Nach der Berlin-Wahl

Kein Grund, schwarz zu sehen – oder: Was ist nochmal eine „Mehrheit“?

Man sollte ja meinen, was eine „Mehrheit“ ist, sei eine einfach Frage, auch für Journalist:innen: So zum Beispiel, wenn eine bestehende Regierung im Parlament nach der Wahl 90 von 159 Sitzen hat. Da dies rechnerisch zehn mehr sind, als man bräuchte (80), hat eine solche Koalition ganz offensichtlich die Mehrheit. Und ja, dies gälte auch dann, wenn die Union und FDP jeweils 25 Prozent hätten und sich anschickten, gegen eine 40-Prozent-SPD zu koalieren.

Aber nicht, wenn Sie den „Bild“-Journalisten Carl-Victor Wachs fragen. Auf Twitter schreibt er: „Schon wieder! Politik wird am Wunsch der Mehrheit vorbei gemacht. Atomkraft, Gendern, Auto-Hass – und jetzt die Berlin-Wahl. Mein Kommentar @BILD“

Was folgt, ist eine erstaunliche Realitätsverweigerung, in gefühlt epischer YouTube-Länge von neun Minuten: „Mal wieder haben wir rote und grüne Kräfte, die an der Mehrheit vorbei entscheiden“, eröffnet Wachs seinen Kommentar. Später heißt es unter anderem, die Grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch wolle mit „mickrigen 18,4 Prozent“ Bürgermeisterin werden. Giffey, Jarasch und Linken-Chef Klaus Lederer seien „abgewählt“ worden, meint Wachs. „Schön und gut, so funktioniert Demokratie.“ Giffey sei „abgestraft“ worden. „Die Berliner haben ganz klar gemacht, dass sie sich eine Veränderung in ihrer Regierung wünschen.“ Und weiter: „Beide Frauen ignorieren völlig die Mehrheit.“

Das bizarre Stück findet seinen Höhepunkt in einem Interview mit dem bekanntermaßen rechtskonservativen Politikwissenschaftler Werner Patzelt, der von Wachs gefragt wird: „Missachten SPD und Grüne mit ihrem Regierungsanspruch jetzt die Mehrheit?“ Worauf Patzelt wahrheitsgemäß antwortet:

„In einem parlamentarischen Regierungssystem braucht nun einmal die Regierung die Mehrheit in einem Parlament. Eine solche hat aber weiter die bisherige Koalition. Wenn es also bei SPD, Grünen und Linken den politischen Willen gibt, ihre Koalition fortzusetzen, dann nützt der Wahlsieg der Berliner CDU überhaupt nichts.“

Klappe zu, Affe tot: An dieser Stelle, an der einer der profiliertesten konservativen Professoren, der in der Vergangenheit für Koalitionen von CDU und AfD plädierte, dem „Bild“-Reporter erklärt, wie parlamentarische Demokratie funktioniert, könnte einfach Schluss sein, weil der Quatsch zu offensichtlich wird. Doch Wachs bleibt unbeirrt und fragt nach einer angeblichen „Zwickmühle“, in der sich die CDU befände. Woraufhin Patzelt zu Protokoll gibt, wenn diese mit SPD oder Grünen koalieren wolle, könne sie dies nur durch „demütiges Kuschen vor dem jeweiligen Koalitionspartner erreichen.“

Womit wir wieder bei der AfD wären, nur leider, leider reichte es mit denen ja nicht mal, wenn die CDU wöllte, weil … genau: Die bisherige Koalition ja weiterhin eine M-e-h-r-h-e-i-t im Parlament hat!

