Neue „Spiegel“-Werbung

Sagen, was nicht ist

Ich male mir den Entstehungsprozess der neuen „Spiegel“-Werbekampagne aus:

Sie muss Wumms haben – zack, starke Sätze und großformatige Bilder mit bekannten und stereotypen Motiven zu den Hitzdebatten unserer Zeit: Klima, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Jugend, Krieg in der Ukraine, Zuwanderung, Hunger.

Sie soll Betrachtende, so wie man sich das „Spiegel“-Publikum eben vorstellt, intellektuell fordern – also muss eine tiefgründige Botschaft zwischen den Zeilen her.

Sie soll herausstellen, was der „Spiegel“ als Qualitätsmedium besser macht als andere, und anknüpfen an die „Sagen, was ist“-Tradition – geboren war der Halbsatz: „Nie aufhören zu hinterfragen“.

Die Idee ist, weit verbreitete Irrtümer, Falschaussagen, Vorurteile oder mindestens gewagte Statements zu korrigieren. Doch dafür sind die immer gleichen vier Wörter „Nie aufhören zu hinterfragen“ als Reaktion viel zu vage. Sie stehen klein und verloren unter den wuchtigen Schlagzeilen und lassen viel zu viel Interpretationsspielraum zu – gerade, wenn es um die Themen „Zuwanderung“ und „Gleichberechtigung“ geht, wie die Kampagnenplaner*innen es nennen, oder um es an dieser Stelle ganz klar zu benennen: Rassismus und Sexismus.

Ausgrenzen der „Anderen“

Die „Spiegel“-Kampagne wurde konzipiert und umgesetzt durch die Agentur Serviceplan Hamburg. Sie umfasst Printanzeigen, Kurzvideos für Social Media und großflächige Plakatierungen „in allen deutschen Großstädten“.

Foto der Biontech-Gründer, die das Bundesverdienstkreuz erhalten. Darüber groß: ZUWANDERUNG MACHT UNSER LAND KAPUTT. Darunter klein: "Nie aufhören zu hinterfragen. Der Spiegel. Sagen, was ist."

So ist künftig auf Deutschlands Straßen unter anderem dieses Motiv zu sehen: Das deutsche Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin, das das Biotechnologie-Unternehmen BioNtech gegründet hat, erhält das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern. Innerhalb eines Jahres haben die beiden einen Corona-Impfstoff entwickelt. Eine stolze Leistung, die hier gewürdigt werden soll als etwas, das Deutschland vorangebracht hat.

Durch den prominent platzierten Satz „Zuwanderung macht unser Land kaputt“ rückt etwas anderes als diese Leistung in den Fokus: ein rassistisches Vorurteil. Betont wird das Anderssein des Paares in Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft. Beide sind Kinder türkischer Einwanderer. Türeci ist in Siegen geboren. Şahin kam mit vier Jahren nach Deutschland. Wer das weiß, der mag die Werbung einordnen zu wissen: als Plädoyer, Rassismus zu hinterfragen. Wer das nicht weiß, der sieht zwei Menschen, die optisch eben nicht vielbeschworenen, „deutschen“ Stereotypen entsprechen und einen Diskriminierung reproduzierenden Satz.

Damit spielt die Kampagne – gewollt oder nicht – mit einer Form des „Otherings“, einer diskriminierenden Praxis, die Menschen ausgrenzt, in dem sie ein Bild von „Anderen“ entgegen der „Norm“ entwirft. Und das im Bewusstsein, dass die beiden etablierten Wissenschaftler*innen gerade als öffentliche Personen Rassismus ausgesetzt sind.

Dem „Spiegel“ dürfte das nicht entgangen sein. Die Kampagne köchelt da ein gefundenes Fressen zusammen für jene, die den Interpretationsfreiraum lieber mit rechten Narrativen oder Schwurbeleien füllen möchten. Wer an dieser Stelle widersprechen möchte, der frage sich: Würde dieses Werbeplakat funktionieren, wenn man dem abgebildeten Ehepaar ihre Migrationsgeschichte zusammen mit dem Erfolg in Händen nicht ansehen würde? Ich glaube nicht.

Wer sagt das überhaupt?

