Unbesprochen – die TV-Kritik
In dieser Reihe rezensieren wir Fernsehsendungen, die sonst kaum von Journalisten beachtet werden. Wenn Sie gerne eine Sendung besprochen sähen – schreiben Sie uns.
Mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung will schon einmal eine übersinnliche Erfahrung gemacht haben. Das sagt die Soziologin Ina Schmied-Knittel in einer Folge der SWR-Talkshow „Nachtcafé“. Auf die Frage von Moderator Michael Steinbrecher, wie die Wissenschaft mit solchen Erlebnissen umgeht, antwortet sie:
„Nun, zunächst hören wir mal zu und hören auch sehr genau hin, ohne diese Berichte auch in Zweifel zu ziehen, darum geht es überhaupt nicht. Sondern ganz im Gegenteil: Wir sind sehr interessiert an diesen Berichten.“
Damit bringt sie auch das Konzept des SWR-„Nachtcafé“ auf den Punkt.
In dieser Reihe rezensieren wir Fernsehsendungen, die sonst kaum von Journalisten beachtet werden. Wenn Sie gerne eine Sendung besprochen sähen – schreiben Sie uns.
Talkshows haben in Deutschland ja nicht den besten Ruf. Zu viel Krawall, kaum wirklicher Erkenntnisgewinn, lautet der Vorwurf. Und doch werden sie tagtäglich von den Medien- und Kulturredaktionen deutscher Tageszeitungen besprochen, Ausschnitte aus den Sendungen gehen in den sozialen Netzwerken viral. Im Falle des „Nachtcafés“ verhält es sich anders: Seit 35 Jahren schon läuft die Gesprächssendung im Südwestrundfunk – die meiste Zeit wohl unterhalb des überregionalen Aufmerksamkeitsradars.
Das „Nachtcafé“ reiht sich ein in die Riege der Freitagabend-Talkshows der dritten Programme. Doch während im „Kölner Treff“ (WDR), im „Riverboat“ (MDR), bei „3 nach 9“ (Radio Bremen) und in der „NDR Talkshow“ etwa Jan Josef Liefers, Peter Maffay oder Ina Müller reihum ihre neuesten Projekte bewerben, geht es im SWR-Pendant ungleich tiefgründiger zur Sache.
Hier sitzen meist nicht-prominente Menschen, die über außergewöhnliche Leidenschaften oder private Schicksale erzählen. Die einzelnen Folgen sind monothematisch, wobei es in den Titeln schon mal ordentlich rosamundepilchert: Sie handeln „Vom Glück des Wiedersehens“, dem „Geheimnis der Liebe“ oder dem „Sommer, der anders war“.
Es gibt auch Folgen zu außergewöhnlicher Tierliebe, zu Gerüchen, zu Pornosucht – Themen also, die sich durchaus auch Jetzt-Wieder-Talkerin „Britt“ annehmen könnte. Nur, dass es im „Nachtcafé“ ein bisschen ruhiger und gediegener zugeht, öffentlich-rechtlicher eben.
Die Sendung nähert sich den Themen ohne Berührungsängste – schreckt dabei aber auch nicht vor Kitsch zurück. Zu Beginn jeder Folge wird ein Best-of-Zusammenschnitt mit den dramatischsten Aussagen der folgenden 120 Minuten gezeigt, unterlegt mit seifenopernesker Klaviermusik. Nachdem Moderator Steinbrecher die Sendung eröffnet hat, beginnt die Musik wieder und die Gäste werden noch einmal einzeln vorgestellt. In der Folge zu den übersinnlichen Phänomenen (Titel: „Ich sehe was, was du nicht siehst“) etwa:
„Von klein auf hatte Leonie Arnold immer wieder übersinnliche Visionen. Doch als sie in ein altes Bauernhaus zog, ahnte sie nicht, dass es dort spuken könnte. Was sie und ihre Familie dort erlebt haben, davon berichtet Leonie Arnold.“
Fabian Dombrowski ist freier Autor und Journalist. Er hat Journalismus an der Universität Mainz studiert und beim „Weser-Kurier“ in Bremen volontiert. Texte von ihm erschienen außerdem in der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Frankfurter Rundschau“. Er schreibt über (Pop-)Kultur, Diversität und Gesellschaft. Gelegentlich steht er als Moderator und Schauspieler auf der Bühne.
Die anderen Gäste behaupten etwa, wiedergeboren zu sein oder die verstorbene Tochter hören zu können. Der Journalist Thomas Bruckner erzählt von seiner Begegnung mit dem angeblichen brasilianischen Wunderheiler João de Deus (der 2020 wegen sexuellen Missbrauchs zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde). Er hatte de Deus gemeinsam mit einem erkrankten Freund aufgesucht. Bruckner erzählt, wie er de Deus‘ Hand an seiner Stirn gespürt habe, dann plötzlich in sich zusammengesackt sei. Moderator und Gäste hören teils gebannt zu.
