Ukraine-Krieg

Wie Enno Lenze versehentlich Kriegsreporter wurde

Enno Lenze ist so etwas wie der bunte Hund unter den Kriegsreporter:innnen: Für kein Medium fest tätig, auch nicht fest-frei, findet er vor allem via Twitter trotzdem ein breites Publikum. Dabei profitiert er von einer eigenen Authentizität, die unter anderem darauf beruht, dass er an keine formalen journalistischen Regeln gebunden ist, sondern gewissermaßen frei Schnauze sagt, was er sieht und dazu denkt.

Seine Follower schätzen diese ungeschminkte Art der Berichterstattung, die nicht zwischen Nachricht und Meinung trennt, dabei aber viele Einblicke hinter die Kulissen gibt. Zurzeit ist Lenze das zweite Mal seit Kriegsbeginn in der Ukraine und erklärt seinen teilweise offenbar wenig durch klassische Medien informierten Followern auf Twitter in seinen eigenen Worten nebenbei „mal die Basics“.

Lenzes Rolle ist nicht klar definiert: Er betreibt in Berlin einen zum Museum über den Nationalsozialismus umgebauten Bunker sowie einen Verlag für zeithistorische Literatur, dessen Titel sich mehrheitlich ebenfalls kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Hauptberuflich ist er jedoch als Berater für Firmen in Krisengebieten tätig.

Enno Lenze vor einem zerstörten Panzer
Enno Lenze auf dem Highway e40 kurz vor Kiew im April 2022 Foto: Enno Lenze

Herr Lenze, laut Ihrer Webseite sind Sie „Unternehmer, Consultant, Museumsdirektor“: Ihre ganzen Projekte wie der „Story Bunker“ in Berlin, das von Ihnen betriebene Newsportal oder der Export von Schutzausrüstung: Wie hängt das alles zusammen? Und wie hat es sich entwickelt?

Das ist schwierig zu erklären. Das mit dem Museum hat sich irgendwie so ergeben, weil ich das Angebot hatte, diesen Bunker zu kaufen. Und dann ergab sich die Idee, die NS-Zeit in einem Nazi-Bunker zu erklären. Womit ich eigentlich mein Geld verdiene, ist die Beratung von Unternehmen, die in Krisengebieten tätig sind – oder in solche geraten. Wie wir aktuell sehen, kann das schneller gehen als viele denken. Und die meisten kennen sich in Kriegsgebieten nicht wirklich aus.

Wenn ich dann in solchen Gegenden war, haben mich immer alle Freunde gefragt: „Was ist da los? Wie sieht es da aus?“ Früher habe ich nach diesen Reisen dann irgendwann Emails an alle geschrieben, damit ich nicht hundertmal dasselbe erzählen muss. Später wurde daraus dann ein Blog. Und noch später kamen dann Nachrichtenredaktion und haben gesagt: „Hey, kannst du uns das noch mal ordentlich schreiben oder so in ganzen Sätzen und mit korrekter Rechtschreibung vielleicht?“ So ergab sich das über die Jahre.

Während der Corona-Zeit im ersten Lockdown haben wir dann überlegt, wie können wir das Blog mal ordentlich machen. Dann haben wir schließlich eine Seite gemacht, wo ein Nachrichten-Feed einer Agentur einläuft und zudem meine Texte und die einiger befreundeter Autorinnen und Autoren erscheinen. Eigentlich ist die jetzige Seite „Berlin Story News“ also aus einem Hobby- oder Spaßprojekt erwachsen, um während der Pandemie die Zeit totzuschlagen.

Aber wie sind Sie dazu gekommen, Unternehmen in Krisengebieten zu beraten?

Mich haben Krisen, Kriegsgebiete und die Entstehung und Lösung von Konflikten irgendwie schon immer interessiert. Als Kind habe ich Actionfilme geguckt und mich gefragt, wie funktioniert denn so ein Maschinengewehr? Warum schießt das die ganze Zeit? Hat das Batterien oder sowas? Daraus ergaben sich dann weitere Fragen wie: Warum baut man das? Und wer verkauft das? Bei uns gibt es das nicht, aber im Krieg gibt es das. Das wurde dann tatsächlich nach und nach immer größer: Wie funktioniert legaler und illegaler Waffenhandel? Und warum braucht man überhaupt Waffen? Wie entsteht denn eine Krise, die zu einem Krieg werden kann?