Ein Werbeclip der Kampagne zeigt im schnellen Zusammenschnitt bedeutsame Frauen der Zeitgeschichte – darunter Außenministerin Annalena Baerbock und Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai. Anfangs sind US-Präsident Joe Biden und Kanadas Premier Justin Trudeau beim lockeren Handschlag zu sehen mit der Zeile: „Frauen können das nicht“. Uff.

Per se ist es richtig, dass Frauen in verschiedenen männerdominierten Berufen oft noch weniger zugetraut wird – ganz zu schweigen davon, dass ihnen Führungskompetenz öfter abgesprochen wird als Männern. Es grüßt das Patriachat. Was mich aber ratlos lässt – und hier muss ich wirklich hinterfragen: Wer sagt das eigentlich? Biden, Trudeau, oder wird schlicht davon ausgegangen, dass ich das als Zuschauerin denke? Oder doch jemand anderes? Und was genau soll ich hinterfragen: Dass Frauen eben doch kompetent sind?

An anderer Stelle wirkt das Spiel zwischen hitziger oder schlicht falscher Aussage und Bild weniger doppeldeutig, etwa bei einem Foto einer sichtlich erschöpften Arbeitskraft in Krankenhaus-Montur und dem Satz: „Wer viel arbeitet, verdient auch viel.“ Die Brücke zu unterbezahlten Pflegekräften lässt sich leichter schlagen. Die Werbebotschaft wirkt klarer. Ebenso ist es bei der Aussage „Ein Grad wärmer macht doch nichts“ in Kombination mit dem Bild eines brennenden Waldes.

Falschaussagen wirken, trotz Korrektur

Was man jedoch nicht unterschätzen darf, ist die Schlagkraft solcher faktisch falschen Aussagen wie der zur Klimakrise als Stilmittel einer Werbekampagne.

Falschaussagen wirken – auch dann, wenn man ihnen widerspricht. Sie setzen sich in unseren Köpfen fest. Fake News haben eine brachiale Kraft und sind, wenn sie einmal im Umlauf sind, kaum zu stoppen. Wie schwer sich eine Richtigstellung nach einer Falschinformation tut, sollte den meisten Medien mittlerweile bekannt sein – gerade im Social Web, wo die „Spiegel“-Kampagne auch ihre Kreise ziehen wird.

Eine Untersuchung zur Verbreitung von Fake News auf Twitter hat gezeigt: Fake News erhalten den Autor*innen zufolge stets viel mehr Aufmerksamkeit als die Korrektur im Anschluss. Proportional verhält es sich also in etwa so, wie es die „Spiegel“-Anzeige vormacht:

Viel Raum für die pauschale Falschbehauptung.

Kaum Raum für die Korrektur.

Die Wirkung ist ganz besonders groß, wenn die falsche Aussage per Dauerpräsenz immer wieder im öffentlichen Raum zu sehen ist, was Werbung nun mal so an sich hat.

Man muss es nur einfach aussprechen, um zu merken, wie schlecht die Idee ist: Der „Spiegel“ lässt in den Städten Plakate kleben, auf denen fett und groß Sätze stehen wie: „Ein Grad wärmer macht doch nichts“. Oder: „Zuwanderung macht unser Land kaputt“.

Es liegt nahe, wieso gerade diese Sätze für die Kampagne gewählt wurden: Sie provozieren. Sie generieren Aufmerksamkeit. Sie sollen den Zeitgeist einfangen – die Themenbereiche, zu denen der „Spiegel“ mit seinen Recherchen wirken will.

Zu glauben, ein Vierwortslogan und der gesunde Menschenverstand eines deutschlandweiten Publikums, das über unterschiedliches Kontextwissen verfügt, genügten allein, um der Reproduktion fragwürdiger Aussagen etwas entgegenzusetzen, ist erstaunlich naiv. Hat das niemand hinterfragt?

20 Kommentare

  1. Ich denke, ein wichtiger Aspekt ist aber, dass die hier abgebildeten falschen Fakten bereits als festes Vorurteil in den Köpfen der meisten Betrachter schlummern. D.h. sie werden erstens nicht erschaffen und zweitens empfinde ich die Bilder als genügend eindeutige Widerlegung, dass sie eben nicht bestärkt, sondern angegriffen werden. Da braucht es den Text unten nicht für.
    Dass das Plakat mit Türecin und Sahin den Beigeschmack hat, die beiden auch per Bild als „anders“ darzustellen, sehe ich indes auch so.

