Barrieren im Journalismus

Redaktionen in der Pflicht: Inklusion ist nicht nur ein „nice to have“

Seit seiner Kindheit träumte Nikolai Prodöhl davon, Radiomoderator und Sportreporter zu werden. Er absolvierte Praktika in Hörfunk und Fernsehen, heute moderiert er sogar eine eigene Sendung bei „TIDE Radio“ in Hamburg. Doch vom Journalismus leben kann er nicht, sein Engagement beim Bürger:innensender ist ehrenamtlich. 

Immer wieder habe sich Prodöhl bei Medienhäusern beworben. Immer wieder nur Absagen. Er hat eine Lern- und Sprachbeeinträchtigung. Eine barrierefreie Stelle habe ihm offenbar keiner bieten können. „Ich habe den Eindruck, dass mir die Redaktionen wenig zutrauen, weil ich eine Behinderung habe“, sagt der 33-Jährige.

Nikolai Prodöhl, Autor für "andererseits"
Nikolai Prodöhl Foto: Stefan Fürthbauer

Diversität und Repräsentation werden im Journalismus zwar lauter diskutiert als noch vor ein paar Jahren, das Thema Inklusion scheint dabei aber außen vor. Laut der Mikrozensus-Auswertung von 2021 leben in deutschen Privathaushalten insgesamt 10,4 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung – im Durchschnitt also jede:r Achte. Wieso spiegelt sich diese gesellschaftliche Realität nicht in den Redaktionsräumen, am Mikrofon oder vor der Kamera?

„In den Redaktionen wird immer schnell gearbeitet. Zack, zack! Das muss schnell fertig sein“, meint Prodöhl. Die Strukturen in der Branche sind auf Effizienz getrimmt: Die Weltlage wartet nicht – ebenso wenig wie die Konkurrenz. Zugleich bleibt der Journalismus ein hochakademischer Berufsstand. Bei Volontariaten oder Redakteursstellen ist ein Studienabschluss in den meisten Medienhäusern wichtigste Voraussetzung. Für Menschen, die diese Erwartungen nicht erfüllen oder nicht zu erfüllen scheinen, bleibt wenig Raum.

Ein Wiener Online-Magazin will es anders machen

So stieß Nikolai Prodöhl vor rund eineinhalb Jahren zu „andererseits“. Das Wiener Online-Magazin wurde 2020 von einem Team junger Journalist:innen gegründet. Mittlerweile zählt die Redaktion rund 25 Mitglieder. Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne journalistische Vorerfahrung arbeiten gemeinsam an Artikeln, Videos oder Podcast-Folgen. „Bei uns geht es nicht nur um die Behinderung, sondern auch um allgemeine Themen wie Liebe, Sex oder Umwelt“, erklärt er.

Die redaktionelle Betreuung ist an den individuellen Bedarf angepasst: Autor:innen, die nicht selbständig schreiben können, diktieren ihre Artikel; andere werden in der Recherche oder im Schreibprozess unterstützt. Während der ersten beiden Jahre arbeitete das Team ehrenamtlich. Nach einer Crowdfunding-Kampagne, die rund 40.000 Euro einbrachte, will „andererseits“ nun Strukturen aufbauen. Im Herbst bezieht die Redaktion ein kleines Büro in Wien. Auch interne Workshops sind geplant, um Quereinsteiger:innen mit dem journalistischen Handwerk vertraut zu machen.

„Für mich ist ‚andererseits’ eine Hoffnung, dass ich endlich in den Medien Fuß fassen kann“, sagt Prodöhl, der derzeit als  Gärtner in einer Hamburger Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitet. Dort verdient er 175 Euro im Monat – ein Stundenlohn von rund 1,50 Euro. Jeder weitere Zuverdienst wird seiner Grundsicherung angerechnet und gegebenenfalls davon abgezogen. Diese Hürden machen es schwer, das Werkstattsystem zu verlassen und in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu wechseln: Während viele Journalist:innen etwa durch Praktika oder Aufträge als Freie ihren Weg in die Branche finden, bleibt dieser fließende Übergang für Menschen mit Behinderung oft versperrt.

Hier will „andererseits“ ansetzen. Das Projekt soll nicht nur einen niederschwelligen Zugang in die Medienwelt, sondern langfristig auch sichere Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung  schaffen – eine Herausforderung, angesichts der anhaltenden Prekarisierung in Medienberufen.

Ab Herbst sollen also drei Journalist:innen mit Behinderung in Teilzeit angestellt werden; zudem werden alle Autor:innen des Magazins nach einem vereinbarten Tarif für ihre Texte entlohnt. Abonnements, öffentliche Mittel und Stiftungen sollen das Projekt finanzieren. Aber auch auf Sponsoring durch Unternehmen will das Projekt setzen.