Irgendwann habe ich tatsächlich einfach Leute aus diesem Bereich mit meinen Fragen kontaktiert, Berater aus dem Sicherheitsbereich, Freunde von Bekannten, die bei der Bundeswehr in Spezialeinheiten waren und so weiter. Das hat sich dann umgedreht, weil ich aus purem Interesse Wissen angehäuft habe und irgendwann kamen dann Leute auf mich zu und meinten: „Ey, Du hast doch voll Ahnung davon. Erklär das mal!“ Und ich hatte gar nicht wirklich viel Ahnung, aber vielleicht mehr als die Person, die gefragt hat.

Ein guter Freund meiner Eltern lebt zudem seit 1991 zeitweise in Kurdistan, also im Nordirak. Er war als Deutscher permanent vor Ort und hat deutschen NGOs geholfen, dort Fuß zu fassen. Wenn die ein Hilfsprojekt machen wollten, hat er als lokaler Kontakt fungiert, nach dem Motto: „Ich bin schon hier, wenn ihr Fragen habt.“

Eigene Reisen ersetzten Klischees im Kopf

Das fand ich total spannend, weil mein laienhaftes Klischeebild von der Gegend war ungefähr so, da sind Krater in der Wüste und zehn Dörfer übers Land verteilt, wo drei Leute auf einem Esel reiten. Ich hatte so ein Vorstellungsvermögen wie in Karl-May-Büchern. Aber er hat bei Besuchen erzählt, wie ein neues Ferien-Resort aufgemacht hat, dass sie jetzt in Erbil eine dritte Startbahn haben und einen neuen Freizeitpark bauen. Und ich dachte dann, irgendwas passt hier nicht zu dem, was ich im Kopf habe, das muss ich mir angucken. So bin ich 2011 das erste Mal nach Kurdistan geflogen. Man hat auf der einen Seite von Erbil diese seit 6000 vor Christus durchgehend bewohnte Zitadelle, auf der anderen Seite Flüchtlingscamps und dann wiederum Bars und Resorts und Fünf-Sterne-Hotels. Das hat mich sehr fasziniert und dann kommt man halt wieder und wieder.

Als dann halt der Krieg gegen den IS losging, war ich schon ein paar Mal dort gewesen und das wurde dann zufällig der entscheidende Punkt in meinem bisherigen beruflichen Lebenslauf. Ich kam 2014 in Kurdistan an, drei Tage nachdem der IS Mossul überfallen hatte. Und dadurch, dass ich da schon ein paar Leute kannte, konnte ich dann direkt bis Mossul quasi bis in Sichtweite vom IS fahren, wo noch kaum jemand war zu der Zeit. Und da haben mich dann auf einmal eine Menge Leute kontaktiert und gesagt: „Was ist da los? Wie bist du dahin gekommen? Wie ist die Lage?“ Und seitdem mache ich das vermehrt, dass ich Leuten Krisengebiete erkläre. Ich war zufällig in dem Moment dort, als sich die komplette Lage geändert hat. Und dann meinten Leute von außen, ich müsse doch ein Experte für dieses Thema sein und haben mir horrendes Geld geboten. So ging das Ganze los, also total unkoordiniert und ungeplant.

Dann habe ich mich genauer mit der Sache beschäftigt und bin gezielt in Krisengebiete gefahren. Und es war immer anders als erwartet. Das fand ich das Überraschendste: Man kommt an – und da ist überhaupt kein Krieg zu sehen. Weil: Der ist 30 Minuten weiter. Aber man denkt, der muss doch im ganzen Land sein. Als die Taliban Afghanistan übernommen haben, wollte ich drei Wochen später hin und alle Leute in meinem Umfeld haben mich für bescheuert erklärt. Aber ich habe gedacht: Wie kann einen das jetzt nicht interessieren? Klar sind das Terroristen und Verbrecher. Aber trotzdem will ich doch wissen, wie es da jetzt aussieht. Das völlig Bizarre in dem Fall war dann, dass die sich total gefreut haben, dass Leute kommen. Die wollten nämlich zeigen: Guck mal, wie schön wir das Land befreit haben, wo jetzt angeblich alle in Frieden leben können. Ich wusste natürlich, dass das nicht so ist, aber die hatten nicht das geringste Interesse, mich zu entführen oder zu erschießen, sondern die wollten beweisen, dass sie jetzt die legitime Regierung sind und alles total super wird.