Stattdessen kontert Wachs nach einem verkniffenen „Danke, Herr Professor Patzelt, für das Gespräch“ mit der kongenialen Abmoderation: „Wir sehen also, es passiert immer wieder: Es wird an der Mehrheit vorbeiregiert.“ Als weitere „Beispiele“ (using the term loosely here), wie die Linken die „Mehrheit“ knechten, wo sie nur können, folgen: das Gendern, die Atomkraft, das Auto und der öffentlich-rechtliche Rundfunk. (Dass ARD und ZDF nicht zusammengelegt werden, obwohl „die Deutschen es wollen“, liegt laut Wachs daran, dass wir „eine Regierung mit einem SPD-Bundeskanzler“ haben und die Grünen wichtige Ministerien besetzen. Das ist angesichts der Tatsache, dass die Bundesregierung für Rundfunk in Deutschland gar nicht zuständig ist, fast schon komisch falsch.)

Nullen

Nun könnte man sagen, naja „Bild“, was erwartet man da, außer Reichelt-TV für Arme, Tucker-Carlson-Imitat hier, Imitat-Abklatsch dort, doch weit gefehlt: Ein nicht unerheblicher Teil deutscher Journalist:innen bewegt sich auf strukturell ähnlichem Terrain. So schrieb Alexander Neubacher am Mittwoch in seinem „News-Briefing“ für den „Spiegel“ unter der Überschrift „Dreimal Null ist Null ist Null – aber nicht für SPD, Grüne und Linke?“:

„SPD-Spitzenkandidatin und Amtsinhaberin Franziska Giffey hat es ja nicht einmal geschafft, ihr Direktmandat zu gewinnen. Ebenso wenig Bettina Jarasch von den Grünen und Klaus Lederer von den Linken.“

Schließlich zitiert Neubacher einen „zugegeben etwas gewagten“ Vergleich: „Wenn die Bundesliga-Schlusslichter Hertha, Schalke und Stuttgart ihre Punkte zusammenlegten, würden sie ja auch nicht Deutscher Meister.“

Dass die Vergabe der Meisterschaft in der Fußball-Bundesliga anders funktioniert als die Regierungsbildung einer parlamentarischen Demokratie ist tatsächlich keine gewagte Erkenntnis, sondern entspricht dem Stand des Sozialkunde-Unterrichts in der Mittelstufe. Aber der ist in Berlin zugegebenermaßen auch nicht besonders gut.

Zweite

Auf der anderen Seite kann man natürlich auch Argumente dafür finden, dass es eine Mehrheit für eine CDU-geführte Regierung gibt: So geht aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag von RTL und ntv hervor, dass 65 Prozent der Befragten meinen, die Christdemokraten unter Kai Wegner sollten den neuen Senat anführen. Und natürlich muss sich insbesondere die SPD auch von Journalist:innen fragen lassen, woraus sie einen Führungsanspruch ableitet. Die Grünen allerdings haben ihr historisch bestes Wahlergebnis von 2021 (mit minimalen Verlusten) praktisch wiederholt – ob „Bild“-Mann Wachs das „mickrig“ findet oder nicht.

Es gibt es auch historische Vorbilder für Unionspolitiker, die Regierungen gebildet haben, obwohl sie weit davon entfernt waren, die meisten Stimmen für ihre Partei geholt zu haben. So zum Beispiel Ole von Beust, der 2001 trotz Verlusten mit nur 26,2 Prozent der Stimmen, weit hinter der SPD, den rechtspopulistischen Hallodri Ronald Schill in die Hamburger Regierung holte – und anschließend fast neun Jahre lang Deutschlands zweitgrößte Stadt regierte, später lange mit den Grünen.

Doch heute sekundiert auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Unions-„Mehrheit“, zum Beispiel in Form von Info-Grafiken des rbb: „Außerhalb der Ringbahn repräsentiert die CDU die Mehrheit“, heißt es dort.


