Datenauswertung

Islamdebatte: Wer antwortet, wenn der Muezzin ruft?

"Bild"-Schlagzeile über den Ruf des Muezzin in Köln
Ausriss: „Bild“

Nur freitags, im Innenhof, für fünf Minuten und in der Lautstärke eines normalen Gesprächs. Auf den ersten Blick hat der Kölner Muezzinruf nicht das Zeug für eine monatelange bundesweite Diskussion. Aber die Dynamiken deutscher Islamdebatten erscheinen manchmal ebenso unverständlich wie der islamische Gebetsruf für die meisten Deutschen.

Über ein Jahr lang wurde in Medien diskutiert: Ist der Muezzinruf in Köln Ausdruck von Vielfalt und Teilhabe oder Machtdemonstration des politischen Islam? Religionsfreiheit oder Unterwerfung?

Eine Antwort darauf liefert unsere Analyse nicht. Stattdessen geht sie anderen Fragen nach: Wer führt eigentlich hierzulande Islamdebatten? Wer kommt zu Wort, wer nicht? Wird nur über Muslime diskutiert oder auch mit ihnen? Welchen Einfluss haben die großen Verbände und welchen die sogenannten Islamkritiker?

Um das herauszufinden, haben wir uns die Berichterstattung zur Muezzin-Debatte angeschaut. Dabei handelt es sich genau genommen um zwei Debatten. Die erste begann am 8. Oktober 2021 mit der Ankündigung von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, den Ruf des Muezzins auf Antrag und unter Auflagen genehmigen zu wollen. Die zweite setzte fast auf den Tag genau ein Jahr später ein, als am 4. Oktober 2022 die Stadt Köln den ersten solchen Antrag der Zentralmoschee der „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ (DITIB) im Kölner Stadtteil Ehrenfeld genehmigte.

1 Muezzinruf, 135 Artikel, 325 Meinungen

Ausgewertet haben wir die Print- und Online-Berichterstattung von zehn Zeitungen zwischen Anfang Oktober 2021 und Ende 2022. Das sind „Bild“, „Die Zeit“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), „Die Welt“ und „Die Tageszeitung“ (taz) als überregionale Zeitungen sowie die vier auflagenstärksten Zeitungen in und um Köln: „Kölner Stadtanzeiger“, „Express“, „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ) und „Rheinische Post“ (RP). Auch Wochenend-Ableger wie „Bild am Sonntag“ und „Welt am Sonntag“ wurden analysiert.

Insgesamt haben wir 135 Artikel und die darin enthaltenen 325 Äußerungen zum Muezzinruf ausgewertet und in Befürwortungen und Ablehnungen eingeteilt. Ein Häkchen bei „pro Muezzin“ gab es beispielsweise, als die SZ den Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime Aiman Mazyek mit den Worten zitierte, Köln sende mit dem Muezzinruf „ein Zeichen der Toleranz und der Vielfalt in die Welt.“ Als Psychologe Ahmad Mansour den Muezzinruf hingegen in der WAZ als „Machtdemonstration des Politischen Islam“ bezeichnete, zählten wir das als „contra Muezzin“.

Nicht nur über Muslime, auch mit Muslimen

Positiv fällt auf: In allen untersuchten Medien konnte man muslimische Stimmen lesen. Ob eine Person muslimisch ist oder nicht, haben wir in den meisten Fällen den untersuchten Beiträgen und anderen öffentlich zugänglichen Quellen entnehmen können. Personen, bei denen uns das nicht gelungen ist, erscheinen unter „unbekannt“.

Besonders erwähnenswert ist die Berichterstattung der „Rheinischen Post“. In mehreren Texten ließ die Zeitung neben Politikern, Anwohnern und Kritikern auch zahlreiche Moscheegänger aus ihrem Verbreitungsgebiet zu Wort kommen.