Steinbrecher macht zwischendrin Anmerkungen, die die Erzählung weiter voranbringen sollen oder auf Bruckners Gefühle abzielen. „Also im Geist waren Sie schon bei sich, aber Sie konnten nicht handeln.“ Und: „Das ist aber auch beängstigend.“ Nach dem Wunderheiler-Erlebnis habe Bruckner mit seinem erkrankten Freund auf einer Parkbank gesessen. „Doch plötzlich war wieder was in mir“, erzählt er. „Ich habe mich dann plötzlich vor diesem Freund von mir hinknien müssen und mich für die Freundschaft bedanken. Was völlig irrwitzig war, mindestens unangenehm.“ Steinbrecher merkt später an: „Für mich hört sich das so an, als sei es kein selbstbestimmtes Ich gewesen, sondern als seien Sie in dieser Zeit fremdbestimmt gewesen. Als hätte er die Kontrolle über Sie, oder?“ „Genauso ist es mir vorgekommen, ja“, bestätigt Bruckner.
Dem Format geht es nicht darum, das Erzählte anzuzweifeln. Die Interviews sind nicht konfrontativ oder wertend; Moderator Michael Steinbrecher interviewt neugierig und verständnisvoll. Die Gäste sollen sich öffnen, während die gestellten Fragen bestimmte Punkte in den Biografien der Gäste abarbeiten. Es sind Einzelschicksale, die den Zuschauer*innen als Vorbild dienen sollen, selbstbewusst den eigenen Weg zu gehen oder sich aus Lebenskrisen heraus zu kämpfen.
Manchmal wird die fehlende kritische Haltung gegenüber den Gästen allerdings problematisch. In der Folge „Eigenartig? Einzigartig!“ sitzt eine Frau mit blauen Haaren und einer violett glänzenden Meerjungfrauenflosse über den Beinen. Sie arbeite eigentlich als Tauchlehrerin, erzählt sie, aber wenn sie als Meerjungfrau schwimme, könne sie mit Tieren, vor allem mit Haien, eine ganz andere Verbindung aufbauen. Ebenfalls in der Runde sitzen eine Frau, die dem sogenannten Wicca-Kult anhängt und behauptet, eine Hexe zu sein, sowie Entertainer und Reality-Star Julian F.M. Stöckel.
Als Stöckel sich in der Vergangenheit selbst „durchleuchten“ wollte, so erzählt er es, habe er sich gegen eine Psychologin entschieden und sei stattdessen zu Hellsehern gegangen, die ihm aus seiner Lebenskrise herausgeholfen hätten.
Die Botschaft einer öffentlich-rechtlichen Talkshow darf aber nicht sein, dass Mystik oder Esoterik anerkannte psychotherapeutische Verfahren, deren Wirkung wissenschaftlich belegt ist, ersetzen sollen. Auch die in der Runde anwesende Psychologin sagt an der Stelle leider nichts. Im Verlauf der Sendung gibt sie den Anwesenden, insbesondere der selbsternannten Hexe, Rückendeckung, wenn sie sagt:
„Man muss überhaupt erstmal merken: Da ist bei mir etwas anders als bei anderen […]. Und das alleine ist etwas, was erstmal persönlich beeindruckend ist, finde ich, und was auch mit einer Stärke zu tun hat.“
Zwar ist der Redaktion positiv anzurechnen, eben stets auch eine Psychologin oder Wissenschaftlerin in die Runde zu setzen, die nötige kritische Draufsicht auf das Gesagte können sie aber eben oft nur eingeschränkt liefern.
Als der Rapper Bushido gemeinsam mit seiner Frau Anna-Maria Ferchichi zu Gast war, ging es in dem 20-minütigen Gespräch um häusliche Gewalt, die vorübergehende Trennung der beiden, weshalb das Paar doch wieder zusammengekommen ist und wie es sich als Familie unter permanentem Polizeischutz lebt. Bushido, der in der Vergangenheit seiner Frau gegenüber gewalttätig wurde und dessen Rap-Texte frauen- und homofeindliche Zeilen enthalten, kann sich hier reumütig winselnd darstellen – als jemand, der seine Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat und für seine Familie durchs Feuer gehen würde.
Anstatt zum Beispiel näher über die Entstehung häuslicher Gewalt zu sprechen, darf eine Paartherapeutin zwischendurch sagen, dass Umstände, wie sie der Rapper und seine Familie erleben, eine Beziehung manchmal zerreißen würden – und manchmal aber auch nicht. Der Grat zum pseudo-psychologischen Boulevard ist ein schmaler.
Aber kurz nochmal zurück zu Stöckel: Reality-Sternchen – oder solche, die es mal waren, oder solche, die es werden wollen – haben mittlerweile einen festen Platz in der Sendung. So darf etwa der in Formaten wie dem Dschungelcamp oder „Promis unter Palmen“ dauerkeifende Matthias Mangiapane (müssen Sie nicht kennen) im „Nachtcafé“ ganz gesittet über sein Privatleben sprechen. Den mutmaßlich trash-unerprobten SWR-Zuschauern wird er kurioserweise so vorgestellt:
„Bei Matthias Mangiapane muss alles seine Ordnung haben. Hygiene und Sauberkeit sind für ihn das A und O. Im Gegensatz zu seinem Partner. Denn seine perfektionistische Ader sorgt immer wieder für Streit in seiner Ehe.“
Und ja, man hatte sich als Zuschauer vorher nicht unbedingt gefragt, wie es denn eigentlich so zugeht in der Ehe von Mangiapane.