Das heißt, Sie haben bis heute keine formale Ausbildung in dem Bereich, also weder Journalismus noch Konfliktforschung studiert zum Beispiel, sondern das war eher alles learning by doing?

Genau: Die einzige Ausbildung, die ich habe, ist IT-Systemkaufmann, die hat quasi nichts mit meinem Leben zu tun, aber ich dachte nach der Schule, wir sind in Deutschland, also sollte ich irgendeinen Stempel auf irgendeinem Stück Papier haben. Eigentlich war das aber nicht mein Ding: Ich bin als Kind zum Teil in Ruanda aufgewachsen, wo mein Vater als Entwicklungshelfer gearbeitet hat. Ich habe daher, glaube ich, einfach weniger Angst vor neuen Sachen.

Viele Leute in Deutschland haben ja Sorge, wenn was anders ist. Schon wenn man sagt „ich überlege umzuziehen“, antwortet die Hälfte „warum das denn? Wenn die Wohnung jetzt okay ist, dann ändert man doch nichts.“ Wenn man in anderen Ländern gelebt hat, dann denkt man, umziehen ist nicht schlimm. Fremde Kulturen sind nicht schlimm, andere Gegenden sind nicht so schlimm, wie sie gemacht werden. Mir war immer klar, wenn du in irgendein Land kommst, auch wenn Du keinen kennst und die Sprache nicht sprichst, kommst du immer noch zurecht. Weil ein Großteil der Menschen auf der Welt einfach freundlich und hilfsbereit ist. Wenn man in dem Bewusstsein aufwächst, hat man einfach weniger Berührungsängste und probiert auch eher einfach Sachen aus.


Enno Lenze
Enno Lenze ist derzeit wieder in Kiew. Die Statuen sind mit Sandsäcken gegen Beschuss geschützt. Foto: Enno Lenze

Doch Lenze teilt auch aus und polarisiert: Seine stets klare Haltung, gepaart mit provozierenden Podcast-Titeln wie „Funny War Stories“ ruft regelmäßig Krtitiker:innen auf den Plan, die Lenze Selbstdarstellung und Voyeurismus vorwerfen.

Lenze kontert seinerseits, Twitter-Kritik komme vor allem vom „Bundesverband der ungebumsten Berufsempörten“. Das wiederum hat ihn vor allem bei linken Kritiker:innen, die sich mal mehr, mal weniger humoristisch an ihm abarbeiten, zu einer Art Meme werden lassen. Warum er diese Anwürfe nicht ernstnimmt, hat Lenze in einem längeren Blog-Beitrag erklärt.

Noch deutlich heftiger sind allerdings die Angriffe türkischer Nationalisten oder deutscher Rechtsextremer: Als Lenze im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 ein Video mit dem Titel „‚Ich bin ja kein Nazi, aber …‘ – doch, bist du!“ aufnahm und mit den „Flüchtlingskritikern“ von AfD und Co. abrechnete, wurde er von Morddrohungen überschwemmt.

Lenze changiert zwischen beruflicher Aktivität, sozialem Engagement und Berichterstattung. Seine Trips nach Kiew trat er unter anderem mit einem befreundeten Unternehmer an, der gepanzerte Fahrzeuge exportiert. Und auch er selbst liefert Schutzausrüstung an Journalist:innen und andere Abnehmer.

Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle? Wie ist Ihr Verhältnis zu „echten“ Korrespondent:innen?

Der Riesenunterschied zwischen mir und echten Krisenberichterstattern ist, dass die viel mehr Kontext haben. Paul Ronzheimer zum Beispiel beschäftigt sich seit Jahren mit der Ukraine, der kennt alles und jeden, jede Gruppe, die Namen, die Orte. Wenn da ein Stichwort fällt, kann der das sofort zuordnen und auch die Historie von handelnden Personen, Politikern und so weiter. Der erzählt dann zum Beispiel, wie bemerkenswert es ist, dass die Klitschkos und Selenskyj jetzt an einem Strang ziehen, weil das sei vorher nicht so gewesen, die hätten sich ja politisch bekämpft. Das ist etwas, das hätte ich gar nicht gewusst, weil es halt nicht mein Hauptthema ist. Ich bin immer nur der Typ, der irgendwo hinkommt – und versucht sich und anderen die Frage zu beantworten: Was ist hier los? Was ist passiert?