„Latürnich, eine Mehrheit!“, rief bekanntermaßen schon der betrunkene Obelix in der gallisch-römischen Hauptstadt Lutetia – und so ist es zum Beispiel auch im Wahlkreis Pankow 5, der hier schwarz dargestellt wird (nach dem jeweils höchsten Zweitstimmen-Anteil). Dort suchte nicht nur Bolle jüngst zu Pfingsten einst sein Vergnügen, sondern in Zukunft auch die fortgeschrittene Quantenmechanik, beim Versuch herauszufinden, inwiefern 20,5 Prozent Stimmenanteil bei gleichzeitig 54,9 Prozent für die Regierungskoalition eine „Mehrheit“ repräsentieren.

Doch so lustig ist das Ganze natürlich nicht, wie Dietrich Herrmann, Grüner Referent für Bürgerbeteiligung im Sächsischen Staatsministerium der Justiz, auf Twitter anmerkt:

Er zieht damit einen Vergleich zu FOX News und der permanenten Wiedergabe der republikanischen Lüge der gefälschten Wahlen in solchen Medien. Sicher, so weit sind Union und Medien hierzulande nicht, doch wenn man derartige Rhetoriken weiterspinnt, könnte man irgendwann durchaus dort ankommen.

Schattierungen

Jenseits absichtlicher Lügen und Verdrehungen sollte man insbesondere im Qualitätsjournalismus aber wirklich auf derartig simplifizierende Grafiken verzichten, die man dann auch noch ausgerechnet auf den vom Algorithmus der Emotionalisierung getriebenen Social-Media-Plattformen verbreitet. Denn schließlich gilt das Gesagte auch umgekehrt: In einigen der grün markierten Wahlkreise hat die CDU prozentual mehr Stimmen als in Pankow 5 (zum Beispiel Charlottenburg-Wilmersdorf 3 mit 24,1 Prozent).

Wo kein Mehrheitswahlrecht gilt, sind solche Share-Pics bestenfalls grobschlächtig, schlimmstenfalls irreführend.

Wie es besser geht, zeigt die interaktive Wahlergebnis-Karte des „Tagesspiegel“, die nicht nur Farben in unterschiedlichen Schattierungen anbietet (eine nahezu bahnbrechende Idee, die andere Medienhäuser gerne kopieren dürfen), sondern auch historische Vergleiche bis zur ersten Wahl nach der Wiedervereinigung der Stadt. Hier kann man so viel spielen, Entwicklungen nachvollziehen und lernen – zum Beispiel über das natürlich bemerkenswerte „Verschwinden“ der SPD von den Karten mit den stärksten Parteien in den Stimmtbezirken oder darüber, dass die CDU von der FDP und den „anderen“ deutlich mehr Stimmen abzog als aus dem Regierungslager.

Es gäbe viele Erkenntnisse aus dieser Wahl zu gewinnen – dass 28,2 Prozent neuerdings eine „Mehrheit“ sind, gehört nicht dazu.

7 Kommentare

  1. Viele hier genannte Kritikpunkte teile ich. Dass sich hier aber an dem Begriff der Mehrheit aufgehängt wird, finde ich problematisch. Der an sich ist nämlich nicht falsch. Die CDU hat durchaus die Mehrheit der Stimmen bekommen. Zwar nur eine relative oder einfache Mehrheit und keine absolute Mehrheit, aber eben doch eine Mehrheit.
    Zu kritisieren ist vielmehr, in welcher Art diese Mehrheit von manchen Politiker:innen und Medienschaffenden dargestellt bzw. bewertet wird, eben eher als absolute Mehrheit.

  2. @Pumbaa (#1):

    Sehe ich ähnlich, aber nicht genauso: Die Karte an sich ist nicht irreführend, sondern eine Darstellung, wie ständig sie verwendet wird. Irreführend ist allerdings der Satz: „Außerhalb der Ringbahn _repräsentiert_ die CDU _die Mehrheit_.“ Das tut sie nicht. Sie hat, wie Sie richtig schreiben, die relative Mehrheit an Zweitstimmen errungen, repräsentiert aber dennoch nur eine Minderheit des Wahlvolks.

