Russlands Propaganda

Ein Zug voller Atompanik

Anfang der Woche hielt ein neues Wort Einzug in mein Vokabular: „Atomzug“ – gerne auch in der Variante „Putins Atomzug“. Als müssten die ohnehin gestressten Deutschen das Wort längst kennen, fragte „Bild“ am Dienstag, ob Putin nun „seinen ATOMZUG Richtung Ukraine“ schicke.

„Bild“ über den „Atomzug“ Ausriss: Bild

Auch andere Medien eiferten mit: Der „Berliner Kurier“ spekulierte über nichts weniger als die „Endgültige Eskalation: Schickt Putin einen Atom-Zug an die Front?“, und beim „Express“ bereitet Putin mithilfe dieses Vehikels möglicherweise schon einen „nuklearen Angriff“ vor.

Nur: Was ist eigentlich ein „Atomzug“? Die Frage stellte offenbar nicht nur ich mir. Auch bei Google schnellten natürlich gleich die Suchen nach dem Begriff „Atomzug“ nach oben.

Google-Suchen nach dem Begriff „Atomzug“ in Deutschland Quelle: Google Trends

In den Redaktionen war man offenbar ganz konfus. Die Definition und die Einschätzung, was so ein „Atomzug“ ist und tut, variierten beträchtlich. Man raunte, spekulierte, vermutete – wie man das dieser Tage gerne macht.

„Videos, die im Internet kursieren“

Das ganze Spektakel ist nicht neu. Atomwaffen sind perfekter Content, weil kaum jemand wirklich Ahnung von Ihnen hat. Und wenn mal wieder eine haarsträubende Information aus der Sphäre russischer (und potenziell weltvernichtender) Militärtechnik geteilt wird, lesen sich die ersten Zeilen der Medienberichte meist sehr ähnlich: Von „Videos, die im Internet kursieren“ ist dann häufig die Rede – oft sind es verwackelte Video-Aufnahmen aus irgendeiner russischen Telegram-Gruppe. Im Falle des mysteriösen „Atomzugs“ zeigte ein solches Handy-Video einen Zug, der angeblich schweres russisches Militär-Equipment Richtung Ukraine bringe.

Diese Videos sind nichts Ungewöhnliches. Schon lange vor Kriegsbeginn begannen Menschen in Russland die vielen Züge mit Kriegsmaterial zu filmen, die gen Westen fuhren. Nur dass dieses Mal auf diesem speziellen Zug anscheinend keine normale Einheit mit Schützenpanzern zu sehen war, sondern mutmaßlich Fahrzeuge für einen besonderen Job: zum Handling von Nuklearwaffen. Soweit zumindest Spekulationen in sozialen Medien.

Anlass zu dieser Vermutung gab ein ferngesteuerter „Turm“ auf einigen Fahrzeugen, der neu ist und noch nicht oft gesehen wurde. BM-30-D heißt dieses Modul, eine Art gepanzerte Schießscharte mit Maschinenkanone, die auf gepanzerten Fahrzeugen namens „Shot“ eingesetzt werden soll.

Solche „Shot“-Fahrzeuge werden wiederum meistens zu Anti-Terror-Operationen eingesetzt. Sie sind schnell und werden unter anderem (!) in Russland zur Begleitung von Atomwaffen genutzt – speziell von einer Einheit, die das Akronym „12. GUMO“ trägt. Diese Einheit begleitet mit Schützenpanzern mobile Atomraketen, um sie vor möglichen Angriffen zu schützen.

Und nun beginnt das journalistische Problem.

Denn weder war klar, zu welcher Einheit diese Fahrzeuge auf dem gefilmten Zug tatsächlich gehören, noch wo die Aufnahmen gemacht wurden oder wohin der Zug fuhr. Auch handelte es sich bei den „Shot“-Fahrzeugen nicht ausschließlich um spezialisierte Gefährte zum Begleiten von Atomwaffen. Es sind Kampffahrzeuge, die Russland gerade generell in der Ukraine gebrauchen kann, um seine Verluste auszugleichen. In Zeiten, in denen schon russische Matrosen und Soldaten der strategischen Raketenstreitkräfte mit Minimaltraining als Infanteristen verkleidet werden, um in der Ukraine in den Krieg zu ziehen, braucht es wenig Fantasie, dass Russland hier den Fuhrpark seiner in den Weiten Sibiriens stationierten Raketenstreitkräfte kannibalisiert.

Der Atomwaffenexperte Jeffrey Lewis weist zudem darauf hin, dass der Zug nicht den Zügen ähnele, in denen in Russland Atomwaffen transportiert werden. Die sind nämlich sehr spezialisiert und sehen ganz anders aus.

Kurz: Die Beweislage wackelig zu nennen, ist eine dezente Untertreibung. Doch das hinderte viele deutsche und internationale Redaktionen nicht daran, aus einer wahrscheinlich weitgehend normalen Verlegung schwerer Waffen in unnormalen Zeiten einen „Atomzug“ zu machen – mit dem ganzen Horrorpotenzial, das da angeblich mitfährt.

