlichkeit zu Panama kommt sicherlich auch nicht von ungefähr. Der Rechercheverbund ICIJ, der den Namen wählte, meinte damit die Büchse der Pandora: Das mythische Gefäß, das nicht geöffnet werden darf, weil es alles Übel der Welt enthält.
  • Ein Logo: Ein Leak ist kein Leak, wenn es kein Logo hat. Die „Süddeutsche Zeitung“ verpasste dem Datenkonvolut der Kanzlei Mossack-Fonseca aus Panama ein rotblaues „P“ mit stilisierten, im Umblättern begriffenen Papieren, das so kommerziell-dynamisch aussieht, dass es sich überhaupt nicht mehr nach Journalismus anfühlt. Die „Pandora Papers“ hingegen ziert ein handwerklich schwach umgesetztes Siegel (oder eine Münze, es ist nicht ganz klar) mit der Darstellung einer roten Schatzkiste, aus der Dokumente wehen. Das Logo der „Paradise Papers“ zeigt eine Art Poststempel mit zwei Palmen. Du kannst so viel Datenjournalismus machen wie du willst, in der Grafikabteilung besteht die Welt noch immer aus Papier.
  • Eine Designsprache: Neben einem durchgezogenen Farbschema finden sich oft Collagen, die den Mangel an kohärenter Story mit einem seifenopernartigen Ensemble der Protagonisten und ihrer Werkzeuge zeigen (originellerweise meist Aktenordner und Computer). Die Köpfe werden auf farblich verfremdeten Fotos gezeigt, oft aus geometrischen Grundformen wie in Spionagenfilmen der 1970er oder, wenn das Budget größer war, als Illustrationen im Stil der Porträtzeichnungen, wie man sie aus dem Wall Street Journal kennt. Diese holzschnittartigen Darstellungen sollen einerseits Alte-Zeitungs-Seriosität vermitteln und andererseits für einen konsistenten Look sorgen. Das geht mit Personen – selbst wenn man sie gar nicht kennt – visuell immer noch überzeugender als mit dem hundertsten Bild von Briefkästen, der ödesten Darstellung der an sich schon mega-öden Metapher der „Briefkastenfirma“.

Redaktionelle Selbstbezüglichkeit

Quellen als Marke, Art Direction wie im Spionagefilm, Journalismus über Journalismus – irgendwo in dieser redaktionellen Selbstbezüglichkeit sind die Interessen der Leser*innen verlorengegangen. Nur so lässt sich erklären, wie ein Leak selbst zur Nachricht werden kann – oder gar die Recherche. Es ist für Journalist*innen schwer zu glauben, aber die Größe einer Recherche ist dem Publikum in etwa so wichtig wie der Geschmack eines Leitz-Ordners. Der Versuchung, die eigene Arbeit zu thematisieren (und nicht nur ihr Ergebnis), kann dennoch kaum eine Redaktion widerstehen.

Ein besonders schrulliges, aber auch erhellendes Beispiel lieferte die SZ, die eine Seite mit einem rosa-grünen Pixelbrei betreibt, über den man die Maus wie eine Lupe bewegen kann. So soll man sich einen Eindruck von der Datenmenge der „Panama Papers“ verschaffen. Es ist ein (immerhin interaktives!) Dokument erzählerischen Scheiterns:

Screenshot: sz.de

Jeder möchte verständlicherweise, dass seine Arbeit selbst gewürdigt wird – und nicht nur ihr Ergebnis. Aber es ist die Aufgabe von Redaktionen, aus Recherchen für das Publikum relevante, verständliche Ergebnisse zu destillieren. Wenn dieser Mechanismus versagt, werden Daten zu Stories, bekommen wir mystische, aber langweilige Headlines wie „Vulkan Files“ und dadaistischen rosa-grünen Überwältigungsbrei. Von der „größten Recherche aller Zeiten“ bleibt: eine Matrix für Arme.

5 Kommentare

  1. „Moskau ist düster im feinen Spätwinterniesel, noch immer häufen sich schmutzige Schneereste vor dem grauen Bürogebäude im östlichen Sokolinaja-Gora-Bezirk“

    Der Spiegel und der szenische Einstieg. Sie können einfach nicht anders. Selbst wenn es um „Files“ geht.

  2. Das „Files“ im Namen ruft jedem Leser in Erinnerung: Es ist nicht eine Aussage, ein einzelner Zeuge.
    Es ist extrem umfangreiches Material. Es hat eine hohe Beweiskraft, weil viele Querverweise aus dem Material raus geprüft werden können.

    Es ist wichtig, dass auch nach Monaten noch hängenbleibt: Es wurde nicht behauptet „Die Russen waren es“. Es wurde sehr umfangreich belegt.

  3. Mich nervt nicht der Inhalt, das sind bisher immer brisante Recherchen und deren Aufbereitung und Veröffentlichung höchst verdienstvoll. Ich finde die Filerei – diesen Versuch der Markenbildung – befremdlich. Es kann sich ein Abnutzungseffekt („schon wieder diese Files“) einstellen, der dem Inhalt eher abträglich ist.

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