  2. viel zu nett, dieser artikel.

    ein fragezeichen anstatt eines punktes hinter jedem satz hätte ja schon ein wenig geholfen. aber: so wiederholt der spiegel nur die vorurtule der gesellschaft. meines erachtens nicht aus zufall oder dummheit, sondern aus berechnung. ich erinnere mich gut an des spiegels schlagzeile „das boot ist voll“.

    aber, das problem macht sich ja nicht nur am spiegel fest.

    seit langem sehe ich, wie journalisten ihre artikel beginnen mit vorurteilsbeladenen bis sachlich falschen behauptungen. nicht, weil sie diese teilen – sondern so ganz locker mal als aufhänger.

    also, da wird der erste absatz eines artikels geschrieben mit blödsinn – um dann (endlich?) zu erklären: das sei falsch.

    supi.
    als würde dies dann noch gelesen werden.

    worin besteht der gewinn einer falschen aussage? ah, um leser zu ziehen…

    das dumme daran ist halt: die falsche aussage wird wiederholt und setzt sich so noch mehr in den köpfen fest.

    sowas hält man heutzutage vermutlich für ein besonderes stilmittel als journalist? ohne die negative wirkung überhaupt zu bedenken?

  3. „Nie aufhören zu hinterfragen“ ist zwar eine journalistische Tugend, aber auch ein Satz voller Raunen, den alle Querdenkenden sofort unterschreiben. Manchmal gibt es klare Wahrheiten, manchmal kann man klar „sagen, was ist“. Stattdessen gibt man dem Raunen einen prominenten Raum in der eigenen Werbung. Auffällig ja, aber ich find’s gefährlich und schädlich.

  4. Einfach nur eine unglaublich schlecht gemachte Werbekampagne, erdacht von alten Köpfen, die in einer anderen Zeit ihr Handwerk gelernt haben, als Kretive sich einfach was ausgedacht haben, was auf dem Papier passt, sich keine Gedanken über Dialog mit der Zielgruppe machen mussten und schon gar nicht über das Werbeumfeld, denn das regelt ja die Mediaagentur mit ihren Spendings. Ich hoffe, das Team von Serviceplan hat eine Berufsunfähigkeitsversicherung, weil langsam müsste die mal greifen ;-)

  5. Der im obigen Artikel getroffene Vergleich zu Fake News passt m.E. leider gar nicht, weil Fake News nicht zugleich innerhalb ihrer Nachricht die Korrektur im Subtext erhalten. Sie reklamieren von sich, zumindest in der einen Nachrichten-Darstellung die Wahrheit darzustellen. Die Spiegel-Kampagne nutzt den Kontrast aus Bild- und Text-Sprache, was gerade keinen Fake-News Gehalt hat. Die notwendige Kontextualisierung geschieht nicht allein im Kopf der Betrachter*innen, sondern durch den Kontrast aus Bild und Text. Dass das „korrekte“ Verständnis dann aber im Verantwortungsbereich der Betrachter*innen liegt, ist im Übrigen doch eigentlich stets der Fall. Eine Nachricht zu betrachten, ohne den Empfängerhorizont einzubeziehen ist zu vereinfachend. Würden wir Nuancen nicht zulassen, werden Aussagegehalte platt und trivialisierend vereinfacht.

    Insgesamt denke ich nicht, dass die Kampagne dazu da ist, hartgesottene Reaktionäre vom Gegenteil der textlich dargestellten Vorurteile zu überzeugen. Stattdessen wird aber all jenen, die durch die dargestellten Vorurteile vorbelastet sind, diese aber kritisch zu reflektieren bereit sind, dies auch zu tun. Und das ist meines Erachtens eine nuancierte und feinsinnige Art, mit diesen Vorurteilen umzugehen.

  6. @4: Höre ich da so etwas wie Altersdiskriminierung heraus? So als ob nur „alte Köpfe“ schlechte Werbung machen könnten? Ich kenne eine Menge Werbung von jungen, hippen „Mediaprofis“, die mühelos das schlechte Niveau dieser Spiegel-Kampagne erreichen.
    Dessen ungeachtet stimmt die Analyse des Artikels, dass diese Kampagne schlecht gemacht ist. Das erkennen auch alte Säcke wie ich.