Als ich nach Butscha kam, wusste ich nichts von dem Ort. Das kannte ja praktisch keiner auf der Welt. Aber ein Korrespondent würde vielleicht sagen, das ist eigentlich ein schöner Vorort oder da haben die Russen gezielt nach Leuten der ukrainischen Elite gesucht, wenn es denn solche Vorgeschichten gäbe. Aber die kenne ich meistens nicht, außer mittlerweile in Kurdistan, weil ich da einfach so oft war. Aber da merke ich dann, da habe ich keine Ahnung, da muss ich dann Google rausholen oder jemand anders fragen, was der Zusammenhang ist oder ob es überhaupt einen gibt.

Wenn wir dagegen mal einen klassischen ARD-Korrespondenten nehmen, der zehn Jahre oder so im gleichen Land ist – von dem erwarte ich, dass er mir die Geschichte von Anfang bis Ende erzählen kann und dass er zehn Leute im Team hat, die Querverbindungen erklären können, die ich nicht auf dem Schirm habe. Ich dagegen erkläre, was ich gesehen habe und versuche auch immer ein bisschen rechts und links zu erklären. Also: Wie sind wir dahin gekommen, was haben wir erlebt, teilweise auch die Zufälle, von denen alles abhängt. Ich bin den Highway langgefahren und zufällig genau in der richtigen Minute, als sie die Straße nach Butscha wieder aufgemacht haben. Und so habe ich genau das gesehen, was nachher um die Welt ging.

Ein anderes Beispiel sind Journalisten-Hotels: Warum sitzen wir da im Fünf-Sterne Hotel an einem riesigen Buffet? Weil es ein Hotel braucht, das mindestens einen eigenen Stromgenerator und einen Pool hat. Und das sind dann meist Luxushotels, zumindest in Relation zu der Gegend wo sie sind. Und warum braucht man das? Weil man die Technik im Falle eines Stromausfalls nur dann weiter betreiben kann. Und falls es eine Belagerung gibt, kann man einen Pool absperren, herunter chloren und noch wochenlang daraus trinken. Dafür ist in den fünf Minuten „Tagesschau“-Beitrag keine Zeit, aber ich habe sie. Meine Zielgruppe interessiert das, die wollen solche Sachen erklärt bekommen. Das ist für mich auch mein Verständnis von transparentem Arbeiten. Ich sage, was ich sehe und wie das zusammenhängt. Meine Arbeit überschneidet sich also mit den Korris, aber es sind trotzdem verschiedene Welten. Der Ausschnitt, den wir präsentieren, ist ein völlig anderer.

Speziell an der Art der Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen haben Sie aber auch eine gewisse Kritik …

Ja, aber eine differenzierte: Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk ist per se eine unglaublich wichtige Sache, gerade im Kontext, wie er entstanden ist, nach der Nazizeit. Dass die Bevölkerung unabhängigen Journalismus zahlt, den die Regierung nicht beeinflussen kann, ist grandios. Aber zum einen sitzen irgendwie verdächtig viele Leute, die Parteiämter haben, auch in Rundfunkräten. Auf der anderen Seite kann das im Programm auch kritisiert werden, bei „Zapp“ oder „Extra3“ oder der „Anstalt“. So lange irgendein Satiremagazin wahnsinnig lustige, böse Shows machen kann, wie kaputt ihr eigener Rundfunkrat ist, denke ich: Okay, das klappt also noch. Wenn das im eigenen Programm noch kritisiert werden kann, ist die Grundidee noch erfüllt.