    Außerdem: Diese Form der Karte wird meist für Erststimmen verwendet und bedeutet dann: „Wahlkreis x geht an Partei y“. Für Zweitstimmen-Ergebnisse wird meist mit Farbstufen gearbeitet, wo dann ein Wahlkreis mit z.B. relativer CDU-Mehrheit in Schattierungen von hellgrau (knappe Mehrheit) bis schwarz (große Mehrheit) dargestellt wird. Das ist keine „bahnbrechende Idee“ des Tagesspiegels, sondern bei vielen Medien Usus (etwa bei SPON); aber hier fällt diese Differenzierung weg.

    Zugunsten des RBB sei erwähnt: Auf der Seite zur Wahlauswertung heißt die Karte nicht „Mehrheit“, sondern „Zweitstimmen – Stärkste Kraft“. Und daran ist wenig auszusetzen. (Vielleicht kann Übermedien ja herausfinden, wer den Tweet-Text zu verwantworten hat. Ob Chefredaktion oder Praktikant – das würde hier schon einen Unterschied machen…)

  3. SO kompliziert ist das eigentlich gar nicht. Wer mehr hat, hat noch lange nicht die Mehrheit.
    Oder zum Mitschreiben: Wenn in einem Gemeinschaftsgarten 100 Äpfel vom Baum fallen (die anderen =Nichtwähler mal ganz außen vor) und davon 30 aus meinem Baum, 20 beim Nachbarn A und 20 beim Nachbarn B (usw), dann habe ich zwar mehr als A und mehr als B, aber nicht die Mehrheit, die hätten A und B, wenn sie ihre Ernte zusammenlegen.

  4. Ich habe das mehr im Zusammenhang wargenommen: Mittige Stadtteile sind mehr „pro Klimakleber“, äußere mehr „pro freie Fahrt für freie Bürger“; aber das macht das ja auch nicht weniger tendenziös.

  5. Wir nehmen einfach ein Wort wie „Mehrheit“ und definieren das nach Belieben um, damit es zum Narrativ passt.
    Die Zielgruppe muss nur die Message verstehen, hier: „SPD und Grüne lügen, um an der Macht zu bleiben“.
    Mit Scheiße werfen und hoffen, dass was kleben bleibt.
    Mit demokratischer Willensbildung hat das jedenfalls nichts zu tun.

    Wo das hinführt, sieht man z. B. an MTG in den USA, die offen für eine Spaltung des Landes eintritt, um sich von dem „woken Mob“ zu befreien.
    In 10 Jahren haben wir ein ähnliche Spaltung auch hier. Weil sich bias-confirmende Lügengeschichten eben gut in die spezifischen Zielgruppen verkaufen lassen. Und Feindbilder sind immer toll, um Leute zusammen zu bringen.

  6. Gedankenspiel:
    Irgendwann in der Zukunft hat sich die Parteienlandschaft weiter zersplittert und besteht aus 20 Parteien. 18 davon kann man zum sozial-liberal-konservativ-freiheitlich-ökologischen-Spektrum zählen, die in verschiedenen Bundesländern in verschiedensten Konstellationen miteinander regieren. Da jede dieser 18 Parteien zwischen 3-7% erreicht, besteht eine Koalition i.d.R. aus 7-10 Parteien.
    Die beiden übrigen Parteien erreichen stabil jeweils 10% der Stimmen, die eine ist rechts- und die andere linksextrem.
    Die Karten aller Bundesländer, die nach dem o.g. Modell coloriert werden, sind regelmäßig tiefbraun (oder blau…) oder tiefrot eingefärbt. Was sagt uns eine solche Darstellung? Das die beiden extremistischen Parteien die stärksten in D. sind, die relative Mehrheit erzielen – und doch und zu Recht die geringste Macht ausüben. Weil ihre Ideen regelmäßig von 80% der Bürger*innen sie NICHT gewählt werden. Ob die Darstellung wie wir sie im Beitrag sehen noch adäquat wäre?

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