  7. Uiui,
    Werbung. Vorurteil wäre ein Euphemismus, würde man meine Einstellung zu diesem Gewerbe beschreiben.
    Ich war glaube ich gerade aus dem Karoviertel einige Hundert Meter Luftline weiter Richtung West-Südwest gezogen, da zog es Jung v. Matt ins Karoviertel, wenn ich das richtig erinnere. Und, so quasi als Hallo, Geschenk und Visitenkarte, wurde dann erstmal eine kostenlose Hundehaufenkampagne gefahren, mit kleinen Fähnchen in Kothäufchen drappiert. Sollte wohl gleichermaßen Guerilla Charme, wie Provokation transportieren. Oder wasweissich.
    Es war das Ende der 90iger, das Viertel war noch nicht aufgehübscht und armutsbereinigt, der dichtbesiedelste Fleck Hamburgs.
    Allenthalben fragte mensch sich, ob die neuen denn ernsthaft keine anderen Sorgen haben. Das Viertel hatte weit überproportional Kriegsflüchtlinge und Nachkriegsvertriebene aus dem Ex-Jugoslawien aufgenommen und die gegenseitige Sozialisation lief auf Hochtouren. Dazu brauchte es Frauen/Mädchenläden, Sozialarbeit und Kommunikation ( Und das Viertel hat es beispielhaft geschafft, alle zu integrieren! Nur die Marktstraße, die wurde mal eben ausverkauft. ). Nachts fuhren schwarze SEK Limousinen mit vermummten Spezialkräften Streife, weil es zu Überfällen auf Betrunkene gekommen war und immer wieder Gerüchte von Hundekämpfen kursierten. Die meisten Bewohner kämpften mit der Steg und der Saga, um auch nach der Sanierung wieder unterzukommen und der Bauwagenplatz Bambule rückte ins Visier der Begehrlichkeiten.
    Ja, und Fähnchen in Hundehaufen.

    Nee, ist klar, du Guerilla du.

  8. Ich finde nicht, dass ein Satz auf einem Plakat so wirkmächtig ist, vor allem bei Leuten, die dazu bereits eine Meinung haben, aber hier verstehe ich das Unbehagen.

    Einerseits, weil das außer „Genug für die Ukraine“ alles mehr Positionen der Opposition sind und eher nicht die der Regierung.
    Und andererseits, weil das „hinterfragen“ ja ergebnisoffen sein müsste, d.h., aus „wir machen genug für die Ukraine“ könnte auch „wir machen zu viel für die Ukraine“ werden, was dann natürlich doch wieder gut wäre, die Menschen mit entsprechenden Ansichten abzuholen, aber ich weiß ja nicht.

    Gaaanz seltsam.

  9. Offenbar kann man hier durchaus unterschiedlicher Ansicht sein, so bin ich ja mit #1 ganz bei #5 (Tom hat es nur viel besser präzise ausformuliert) viele andere aber ganz bei der Autorin.
    Ich fordere alle Kommentator*innen außer #5 auf, sich folgende Frage zu stellen: „Hat dieses Plakat in mir selbst ein Vorurteil erzeugt oder bestärkt?“
    Wenn die Antwort darauf „Ja.“ ist, okay, dann haben Sie offenbar einen Punkt gehabt. Wenn die Antwort aber „Nein.“ ist (und das will ich doch stark hoffen), dann liegt die Wurzel unserer Meinungsverschiedenheit ja offenbar darin, dass ich der Mehrheit unserer Gesellschaft zutraue, das so zu erkennen wie ich selbst, Ihr das dieser aber nicht zutraut.

  10. @Peter Sievert:
    Netter Trick, aber leider:
    Es gibt durchaus Möglichkeiten, etwas einfach anders zu verstehen, ohne eine intellektuelle Minderleistung zu unterstellen.
    Das erleben wir jeden Tag tausendfach.
    „Ich sehe nur was ich glaube“ ist eine nette Verballhornung eines klassischen Skeptikerspruches und da steckt viel Wahres drin.
    Außerdem haben Parolen tatsächlich mitunter als Frames ein Eigenleben und die Wiederholung verstärkt sie, so falsch sie auch sein mögen.
    Und drittens finde ich selbst die scheinbar positive Metaebene gar nicht so positiv, bei genauerem Hinsehen.
    Was bedeutet es denn, wenn man bei türkischstämmigen Menschen meint darauf hinweisen zu müssen, dass sie das Bundesverdienstkreuz bekamen, weil sie geniale Forscher sind, die vielleicht der Welt den Arsch gerettet haben?
    Mindestens weist es noch einmal darauf hin, dass sie keine „normalen“ Deutschen sind, sondern Menschen, die man als Mitbürger erst freudig aufnimmt, wenn sie was außergewöhnliches geleistet haben.
    Mich stört es, dass das Ehepaar permanent auf seine Wurzeln reduziert wird, so wie es mich stört, dass es für manche Feuilletonisten anscheinend unmöglich ist, eine Laudatio über eine Nobelpreisträgerin der Literatur zu schreiben, ohne zuvorderst ihr Aussehen und Auftreten hervorzuheben.

