Der Autor
Carsten Wolf ist freier Journalist in Rio de Janeiro. Als Autor arbeitet er unter anderem für „Deutschlandfunk“ und „Süddeutsche Zeitung“. Vorher war er Redakteur beim „Mediendienst Integration“.
„Ich bitte um Entschuldigung, wenn meine Worte Unbehagen ausgelöst haben.“
Sichtlich getroffen musste Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro vor Kurzem erklären, nicht pädophil zu sein. Er wolle sich entschuldigen, falls ein Interview von ihm missverstanden worden sei. Eine Seltenheit. Denn Bolsonaro entschuldigt sich sonst nie, für gar nichts.
Normalerweise greift Bolsonaro an. Mit Fake News über Messenger-Dienste und Social Media. Und nun stand er plötzlich am Pranger. Das seien die „schlimmsten 24 Stunden“ seines Lebens gewesen, so der Präsident. Hinter der Behauptung, Bolsonaro sei pädophil, steckt der Ex-Präsident Lula da Silva, Bolsonaros Herausforderer bei den Wahlen am 30. Oktober.
Deutsche Medien berichten viel über den „schmutzigen“ Wahlkampf zwischen Bolsonaro und Lula. Was dabei zu kurz kommt: Es ist eine Zeitenwende. Bisher war es Bolsonaros extreme Rechte, die mit „schmutzigen“ Fake-Infos arbeitete. Nun schlägt die Linke um Lula zurück.
Carsten Wolf ist freier Journalist in Rio de Janeiro. Als Autor arbeitet er unter anderem für „Deutschlandfunk“ und „Süddeutsche Zeitung“. Vorher war er Redakteur beim „Mediendienst Integration“.
Seit Anfang Oktober hat sie einen neuen Social-Media-Chef, den Abgeordneten André Janones. Plötzlich ist Lula gleichauf in den sozialen Medien. Seine Reichweite war an den meisten Tagen sogar größer als die Bolsonaros. „Die Linke hat gelernt, Social Media zu benutzen“, musste selbst Bolsonaros Kommunikationsminister Fábio Faria zugeben.
Und zwar so zu benutzen, wie man es sonst von Bolsonaros Team und Anhängerschaft kennt. Nun kursieren Gerüchte und Falschbehauptungen um den Präsidenten statt um seine Gegner. Um nur einige der viral gegangenen Behauptungen der letzten Wochen zu nennen: Bolsonaro sei bei den Illuminaten, er hasse Katholiken und würde Menschenfleisch essen. Dazu gibt es deftige Memes, Videos und Zitate im Minutentakt. Die Zuspitzungen und Verkürzungen sind teilweise so erfolgreich, dass Bolsonaro sie dementieren muss. Plötzlich ist er in der Defensive.
Zuerst mal ist der Ton der Linken aggressiver geworden. Bolsonaro-Fans nennt Janones „das Vieh“, den Präsidenten einen „Penner“ und „Milizen-Führer“. Außerdem hat er Humor. Den Verteidigungsminister nennt er einen „Alten, der Viagra kauft“. Den Kommunikationsminister einen „Gigolo mit billigem Parfüm“.
Janones streut Gerüchte, wo er nur kann. So auch das vom angeblich pädophilen Bolsonaro. Der hatte in einem Podcast-Interview über ein Treffen mit geflüchteten Mädchen aus Venezuela gesprochen und dabei gesagt:
„Die Chemie zwischen uns stimmte. Also fragte ich sie, ob ich zu ihr nach Hause kommen könne.“
Diesen Schnipsel von Bolsonaros Ausführungen griff Janones auf. Der aus dem Zusammenhang gerissene Ausschnitt löste viel Empörung aus. Am Ende musste sich Bolsonaro entschuldigen und betonen, nicht pädophil zu sein. Seine konservativen Stammwähler:innen waren entsetzt.