Mein Hauptkritikpunkt ist aber ein anderer: Wenn sie schon Milliarden haben, die sie gerne haben sollen, dann möchte ich dafür auch ordentliche Berichterstattung von vor Ort. Natürlich kann man niemanden zwingen, aus Kriegsgebieten zu berichten. Das hat aber auch nie jemand gefordert. Aber wenn ohnehin Reporter vor Ort sind, auch Freelancer, warum engagieren ARD und ZDF nicht welche von denen und geben ihnen ein ordentliches Gehalt? Vom Prinzip her dasselbe wie der Ronzheimer, der immer dahin springt, wo es gerade knallt – aber das Ganze bitte in seriös und für die ARD. Dann würde ich sagen: Super! Warum geht denn das nicht?

ARD erst zu spät und dann mit Ausreden

Es gab in Kiew dieses Treffen mit Journalisten, wo angeboten wurde: Wer möchte nach Butscha fahren? Es gibt eine vom Verteidigungsministerium organisierte Tour. Die ARD war nicht da, weil sie erst am nächsten Tag kam und dann sagt Georg Restle abends in der Tagesschau, da durfte niemand hin. Und da denke ich dann: Nee, Leute, beim besten Willen, das geht nicht, mit diesem Auftrag und mit sieben Milliarden und so weiter, wenn diese Ausführung das Ergebnis ist. Das ist mein Kritikpunkt, nicht die Idee dahinter.

Leider muss ich sagen, dass das eine typische Erfahrung ist. Da geht es nicht mal um die Leute vor Ort, die auch gute Arbeit machen. Aber es gibt Leute, von denen ich nie gehört habe, die das auch gerne machen würden und die qualifiziert sind, aber denen stehen dann die Gebiets-Aufteilungen und irgendwelche Regeln im Weg, welcher Sender darf in welche Staaten und was weiß ich. Wie kann man sich mit so bescheuerten Regeln selbst ins Abseits stellen? Das liegt dann halt im System, dass man sich regelmäßig selbst im Weg steht. Das ist wie eine Behörde oder ein Amt, dessen Regeln kein normaler Bürger mehr versteht.

Und dann heißt neuerdings immer, man habe ja berichtet, aber auf „tagesschau24“ oder bei „Phoenix“ oder gar bei der „Deutschen Welle“. Aber wenn ich CNN anmache, sehe ich die Nachrichten der Welt. Wenn ich bei Paul Ronzheimer gucke, sehe ich, wo gerade was explodiert ist. Und wenn ich bei den Öffentlich-Rechtlichen wissen will, wer gerade von dort berichtet, dann muss ich irgendwie mehrere Sender durchschalten und 99 Social-Media-Kanäle. Das kann es doch nicht sein. Ich habe die ARD tatsächlich auch mal gefragt, ob sie mir eine Liste aller Social-Media-Kanäle schicken können. Die Antwort war: „Wir wissen gar nicht, was wir alles haben, weil das jeder Sender selber entscheidet.“ Und da denke ich dann: Leute, das funktioniert so alles nicht.


Doch selbst der Freelancer sein, der von ARD und ZDF gefragt wird, will Lenze auch nicht. Zwar wurde er kürzlich als Talkshowgast bei „Maischberger“ ein- und kurzfristig wieder ausgeladen, was er leicht empört kommentierte, die Gründe sollen jedoch rein redaktionell gewesen sein.

Seine meinungsstarken Tweets, in denen er auch schon mal sein Verständnis für mutmaßliche ukrainische Kriegsverbrechen zum Ausdruck bringt oder in recht derben Worten seine Beobachtung teil, wonach die beste Coping-Strategie der Reporter:innen vor Ort in „saufen und vögeln“ besteht, wären für die Profile öffentlich-rechtlicher Journalist:innen sicherlich ungeeignet.

Seine Reichweite und sein persönlicher Erzählstil sorgen jedoch dafür, dass er ein attraktiver Gesprächspartner ist, vor allem in Krisensituationen und für Medien, die entweder keine eigenen Leute vor Ort haben oder seine Einschätzungen schlicht interessant finden, oft interessanter als diejenigen hauptberuflicher Journalist:innen. Dabei will Lenze genau das eigentlich nicht sein. Im Gespräch verweist er darauf, dass er es Redaktionen überlassen müsse, journalistische Entscheidungen zu treffen. Er selbst spende seine journalistischen Honorare, aber natürlich antworte und liefere er Artikel, wenn er gefragt werde.