„Andererseits“ will auch ein Medienangebot für junge Menschen mit Behinderung sein. Aber ebenso Perspektiven stärken, die im öffentlichen Diskurs oft fehlen. „Menschen mit Behinderung haben eine andere Sichtweise auf bestimmte Sachen, weil wir andere Erfahrungen gesammelt haben“, sagt Nikolai Prodöhl. In seinem Artikel zum Themenschwerpunkt Liebe und Sex beschreibt er etwa die Herausforderungen, die er bei der Partnersuche erlebt, und erzählt von seiner Begegnung mit einer Sexualbegleiterin. Auch als Sportreporter bei den Special Olympics in Berlin brachte er eigene Erfahrungen zu Inklusion und Barrierefreiheit ein.

„Neue Norm“: klarer politischer Antrieb

Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt das inklusive Online-Magazin „Neue Norm“, gegründet ebenfalls 2020 in Berlin. Die Journalisten Jonas Karpa und Judyta Smykowski leiten die Redaktion und betreuen ein Netzwerk von freien Autor:innen. Gemeinsam mit dem Aktivisten Raúl Krauthausen moderieren sie zudem den gleichnamigen Podcast, der in Kooperation mit „Bayern 2 “ produziert wird.  Anders als bei „andererseits“ ist der Antrieb ausdrücklich politisch: Es gehe darum, Themen zu setzen und eine Veränderung zu bewirken, so Karpa.

Jonas Karpa, Medienwissenschaftler und Redakteur von "Neue Norm"
Jonas Karpa Foto: privat

Ein Artikel behandelt zum Beispiel sexualisierte Gewalt, die Frauen mit Behinderung im Durchschnitt viel häufiger erleben; darin zeigt die Autorin auch mögliche Maßnahmen auf, um diese zu verhindern. In den Kolumnen erzählen die Autor:innen häufig aus ihrer persönlichen Perspektive, etwa von Mobilität im Alltag oder fehlender Barrierefreiheit im Studium. Nichtsdestotrotz betont der Co-Gründer den redaktionellen Anspruch: „Klar, wir kommen aus der aktivistischen Szene – aber unser Handwerk ist journalistisch.“

Hervorgegangen ist das Magazin aus dem Projekt „Leidmedien“, das 2012 vom Verein „Sozialheld*innen“ gegründet wurde. Die Initiative bietet Beratung und Workshops an, um Medienschaffende für Klischees und diskriminierende Sprache in der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren. 

In diesem Austausch erlebt Karpa immer wieder, wie wenig Inklusion in den meisten Redaktionsräumen mitgedacht wird. Diese würde bei der Infrastruktur beginnen: Tatsächlich fehlen oft Rollstuhlrampen und barrierefreie Toiletten, genauso Screenreader, die den Text auf dem Bildschirm für sehbehinderte Menschen vorlesen.

Dafür sieht der Journalist strukturelle Gründe. In Deutschland werden für Menschen mit Behinderung oft Sonderräume wie Förderschulen oder Werkstätten geschaffen. Dadurch hätten viele Medienschaffende im Alltag schlicht keine Berührungspunkte mit Themen wie Inklusion oder Barrierefreiheit. Dies zeichne sich auch in der Arbeitswelt ab: „Behinderung bedeutet in den Köpfen der Menschen immer ein Mehraufwand.“

Karpa kritisiert, dass Medienhäuser hier ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, die Pluralität der Gesellschaft abzubilden. Die Redaktion von „Neue Norm“ will deshalb Inklusion und Teilhabe selbst vorleben – und vergibt zusammen mit dem Partnerprojekt „Leidmedien“ jährlich mehrere Recherchestipendien an Journalist:innen mit Behinderung. „Dadurch wollen wir Zugänge schaffen, Sichtbarkeit schaffen und andere Menschen mit Behinderung empowern, in diesen Beruf einzusteigen“, sagt Karpa, der selbst Medienwissenschaft studiert hat.

„Neue Norm“ bewegt sich hier in einem Spannungsfeld. Einerseits, so der Co-Chefredakteur, sei das Ziel ein mediales wie gesellschaftliches disability mainstreaming: Behinderung soll als eine von vielen Eigenschaften mitgedacht und abgebildet werden, ohne dass sie die Person definiert. „Natürlich möchte ich in erster Linie als Journalist gesehen werden – nicht als Jonas Karpa, der eine Behinderung hat.“

Andererseits müssten bestehende Probleme und Missstände klar benannt werden. In diesem Engagement für Teilhabe rückt die Behinderung wiederum in den Vordergrund – mit dem Risiko, als Einzelne:r auf ebendiese Thematik reduziert zu werden. Das erlebt auch Karpa: Er werde vor allem angefragt, um wegen seiner Blindheit als Experte in eigener Sache über Themen wie Inklusion, die Paralympics oder die Rechte von Menschen mit Behinderung zu sprechen. „Ich habe ja noch viele andere Interessen. Könnte ich nicht auch einfach journalistisch tätig sein, ohne mich dem Thema Behinderung zu widmen?“, fragt der Redakteur.