Am seltensten kommen klar erkennbare muslimische Stimmen in den Artikeln von „Bild“ vor. Und: Trotz vergleichsweise intensiver Begleitung des Themas schaffte es die Redaktion in über einem Jahr Berichterstattung über die Kölner Zentralmoschee nur ein einziges Mal, die Position eines ihrer Vertreter wiederzugeben.

Auch wenn die weitere Analyse zeigen wird, dass die Existenz muslimischer Stimmen nicht zwangsläufig etwas mit einer ausgewogenen Berichterstattung über Islam und Muslime zu tun hat, steht fest: Die Muezzin-Debatte wurde in allen untersuchten Medien nicht nur über Muslime geführt, sondern auch mit ihnen.

Viele Politiker und Muezzin-kritische Fachleute

Eine Gruppe kam in der Debatte auf jeden Fall nicht zu kurz: Politiker und Politikerinnen. Jede dritte Äußerung (33 Prozent) zum Muezzin stammte von ihnen.

Die Vorliebe zum Politiker-Statement teilen fast alle untersuchten Zeitungen. Nur in der „Welt“ und in der „Rheinischen Post“ wurden Fachleute häufiger zitiert. Auf „Fachleute“ geht mehr als jede fünfte Äußerung zurück (22 Prozent). Auffällig ist bei ihnen der hohe Anteil an Äußerungen, die den Muezzinruf kritisch sehen (83 Prozent). „Muslimische Vertreter“ machen mit 19 Prozent die drittgrößte Gruppe aus.

Zur korrekten Einordnung dieser Zahlen muss man allerdings erwähnen: Der hohe Politiker-Anteil erklärt sich zum Teil daraus, dass die Debatte von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) ausgelöst wurde. Ihre Positionierung wurde in vielen Beiträgen wiederholt. Obwohl sie sich im Verlauf der Debatte selten äußerte, geht fast jedes vierte Politiker-Zitat in den von uns betrachteten Berichten zur Muezzin-Debatte auf sie zurück (24 Prozent).

Ähnliches gilt für die „muslimischen Vertreter“. Bei einem Großteil der Statements handelt es sich um Stellungnahmen der für den Muezzinruf verantwortlichen Antragsteller von DITIB und der Kölner Zentralmoschee. Ihre Positionierung wurde zwar häufig wiedergegeben, aber selten mit mehr als einem Satz. So erschien am 17. November 2021 unter der Überschrift „Gebetsruf ist verfassungsmäßiges Recht“ im „Kölner Stadtanzeiger“ das bis heute einzige Interview mit Vertretern der betroffenen Kölner Moschee, Murat Şahinarslan und Zekeriya Altuğ.

Wer wurde als Experte befragt?

Wen lassen Redaktionen jenseits nachrichtlicher Notwendigkeiten zu Wort kommen? Wen befragen sie außer den unmittelbar Verantwortlichen und Betroffenen – wenn es ihnen also darum geht, das Thema kompetent oder pointiert einzuordnen? Um hierfür nur die Aussagen jener, die Medien wahrscheinlich als Fachleute und Experten wahrnehmen, zu analysieren, wurden Äußerungen herausgefiltert, die von unmittelbar Involvierten stammen. Etwa der Kölner Bürgermeisterin und der Verantwortlichen der Kölner DITIB-Moschee, von Abgeordneten des Kölner Stadtrates, Anwohnerinnen und Demonstrantinnen. Auch Meinungsäußerungen von Journalisten in Kommentaren und Kolumnen ließen wir aus.

Was bei dabei auffällt: Das pro/contra-Verhältnis ändert sich deutlich. Ist das Meinungsbild, wenn man alle Statements aller Gruppen betrachtet, noch ausgeglichen (141 pro-Stimmen vs. 143 contra-Stimmen), stehen nun jeder dem Muezzinruf wohlgesonnenen Expertenstimme (47) zwei gegenüber, die den öffentlichen Gebetsruf ablehnen (103).