Die „Nachtcafé“-Stammzuschauer*innen wissen Aufmachung und Tonalität der Sendung aber sehr zu schätzen. Schaut man in die YouTube-Kommentare unter den Folgen, meint man fast, den friedlichsten Ort des Internets gefunden zu haben. „Diese Sendung ist jedes Mal Balsam für die Seele“, schreibt jemand. Ein anderer: „So eine schöne Sendung. Ich kann einfach nicht genug bekommen. Und die Gäste wieder einmal erste Sahne!“ Auch Moderator Michael Steinbrecher wird für seine einfühlsame Art mit Lob überschüttet.
Zugegeben: Lässt man sich auf die Sendung länger ein (und es muss ja wirklich nicht die Putzfimmel-Folge sein), kann es seltsam wohltuend sein, sich im dauerironischen Mediendschungel ohne Zynismus und doppelten Boden mit anderen Menschen und deren Lebenswegen auseinanderzusetzen. Fast scheint es, als würden die Uhren im „Nachtcafé“ langsamer laufen: Menschen dürfen ausreden, der Moderator hört ihnen höflich und interessiert zu, ins Lächerliche gezogen wird hier nichts. Und vielleicht ist es gar kein so gutes Zeichen, wenn einem all das für eine Talkshow so außergewöhnlich erscheint.
Warum so überheblich? Im Nachtcafé werden Promis ja in der Regel nicht als Promis, sondern als Menschen wie du und ich befragt.
Und auch bei Esoterikthemen versteht sich das Nachtcafé ja nicht als Ratgebersendung, sondern erzählt Einzelschicksale.
Anders allerdings als in der Kolumne spielen im Nachtcafé weder Promis noch Esoterikthemen eine entscheidende Rolle, sondern Lebensschicksale jeglicher Art.
Bemerkenswert ist eigentlich, dass das Nachtcafé voyeuristisch ist, ohne voyeuristisch zu sein.
Angenehm ist, dass sich die Zuschauer(innen) anhand der persönlichen Geschichten, die ein Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten, ihre eigene Meinung bilden können.
@Sibille Bauer
Ich habe den Artikel tatsächlich gar nicht als überheblich wahrgenommen. Der Autor bewundert die Gesprächsatmosphäre und kritisiert zugleich, dass irgendwelche Menschen weitgehend unwidersprochen Unfug (harmlos formuliert) von sich geben können und mehr oder weniger Prominente die Möglichkeit zur unhinterfragten Selbstdarstellung erhalten. Wenn das Lebensschicksal beispielsweise eng mit esoterischen Themen verbunden ist, spielt Esoterik natürlich eine Rolle in der Sendung, selbst wenn sie nicht Hauptgegenstand der entsprechenden Folge ist. Ich bin jedenfalls nicht der Meinung, dass es bei jedem Thema förderlich ist, verschiedene Meinungen zu haben. Wo harmlose Spinnerei aufhört und wo gefährlicher Wahn beginnt, kann man sicherlich im Einzelfall diskutieren.
Ich halte es für problematisch, sich ein, zwei Sendungen mit möglicherweise skurrilem Inhalt herauszusuchen, Das Nachtcafé kommt seit Jahren (fast) jede Woche und hat meist durchaus ernstzunehmende, oft auch tieferschürfende Themen – mit sorgsam ausgesuchten Protagonisten. Dass ab und zu ein Promi, oder auch ein Pseudo-Promi erscheint, ist wohl eine kleine Konzession an sich hierher verirrende Privatfernsehzuschauer. Jedenfalls ist das Nachtcafé das einzige derartige Format ohne die permanent auftauchenden Selbstdarsteller aus der Politik oder die vor allem bei Erscheinen eines eigenen Buches/Filmes auf allen Kanälen nervenden Künstler. Diese „normalen“ Talkshows meide ich wie die Pest (und wie die inflationären Krimis auf allen Kanälen).
Müsste es nicht im letzten Satz vom Sinn
her … „kein schlechtes Zeichen“… heißen?
@Ritter der Nacht:
Wie soll denn der Widerspruch sein? Dass Steinbrecher seine Gäste unhöflich anpöbelt? Diese Sendung wird jede Woche ausgestrahlt, und bietet Normalos einen Raum, sich zu äußern, ohne dass jedes Wort einem Faktencheck unterworfen wird. Bisher ist deswegen noch keiner gestorben, auch keine Tausend Tode.
@Phalanx
Naja, es ist immer noch Steinbrechers Entscheidung, wen er einlädt. Lädt er Leute ein, die hanebüchenen Unfug erzählen, ist das kritisierbar. Und ob die hier kritisierten Gäste unter „Normalos“ fallen, ist für mich zumindest diskutabel. Mit Ihrem Maßstab, ob schon jemand gestorben ist, könnten Sie fast jede Kritik relativieren, scheint mir insofern unbrauchbar zu sein.