Ausgelagerte Inklusion ist Exklusion

Auch Amy Zayed kennt diese Fremdzuschreibungen. Die Kulturjournalistin erinnert sich an ein Praktikum bei einem lokalen Radiosender nach dem Abitur: „In den ersten Tagen durfte ich dort Gläser spülen.“ Die Chefredaktion hatte Bedenken, eine blinde Reporterin mit dem teuren Aufnahmegerät loszuschicken, obwohl Zayed schon jahrelange Vorerfahrung im Hörfunk hatte.

Amy Zayed, Musik- und Kulturjournalistin
Amy Zayed Foto: privat

Auch später als Volontärin beim WDR habe sie wenig Bereitschaft in der Redaktion erlebt, sich mit Inklusion und Barrierefreiheit auseinanderzusetzen. Das technische Equipment sei veraltet gewesen, Kolleg:innen seien ihr immer wieder mit Vorurteilen begegnet. So entschloss sich Zayed nach dem Volontariat, als freie Journalistin außerhalb dieser Strukturen zu arbeiten.

Heute produziert die 47-Jährige unter anderem Beiträge für die ARD und die britische BBC. Ihr Schwerpunkt liegt auf Popmusik und Kunst. Sie berichtet auch immer wieder über das Thema Inklusion, möchte sich aber nicht darauf festlegen. Zayed schätzt das Engagement von Projekten wie „andererseits“ und „Neue Norm“ – zugleich befürchtet sie, dass sich Medienhäuser dadurch vom Auftrag entbunden sehen, selbst für Teilhabe in der Redaktion zu sorgen. So würde das Thema Inklusion ausgelagert, Menschen mit Behinderung blieben auf bestimmte Räume und Themen festgelegt. „Das ist Gewalt“, kritisiert die Journalistin.

Doch es geht auch anders. Beim britischen Soldatensender BFBS in Köln, wo Zayed vor mehr als 30 Jahren als Schülerin ihre Leidenschaft für den Journalismus entdeckte und eine eigene Sendung moderierte, sei ihre Blindheit nie Thema gewesen; stattdessen habe man pragmatisch nach Lösungen gesucht. Ähnlich war ihre Erfahrung, als sie später für drei Monate in der Redaktion der BBC in London mitarbeitete. „Die haben mich dort vor allem als Journalistin gesehen – und nicht als behindert.“

Zayed sieht hierfür gesellschaftliche Gründe. Während Behinderung in Deutschland bis heute oft stigmatisiert werde, sei Inklusion in Großbritannien vielerorts gelebte Realität. Anders als in der Bundesrepublik gibt es dort seit 1995 einen rechtlich bindenden Rahmen, der Barrierefreiheit am Arbeitsplatz zum Standard macht. Dementsprechend sind behinderte Menschen im öffentlichen Leben wesentlich sichtbarer. Der blinde Journalist Gary O’Donoghue, der für die BBC aus Washington DC berichtet, gilt beispielsweise als einer der profiliertesten Korrespondenten des Landes.

Hierzulande beginne diese Reflexion gerade erst, beobachtet Zayed. Junge Medien wie „Cosmo“ oder „1Live“ würden wichtige Arbeit leisten, um die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung sichtbar zu machen; in den Hierarchien vieler Medienhäusern bestünden die Barrieren in den Köpfen allerdings nach wie vor – gerade wenn es darum geht, Führungspositionen zu besetzen.

Insbesondere bei den Öffentlich-Rechtlichen sieht Zayed die Verantwortung, hier eine Vorreiterrolle zu übernehmen: Inklusion dürfe nicht als nice to have gedacht werden, sondern sei eine grundlegende Frage von Teilhabe und Menschenrechten.

Angehenden Journalist:innen mit Behinderung ihrerseits rät sie zu einem gesunden Selbstbewusstsein, wenn sie mit Klischees konfrontiert sind oder gleiche Chancen fordern: „Lasst euch nicht reinquatschen!“

2 Kommentare

  1. Stück weit ist das bestimmt auch dem Umstand geschuldet, dass nicht jede Redaktion rollstuhlgerecht ist, aber gar keine Inklusion ist schon sehr wenig.

  2. > Jeder weitere Zuverdienst wird seiner Grundsicherung angerechnet und gegebenenfalls davon abgezogen. Diese Hürden machen es schwer, das Werkstattsystem zu verlassen und in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu wechseln: Während viele Journalist:innen etwa durch Praktika oder Aufträge als Freie ihren Weg in die Branche finden, bleibt dieser fließende Übergang für Menschen mit Behinderung oft versperrt.

    Inwiefern ist Anrechnung eines höheren Lohns auf die Grundsicherung eine Hürde im den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln? Es verringert den Anreiz, ja, aber das hat nichts mit einer Barriere im aktiven Sinn zu tun. Nichts ist versperrt durch eine Anrechnung. Außerdem sind Praktika bei Medien bekanntlich häufig sowieso unbezahlt. Insofern ist die Hürde hier überhaupt nicht erkenntlich.

    Natürlich wäre es schön wenn jeder seinem Wunschberuf nachgehen könnte, aber die Argumentation hier ist rosarote Brille und naiv.

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