Und so fand diese Meldung in westliche Medien: Aus einer russischen Telegram-Gruppe wurde das Video des Zugs auf Twitter weiterverbreitet. Der User @NovichokRossiya reicherte das Video um die Information an, dass es sich um das neue Modul „Spoke“ auf dem Fahrzeug „Spot“ handeln könnte. Diesen Tweet nahm am Sonntag der Sicherheits-Analyst Konrad Muzyka auf und erläuterte, dass es sich um Fahrzeuge handeln könnte, die vielleicht zur oben genannten „12. GUMO“ gehören. Vielleicht aber auch nicht.

Waren nun also auf Atomwaffen spezialisierte russische Truppen auf dem Weg in die Ukraine? Muzyka ist ein geschätzter Experte, der Mann kennt sich aus. Mit seiner Consulting-Firma Rochan analysiert er von Danzig aus unter anderem den russischen Feldzug. Unter seinen initialen Tweet schrieb Muzyka zwei weitere mit einer wesentlichen Einschränkung: Die Existenz dieser Fahrzeuge könne alles Mögliche bedeuten. Sie bedeute aber explizit nicht, dass sich Russland zwingend auf einen atomaren Einsatz vorbereite. Es gebe viele andere Erklärungsansätze.

Muzykas Twitter-Thread fand Aufmerksamkeit und schaffte den Sprung in große Medien – auch auf dem britischen Boulevard. Seine Tweets wurden aber unterschiedlich priorisiert weiterverarbeitet. Der erste Tweet fand Einzug in Headlines und Argumentation. Der zweite und der dritte Tweet wurden als einschränkendes Argument bestenfalls nebenbei erwähnt, oft auch gar nicht.

„The Times“ etwa titelte am Montag: „Putin ‚orders nuclear military train to Ukraine’” – und erwähnte Muzykas kurze Twitter-Analyse wie folgt:

Konrad Muzyka, a Poland-based defence analyst, said the train, spotted in central Russia, was linked to the 12th main directorate of the Russian ministry of defence and that it was „responsible for nuclear munitions, their storage, maintenance, transport, and issuance to units“.

Die „Daily Mail“ sekundierte zeitgleich:

Military analyst Konrad Musyka claimed the deployment of such units could signal a coming escalation in the conflict from the warmongering Russian president or constitute a precursor to large scale nuclear drills.

So wurde aus mehreren Tweets, die klar als Gedankenspiel mit vielen Variablen formuliert waren, beinahe Gewissheit. Stille Post mit viel Intransparenz, bis der „Atomzug“ waffenfähig war. Mit Erscheinen in der britischen Presse wurde der „Atomzug“ zum fast sicheren Doomsday-Konvoi. Mittlerweile finden sich auf Google rund 70.000 Artikel zu dem Begriff.

Atomwaffen als Clickbait-Material

Wir leben zweifellos in gefährlichen Zeiten. Seit Jahren wird die sogenannte Doomsday-Clock – eine symbolische Uhr, die veranschaulichen soll, wie groß die Wahrscheinlichkeit etwa eines Atomkriegs ist – kontinuierlich weiter gestellt. 2020 und 2021 stand sie auf „100 Seconds to Midnight“, und ich habe wenige Illusionen, wo die „Doomsday-Clock“ 2022 stehen wird. Aber genau deshalb braucht speziell der Journalismus einen verantwortlichen Umgang mit der neuen alten Herausforderung Atomkrieg.

In einer Welt, in der wir weder die Ukraine fallen lassen, noch dem Atomerpresser Putin seinen Willen lassen können, braucht es ein geschärftes Bewusstsein im Umgang mit Atomwaffen. Und das in Redaktionen, in denen das Gros der Journalist:innen zu jung ist, um das Thema wirklich auf dem Schirm zu haben. Das Wissen um Pershing II und SS-20 endete mit der Generation X. Für die Mehrheit von Millenial-Journalist:innen ist die hässliche alte Bombe Neuland. Und das merkt man.

Umso wichtiger ist, dass Journalist:innen sich in diesem Kontext ihrer Verantwortung bewusst werden. „Die Bombe“ ist in allererster Hinsicht eine psychologische Waffe, die schon dann wirken kann, wenn sie nicht eingesetzt wird. Entweder, weil sie uns als Kreml-Drohkulisse von der Unterstützung der Ukraine abhalten soll. Oder: Weil Panikmache durch „Selbstabschreckung“ zum selben Ergebnis führt. Je mehr Dauerpanik wir erleben, desto schlechter für uns und für nüchterne Entscheidungen in gefährlichen Zeiten.