Ein weiteres Gerücht war das vermeintliche Sex-Video eines Bolsonaro-treuen Politikers. Der junge Nikolas Ferreira hatte schon häufiger wegen transphoben Äußerungen in der Kritik gestanden. Nun tauchte plötzlich ein homosexuelles Video von ihm auf. Er selbst bestreitet die Echtheit des Videos. Bei den bisweilen ultrakonservativen Bolsonaro-Wähler:innen bleibt das Gerücht dennoch hängen. So schafft es Janones zu provozieren. Und betreibt dabei so schnell Themen-Hopping, dass die Gegenseite kaum noch hinterherkommt.
Außerdem wechselt Janones häufig die Plattform. Zu Beginn des Wahlkampfes lag der Fokus stärker auf Twitter. Twitter aber diene dem eigenen „Status“, so Janones. „Die reale Welt ist da draußen auf Facebook und Whatsapp.“
Inzwischen koordiniert Janones die Kampagne der Linken über seinen Telegram-Kanal. Dort hat er mehr als 140.000 Follower und damit mehr als die meisten einflussreichen Bolsonaro-Kanäle. Janones dirigiert seine und Lulas Anhänger:innen wie eine Armee. Kritische Memes sollen seine Unterstützer:innen auf Whatsapp teilen, in ihren Statusbildern. Damit sollen sie auch Kontakte außerhalb des eigenen Freundeskreises erreichen. Bolsonaro-Kritik soll sich in privaten Gruppen verteilen, „wo es um Fußball geht, um Kirche, Familie und Fitness.“
In seinen täglichen Lage-Befehlen gibt Janones vor, welches Thema man orchestriert kommunizieren soll. „Denn es ist Krieg!“
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Bolsonaro ist nicht (bloß) das Opfer in jenem „Krieg“. Er hat seine eigenen Fake-News-Kampagnen in den letzten Wochen massiv verstärkt. Bis zum 10. Oktober hat das oberste brasilianische Wahlgericht in 32 Fällen Fake News aus dem Bolsonaro-Lager untersagen lassen, in den beiden Wochen seitdem sind 40 weitere hinzugekommen.
Das Gericht ging gegen mehrere rechte Youtube-Kanäle vor und ermittelt gegen Bolsonaro und seine Söhne, weil diese ihre politischen Ämter für Wahlkampf und Fake News genutzt haben sollen. Bolsonaro behauptete etwa, Lula sei Alkoholiker, er hätte Kontakte zu Drogenbossen, wolle Abtreibungen legalisieren oder Kirchen schließen. Das Lula-Lager selbst musste im Vergleich zu den insgesamt 72 Falschinformationen aus dem Bolsonaro-Lager nur zehn Falschinformationen löschen. Allerdings: Lula und die Linke hatten auch zehnmal so häufig Löschungen beim Wahlgericht beantragt.
Und trotzdem ist die Frage: Sind das jetzt linke Fake News? Janones sieht einen entscheidenden Unterschied: „Ich habe Skrupel. Ich verbreite keine Fake News“, sagt er in einem Interview auf Youtube. Tatsächlich erfindet Janones zumeist keine Aussagen. Seine Posts beziehen sich oft auf wirkliche Äußerungen Bolsonaros – die er dann aber aus dem Kontext reißt, zuspitzt, verkürzt.
Einmal twitterte er aber auch, Bolsonaro habe während Corona „geholfen, hunderttausende Menschen zu töten.“ Ein anderes Mal, dass er „Milizenführer“ sei. Beide Tweets ließ die Wahlkommission als Fake News löschen, auf Antrag von Bolsonaro. Die Verteidigung ging, kaum verwunderlich, nach hinten los: Denn eigentlich ist es immer Bolsonaro, der überall „Zensur“ sieht. Nun veranlasste plötzlich der Präsident eine „Zensur“ seiner Gegner:innen auf Twitter. Entsprechend trendete der sinngemäß übersetzte Hashtag #BolsonaroZensiertJanones schnell bei Twitter.