Inwieweit sehen Sie sich denn überhaupt als Journalisten? Könnten Sie sich vorstellen, hauptberuflich als Reporter tätig zu sein?

Für mich wäre es schwierig, in einer ganz normalen Redaktion zu arbeiten, das passt nicht richtig zusammen. Weil ich am Ende doch parteiisch bin. Wie jetzt mit der Ukraine, da habe ich keine neutrale Position, sondern bin ganz klar der Meinung: Die Ukraine ist auf der richtigen Seite. Wenn ab und zu Zeitungen kommen und sagen, „den Text hätten wir gern“, oder „kannst du uns da noch mal was erzählen oder ein Interview geben?“, mache ich das jederzeit gerne. Aber dann muss die Redaktion bewerten, ob das okay ist. Ich würde aber nicht hingehen und sagen „bringt diesen Text von mir, weil das ist die pure Wahrheit“. Natürlich versuche ich trotzdem immer wahrheitsgemäß zu berichten, aber ich bin nicht neutral.

Ich bin nun mal der Meinung, wenn ich ins Nachbarland gehe und Zivilisten erschieße, dann kann ich mich nicht wirklich darüber beschweren, wenn mir ins Knie geschossen wird. Die Russen begehen ein Kriegsverbrechen nach dem anderen. Wenn Du in der Kneipe auf einmal anfängst auf alle einzuprügeln, weil es Dir Spaß macht, und dann nimmt auf einmal einer einen Aschenbecher und schlägt damit zurück, dann kannst Du Dich auch nicht hinstellen und sagen „das ist jetzt aber unfair“. In meiner Logik funktioniert das einfach nicht. Begehe keine Kriegsverbrechen, wenn du nicht willst, dass man Dir ins Knie schießt. Ich finde das ziemlich simpel.

Mir ist klar, dass das journalistisch so nicht geht und ich würde das auch nicht in einen Artikel schreiben, nach dem Motto: Darum ist es wichtig, Leuten in die Beine zu schießen. Es ist fast nie richtig, auf jemanden zu schießen – und es gibt genug Gründe, die ich nicht nachvollziehbar finde. Aber es ist für mich ein Missverhältnis, wenn Leute sagen, das geht ja gar nicht, aber nicht ihr erster Punkt ist, der hätte das Land nicht überfallen dürfen. Und das finde ich fast immer so, dass für mich relativ eindeutig ist, wer auf der richtigen und der falschen Seite steht. Das ist ein bisschen wie mit den deutschen IS-Terroristen, die wir jetzt zurückholen, wo es dann heißt, die hatten auch echt harte Haftbedingungen da. Oh Wunder! Es sind IS-Terroristen, die haben unfassbare Verbrechen begangen, alle hassen sie. Natürlich hatten die harte Haftbedingungen. Mit Leuten, die solche Verbrechen begehen, habe ich einfach kein Mitleid. Und ein ARD-Korrespondent sagt Zuhause vielleicht das gleiche, aber ich habe eben die Freiheit, es auch auf Twitter zu sagen. Warum soll ich meine Meinung da verheimlichen?

Was den Umgang mit dem Schrecken und der Gefahr und den Bildern, die man sieht, angeht: Es ist einfach so, dass es da keine großen Geheimnisse gibt. Man kommt morgens zum Frühstücksbuffet und alle sind ruhig. Und dann weiß man, okay, da ist wieder ein Reporter gestorben, weil sonst wären die Leute lauter und hätten bessere Laune. Und am Abend, wenn die von ihren Touren zurückkommen, dann sitzen sie alle da und saufen bestimmt dreimal so viel wie die letzten Tage. Das merkt man schon ganz, ganz deutlich. Aber es gibt keine speziellen geheimen Tricks oder so, sondern klar belastet einen das und das hat man auch lange im Kopf. Aber irgendwie gewöhnt man sich daran. Mir scheint die Welt, wie sie die Leute vor Ort ja einfach erleben oder wie sie ihr Leben leben, ist halt unterschiedlich und am Ende gewöhnt man sich an alles, was man regelmäßig tut. Ich selbst mache dann einfach immer mit dem nächsten Projekt weiter. Bisher hat das immer geklappt und ich drücke die Daumen, dass es so bleibt.

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