In diesem Punkt wurde seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 von vielen deutschen Medien viel falsch gemacht. Analog zum Umgang mit der AfD vor einigen Jahren springen etliche Journalist:innen seit sieben Monaten über fast jedes Atom-Stöckchen, das sich ihnen anbietet. Steigende Klickzahlen und mangelnde Kenntnis der Materie geben dem Vorschub, und das im Zweifelsfall mit Folgen für Glaubwürdigkeit, Entscheidungsfähigkeit und – nicht zuletzt – die mentale Gesundheit aller.

Google-Suchen nach „Atomkrieg“ in Deutschland seit dem 1.1.2022 Quelle: Google

Jede noch so absurde atomare Drohung aus dem russischen Führungszirkel wird ebenso wiedergekäut wie jene aus den russischen Doomsday-Talkshows rund um die Propagandist:innen Solowjow, Simonyan und Kiselyov. Als gäbe es keine beidseitige Abschreckung, drohte beispielsweise Anchorman Dmitry Kiselyov am 2. Mai 2022 – viel zitiert – mit der Vernichtung Großbritanniens durch einen „Atom Tsunami“ – und wurde nur wenige Stunden später gut gelaunt in einem Ferien-Resort in Dubai fotografiert. Aber auch, wenn Russlands Propagandisten nicht in Talkshows den Takt vorgeben, wirkt russische Militärpropaganda langfristig und effizient. Zumindest, wenn Google der Hauptratgeber vorm Artikelschreiben ist.

So wurde zum Beispiel die in Entwicklung befindliche russische Interkontintentalrakete RS-28 „Sarmat“ als Putins „Satans-Rakete“ (NATO-Code, „Sarmat“ ist eigentlich der Originalname und beschreibt ein Hirtenvolk in Russland) bezeichnet oder der in kaum nennenswerten Stückzahlen verfügbaren BMPT-Schützenpanzer als „Putins berüchtigter Terminator-Panzer“ geadelt. Die von Fachleuten eher belächelte russische Hyperschallrakete „Kinzhal“ mutierte zur „Wunderwaffe“, und die bisher in jedem Test gescheiterte Marschflugkörper-Neuentwicklung Burewestnik zur „Superwaffe“. Es scheint nicht viel zu brauchen, um westliche Medien mit russischen Angst-Narrativen zu füttern.

Alle diese Superlative sind ein Problem. Nicht nur, weil sie ein falsches Bild von den Fähigkeiten Russlands zeichnen und uns damit von nüchternen Entscheidungen abkoppeln, sondern auch, weil dauernder Doomsday-Content sich abnutzt und im öffentlichen Raum konkrete, echte Gefahr nivelliert. Die James-Bond-mäßige Cartoon-Bedrohung durch den so genannten „Atomzug“ ist in zwei Tagen wahrscheinlich weitgehend vergessen.

Die tatsächlich ernsthafte Komponente hinter der seit langem vergessenen Bedrohung durch einen Atomkrieg wird dafür zu wenig diskutiert: Was bedeutet Abschreckung heute? Wann muss man wie abschrecken? Wie funktionieren Befehlsketten? Was bedeutet Proliferation für uns?

Alles ernste Fragen, die zu wichtig sind, sie russischen Propagandisten und halbinformierten Telegram-Accounts zu überlassen. Es braucht eine neue Seriosität auf dieses lange vergessene Problem. Es braucht neue Kompetenzen und – ehrlich gesagt – auch neue Professionalität, um die Bedrohung durch Atomwaffen so zu präsentieren, dass es der ernsten Materie, dem Zustand der Welt und unserer mentalen Gesundheit gut täte. Die atomare Sau ist zu gefährlich, um sie jeden Tag aufs Neue durchs Dorf zu treiben.

2 Kommentare

  1. Einerseits gut, das ganze kollektive Atomgeraune von einem wie Hensel so eingeordnet zu bekommen. Ist ja quasi auch sein Thema. Andererseit glaube ich nicht, dass er wirklich verstanden hat, was die Rolle von Presse sein sollte und wo die Gefahren durch aufmerksamkeitsökonomische Prozesse und gegenseitigem Aktualitätsdruck lauern. Er pranger in diesem Übermedien-Beitrag dieses clickbaitgeile gegenseitige Abschreiben und Hochschaukeln der Presse an – zu Recht.

    Wenn man aber seine Tweets von heute Nacht durchliest, schmiert er genau dieses fehlende Verhalten der Deutschen Presse aufs Brot:
    https://twitter.com/ghensel/status/1578612597167120384
    Scheinbar geht es ihm hier nicht schnell genug mit der Berichterstattung.
    In einem anderen Tweet behauptet er, dass selbst Memes schneller seien als die Deutsche Presse:
    https://twitter.com/ghensel/status/1578618714106507264
    Was wir seit diesem Krieg alle gelernt haben dürften ist, dass Memes Teil der Propaganda sind – auf beiden Seiten. Das in einen Topf mit (per Definition Unabhängiger) Presse zu schmeißen halte ich für eher suboptimal.

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