Einigermaßen ausgeglichen ist das Verhältnis auch hier wieder bei den Regionalzeitungen „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Rheinische Post“ und „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“. Einseitig ist die Berichterstattung erneut bei „Bild“: Hier stehen 13 kritischen Statements einem einzigen wohlwollenden gegenüber. Die Äußerung von Ex-Kanzleramtschef Helge Braun, der am 2. Oktober 2021 auf die grundgesetzliche Religionsfreiheit verwies, wurde zudem unter der Überschrift „Wirbel um Brauns Muezzin-Aussage“ skandalisiert.

Medien wählen vor allem islamkritische Stimmen

Noch eine weitere Sache fällt bei der Auswahl der Expertenstimmen auf: Fachleute aus Bereichen, die man in einer Debatte über Religionsausübung und Religionsrecht eigentlich erwarten würde, kamen nur selten zu Wort. So finden sich in der Berichterstattung der Zeitungen nur insgesamt sieben Statements von Religions- und Islamwissenschaftlern sowie islamischen Theologen. Verfassungsrechtler kamen zur zweimal zu Wort.

Sehr prominent vertreten waren hingegen Personen, die in der Öffentlichkeit vor allem für Kritik am Islam bekannt sind, wie die Soziologin Necla Kelek, die Ethnologin Susanne Schröter und der Psychologe Ahmad Mansour. Letzterer brachte es in der Muezzin-Debatte allein auf mehr als dreimal so viele Erwähnungen (28) wie alle Islam- und Religionswissenschaftler, islamischen Theologen und Verfassungsrechtler zusammen (9). Auffällig ist auch, dass die Mehrheit der sonstigen Fachleute ein wohlwollendes Urteil über den Ruf des Muezzins fällt.

Die Deutung liegt nahe, dass es vielen Redaktionen bei der Auswahl ihrer Expertenstimmen weniger um eine fachkundige Einschätzung zu den Facetten des Themas als um pointierte und kritische Statements mit Öffentlichkeitswirkung ging.

Nicht in allen Zeitungen dominierten die kritischen Stimmen. Erneut hoben sich Zeitungen mit regionalem Bezug zur Debatte durch mehr Vielfalt hervor. In der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ und im „Kölner Stadtanzeiger“ kamen Personen wie Ahmad Mansour und Susanne Schröter zwar auch zu Wort, aufgrund des insgesamt wesentlich breiteren Spektrums an Expertenäußerungen fielen diese aber nicht so stark ins Gewicht.

Am unteren Ende des Spektrums finden sich erneut Medien des Springer-Verlages. Bei „Bild“ sind neun von 15 Experten Personen, die man für überwiegend kritische Positionen kennt (3x Necla Kelek, je 2x Ahmad Mansour und Seyran Ateş, je 1x Thilo Sarrazin und Rana Ahmad). In der „Welt" sind es 14 von 23 (7x Ahmad Mansour, je 2x Susanne Schröter und Henryk M. Broder, je 1x Mina Ahadi, Hamed Abdel-Samad und Necla Kelek).

Wer spricht für die muslimische Community?

Damit bietet die Analyse auch eine Antwort auf eine Frage, die in Islamdebatten hierzulande immer wieder diskutiert wird: Wer soll und darf für die muslimische Community in Deutschland sprechen? Geht es nach deutschen Medien, sind das vor allem islamkritische Einzelpersonen. Vertreter der etablierten Verbände werden von Medien hingegen kaum als Gesprächspartner wahrgenommen. Zitiert werden sie nur dann, wenn sie selbst Gegenstand der Nachrichten sind.

Abgesehen von den unmittelbar beteiligten Antragstellern aus der Kölner DITIB-Moschee kamen Vertreter dieses Verbands nur in sechs weiteren Fällen zu Wort. In allen Fällen handelte es sich um Berichte über mögliche Muezzinrufe an DITIB-Moscheen in anderen Teilen des Landes. Vertreter des Zentralrates der Muslime kamen bei sechs Gelegenheiten, Vertreter der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) in einem Fall zu Wort. Rechnet man zudem Äußerungen der Grünen-Abgeordneten Lamya Kaddor dem von ihr gegründeten Liberalen Islamischen Bund zu, kommt man insgesamt auf 15 Fälle, in denen Medien Vertreter islamischer Organisationen in der Expertenrolle zitierten. Somit kamen sämtliche Vertreter islamischer Organisationen in der Muezzin-Debatte zusammen nur etwa halb so oft zu Wort wie Ahmad Mansour allein.