Auch für die Medien-Forscherin Raquel Recuero ist der „Janonismus“ etwas ganz Neues. Das linke Lager greife die Kommunikationsstrategien der extremen Rechten auf. Das treibe die Polarisierung in Brasilien weiter voran.
Bolsonaro habe in den letzten Jahren eine Parallel-Öffentlichkeit erschaffen. Seine Unterstützer:innen organisierten sich in ihrer eigenen Bubble und stünden abseits der klassischen Medien und politischen Parteien. Mit Faktenchecks erreiche man sie nicht. Auch ein Ergebnis von Bolsonaros Kampf gegen die Medien.
2020 hat Niklas Franzen bei Übermedien Bolsonaros Umgang mit den Medien analysiert. Den Text können Sie hier lesen.
Die Bolsonaro-Bubble sei kleiner, radikaler und straffer organisiert als 2018, so Recuero. „Wenn die etwas teilen, teilen es alle und zwar gleichzeitig.“ Damit entstehe für Außenstehende der Eindruck, Bolsonaro habe viele Unterstützer:innen.
Inzwischen erreiche aber auch die Lula-Kampagne Außenstehende mit ihren viralen Posts. Die Bolsonaro-Bubble könne man so zwar nicht „platzen lassen“, so Recuero. Aber man schaffe es vielleicht, einige Unentschlossene am Rand zu überzeugen.
Außerdem gebe es noch einen weiteren, indirekten Effekt: Die Polarisierung zwinge dazu, Partei zu ergreifen. Ein Beispiel: Der Gründer der rechten Partei „Partido Novo“, João Amoêdo, hat sich vor Kurzem für Lula ausgesprochen. Das mache sichtbar, wie viele Unterstützer:innen Lula in Wirklichkeit habe. Wenn Prominente sich im „wahren Leben“ für Lula aussprechen, könne das Wähler:innen beeinflussen.
Eine neue linke Informations-Guerilla sieht Recuero indes nicht. „Was die Anhänger:innen des Janonismus vereint, ist die klare Ablehnung des Bolsonarismus.“ Ansonsten seien die Akteure aber sehr vielfältig. Es sei fraglich, ob das Bündnis nach der Wahl weiter bestehe. Und Recuero warnt: Kurzfristig scheine die Strategie aufzugehen. Aber langfristig treibe sie die Polarisierung voran:
„Wenn wir unser Social-Media-Monitoring anschauen, sehen wir immer stärker zwei Blasen. Es scheint als gebe es keinen Platz mehr für die Mitte.“
Und das sei nicht unbedingt gut für die Demokratie.
Die brasilianischen Medien halten sich mit Kritik bislang zurück. Einige Journalist:innen bemängeln das weitere Absinken des Diskussionsniveaus. Janones bekämpfe „Hexerei mit Gegen-Hexerei“. Es gibt aber auch Anerkennung dafür, dass er so viele Menschen erreicht, die sonst nur noch Bolsonaros Fake-Infos konsumieren würden.
Faktencheck-Organisationen schauen sich die Posts von Janones genau an. Ein Faktencheck offenbarte Fehler in einem Tweet von Janones. Anders als bei Bolsonaro zeigte die Kritik hier aber Wirkung: Der Faktencheck wurde von der Lula-Kampagne aufgegriffen, man zog die Aussage zurück.
Ob die Erfolge auf Social Media auch mehr Wähler:innen-Stimmen bringen, ist noch nicht klar. Zwar liegt Lula in den letzten Umfragen vorne, aber der Abstand zu Bolsonaro schrumpft. Es bleibt also spannend, wenn am Sonntag ein neuer Präsident gewählt wird. Das sieht auch Janones so: „In jedem Fall ist es ein interessanter Feldversuch. Auch weltweit gesehen.“
Anmerkung: Anfragen von uns an Janones und das Kampagnen-Team Bolsonaros blieben unbeantwortet.
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