    Und wenn Sie alles, was ich da schreibe, ablehnen Herr Sievert, so zeigt es doch zumindest, dass man Dinge komplett anders wahrnehmen kann. Ich hoffe doch, dass Sie mir „zutrauen“, diese eigentlich so zu erkennen, wie Sie?!

  11. Beitrag wie die Diskussion darüber könnte man als amüsant ansehen, ginge es nicht um etwas sehr Ernsthaftes: um Debattenkultur und Meinungsfreiheit. Da versucht der Spiegel, mit einer hoch emotionalen Plakataktion überwiegend hoch emotionale Vorurteile (im Kern konservative, liberale oder rechtsradikale Sichtweisen) zu entlarven. Dumme Sprüche über Migranten, Klima oder Leistungsprinzip sollen mit einer aufwühlenden Bildersprache widerlegt werden. Daran krankt die ganze Debatte. Die zunehmende Emotionalisierung aller Themen. Irrationalität ist Trumpf.

  12. @Laszlo Trankovits:
    „Emotionalisiert“ soll hier dumm heissen, das sehe ich doch richtig?

    Un*fckn“fassbar.

  13. @10
    Ja, wie ich in #1 schrieb, bin ich speziell mit dem Plakat „Zuwanderung“ auch nicht so zufrieden. Da sind wir einig.

    „Es gibt durchaus Möglichkeiten, etwas einfach anders zu verstehen, ohne eine intellektuelle Minderleistung zu unterstellen.“

    Ich habe explizit nicht auf kognitive Fähigkeiten abgestellt und das auch ganz bewusst nicht. Denn hier geht zum Teil ja auch um moralische Grundsätze. Ein Rassist ist nicht primär dumm, auch wenn es oft zusammen fällt, vor allem ist er ein Arschloch.

    Ansonsten ist es mir etwas schwammig im Nachgang. Wie denken Sie denn jetzt konkret, warum die Plakate auf andere als Sie einen negativen Einfluss haben können und welchen genau? Und denken Sie wirklich, dass das auf die Mehrheit der Betrachtenden zutrifft? Es geht ja schließlich um einen Netto-Effekt.

    Ernst gemeinte Fragen und nicht polemisch rhetorisch, ich bin an der Antwort interessiert. Allerdings:
    Extreme Rassisten/Klimawandel-Leugner/etc werden so in Ihrer Meinung bestärkt, lasse ich nicht wirklich gelten. Denen reicht ja jede Erwähnung des Themas, um sich in ihrem Irrglauben bestärkt zu fühlen. Anders gesagt: Auf verbrannter Erde kann das Plakat auch nichts mehr kaputt machen.

  14. Um es mal positiver zu formulieren, greife ich das Zitat aus dem Text auf:

    “ und lassen viel zu viel Interpretationsspielraum zu – “

    Und hier bin ich nämlich dezidiert anderer Meinung. Ich finde es wichtig und richtig, dass es Interpretationsspielraum und Ambivalenz gibt. Ich traue der großen Mehrheit der Betrachtenden tatsächlich zu, vernünftige Interpretationen zu vollführen und so zu einer Erkenntnis zu gelangen.
    Mag sein, das ich von Berufs wegen zweckoptimistisch gefärbt bin und in den eigenen Schülerinnen und Schülern vor allem das Gute sehen möchte, aber ich bin überzeugter Kulturoptimist, was das angeht.
    Und dazu dann noch eine pädagogische Berufsweisheit:
    Erkenntnisse fruchten überhaupt nicht gut, wenn sie explizit und vorgekaut serviert werden. Das Risiko eines Mißverständnisses muss dabei auch mal eingegangen werden.