Berücksichtigt man auch die Länge der Statements, ist der Unterschied noch signifikanter. Den Positionen beispielsweise von Susanne Schröter und Ahmad Mansour wurden mehrmals ganze Beiträge gewidmet. Rechnet man Interviews und Gast-Kolumnen hinzu, wurde Personen, die vor allem für islamkritische Positionen bekannt sind, in insgesamt 24 Beiträgen ausführlich Raum geben.

Muslimische Vertreter erhielten diesen Raum nicht. Ihre Position wurde meist auf wenigen Zeilen wiedergegeben. Neben dem erwähnten Interview mit Vertretern der Zentralmoschee im „Kölner Stadtanzeiger“ war eine Kolumne von Nurhan Soykan der einzige längere Beitrag einer Vertreterin einer muslimischen Organisationen in der Muezzin-Debatte. Am 21. Oktober 2021 schrieb die Vizevorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland in der „Zeit“ neben fünf weiteren Personen zum Thema „Darf der Muezzin nun rufen?“. Über die Frage wird wahrscheinlich auch in Zukunft debattiert werden. Über die Frage, wer an diesen Debatten teilnimmt, hoffentlich auch.

Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Artikels hatten wir geschrieben, Henriette Reker sei in der SPD. Wir haben das und die entsprechende Grafik korrrigiert.

4 Kommentare

  1. Wegen solcher Rechercheansätze und deren informativen und nachvollziehbaren Aufbereitung zahle ich meinen jährlichen Obolus sehr sehr gerne. Bitte bleibt da weiter dran, denkt um die Ecken, legt Finger in die Wunden, schaut Euch das Große Ganze und die Details dahinter an. Das ist eine sooooo wertvolle Arbeit, die ich sehr zu schätzen weiß!

  2. Kolossal interessante Analyse, so etwas in einer Rückschau einmal zu aggregieren.
    Gut fände ich, wenn die Verlage das als Feedback bekämen.

  3. Nun ja, der Text gibt sich einerseits wirklich Mühe, Datenjournalismus zu betreiben und die Politik herauszuhalten. Interessante Perspektive.

    Andererseits kann das angesichts der Sachlage gar nicht gelingen, und deshalb entsteht eine Schieflage: Die liberale Muslimin Seyran Ates wird zur „islamkritischen Einzelperson“ der (zu?) viel Aufmerksamkeit geschenkt werde; der Erdogan-nahe Staatsverein DITIB dagegen zur wenig gehörten Stimme, deren Position mehr Rechnung getragen werden müsse.

    Ja, leider Gottes spricht DITIB tatsächlich für relevante Teile der deutsch-türkischen Community – die AKP und der türkische Staat tun schließlich alles, um diese Position zu halten und auszubauen. Aber tut man religiös-liberalen und politisch-demokratischen Deutsch-Türken einen gefallen, wenn man einfordert, DITIB müsse von deutschen Mainstream-Medien als Sprachrohr ihrer Community anerkannt werden? Tut man Deutsch-Türkinnen, die sich liberale Familienverhältnisse wünschen, damit einen Gefallen?

    Über diese Fragen wird bei Übermedien hoffentlich auch debattiert.

  4. Hallo Fabian,
    Ich habe gerade zufällig Deine sehr interessante Analyse gelesen und bin mal beim Probeabo von uebermedien.de deshalb dabei.

    Auch bei Schantall & die Scharia habe ich mal reingeschaut, ist echt ein cooles Format, das ich mal verfolgen will.
    Herzliche Grüße aus Freiburg i. Brsg.

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