  15. @Peter Sievert
    „Wie denken Sie denn jetzt konkret, warum die Plakate auf andere als Sie einen negativen Einfluss haben können und welchen genau? “
    Da liegt schon ein Missverständnis vor: Die Plakate haben ja auch auf mich eine negative Wirkung. Ich schreibe hier nicht als Sozialarbeiter oder Seelsorger, der seine Schäfchen retten möchte.
    Ich teile Ihre Meinung, dass bei Rassisten/Klimawandelleugnern eh nichts zu holen wäre, würde die Gruppe sogar aus aktuellem Anlass noch um Faschisten erweitern ( und eigentlich müsste das auch noch gegendert werden ).
    Warum macht der Spiegel so eine Werbekampagne? Letztlich doch sicher mit mehr als nur einem Schielen auf die Verkaufszahlen. Das soll auch emotionalisieren und ganz sicher ist die Kontroverse eingeplant, damit es besser hängen bleibt, größere Kreise zieht.
    Werbekampagnen werden idR nebenher rezipiert und nicht verstanden. Das z.B. sind meine Probleme damit.

  16. Also mit „negativer Wirkung“ war jetzt insbesondere die Erzeugung/Festsetzung von Vorurteilen/False Facts gemeint.
    Da dachte ich, jemand der die Plakate ohnehin kritisch sieht, wäre da automatisch gegen immun.
    (Dass man sich darüber ärgern kann bzw. die Kampagne bei Ihnen nicht erfolgreich war in der Werbewirkung, ist davon natürlich unberührt.)

  17. „Hat dieses Plakat in mir selbst ein Vorurteil erzeugt oder bestärkt?“
    Keine Ahnung, ob das jetzt mein Vorurteil ist, aber ich habe den Eindruck, dass damit Leute angesprochen werden _sollen_, die die jeweiligen Meinungen genau nicht teilen und den Spiegel kaufen sollen, um dort Argumente für ihre Meinungen zu finden.

  18. Ich teile da wohl im Allgemeinen nicht den Optimismus gegenüber uns Menschen.
    Es ist Herbst 2022 und quasi aus jeder Ecke springt mich die „Flüchtlingswelle“ als Lieblingsmetapher der Medienlandschaft an. Der Begriff hat sich längst verselbstständigt und wenn der folgende Artikel noch so dezidiert aufklären sollte, dass wir besser vorbereitet sind, ja simpel, dass es immer noch um Menschen geht, die alles verloren haben, die Macht der Begriffe hat da längst jegliche Gegenwehr an die Wand gedrückt.
    Es ist eine Welle, sie wird uns überrollen … mindestens 5 % plus für die AfD sind schon mal sicher.
    Oder schauen wir in die USA und auf die Kampagnen gegen vermeintliche Angriffe auf die Freiheit durch die „wokisten“ oder „Cancel Culture“.
    Ja, in den USA findet ein massiver Abbau von Meinungsfreiheit und Bürgerrechten statt. Flankiert von diesen Kampagnen werden ( besonders in den Südstaaten ) massiv Bücher im Schulbetrieb verboten und 10-jährige Vergewaltigungsopfer dürfen nicht mehr abtreiben. Überall, wo man in den Staaten hinschaut, ist das Gejammer derjenigen rechts der Mitte am größten, läuft das „Framing“ ( nu habe ich das böse Wort gesagt ) mit den Begriffen wie geschmiert, während unter der Oberfläche das Wahlrecht demontiert wird und kritische Bücher verboten werden wie nie zuvor in der US Geschichte.
    Wie funktioniert das? Schon Hitler und Goebbels schrieben in ihren frühen Publikationen, dass die Menschen nicht durch Wahrheit bewegt würden, und dass derjenige Agitator, der auf die Wahrheit verzichtet, allen anderen überlegen ist.
    Darf man deshalb Falsches nicht erwähnen, wenn man auf der Seite des Guten stehen will?
    Doch natürlich, aber der Kontext ist extrem wichtig. Und der sollte eben nicht reisserisch sein, um Kunden zu generieren, sondern offensichtlich aufklärend.
    Es sind die mehrfach größeren Schlagzeilen, die letztlich haften bleiben. Einfach weil viele von uns mehr von den überlebensgroßen Werbeplakaten gar nicht lesen werden.
    Das ist natürlich nur eine Befürchtung, aber, so gerne ich mich irren würde, bin ich doch sehr pessimistisch.

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