Studie zu Fan-Gewalt

Medien bekommen Fußballgewalt einfach nicht in den Griff

Nach rund zwei Jahren Pause und Unterbrechungen gab es am Wochenende an einigen Orten erstmals wieder volle Fußball-Stadien, auch die organisierten Fanszenen und Ultra-Gruppen kehrten zum Teil auf die Tribünen zurück.

Doch viele Sportreporter:innen konnte sich darüber nicht so richtig freuen, denn bereits am Freitag kam es zu einem Eklat in der höchsten deutschen Spielklasse: Das Spiel des VfL Bochum gegen Borussia Mönchengladbach wurde abgebrochen, nachdem Linienrichter Christian Gittelmann von einem Bierbecher am Hinterkopf getroffen wurde. Nun sind Bierbecher-Würfe in Fußballstadien immer schlecht und ärgerlich, allerdings weder selten noch neu. Bereits 2011 wurde am Hamburger Millerntor ein Spiel des FC St. Pauli gegen Schalke 04 aus exakt demselben Grund abgebrochen.

Zum Problem wird die mit dem Wurf verbundene Möglichkeit der Körperverletzung immer nur dann, wenn sie eintritt. Geht es glimpflich aus, dient das Ganze Sportjournalist:innen auch als Gaudi, so zum Beispiel als der Dortmunder Spieler Jude Bellingham in dieser Saison einen noch teilweise gefüllten Becher auffing und so tat, als würde er einen Schluck nehmen.

Als ein Spieler einige Ligen tiefer vor ein paar Jahren tatsächlich den Becher austrank, jubelten die „Westfälischen Nachrichten“ sogar über den herrlich „verrückten, erstklassigen“ Torjubel als Reaktion auf den Wurf. Der Wurf selbst war dagegen kein Thema:

Unter Kriegsvergleichen geht es einfach nicht

Nun aber wurden in der Live-Berichterstattung auf DAZN alle Register gezogen: Experte Sascha Bigalke missfiel, dass Gladbachs Sportdirektor Roland Virkus im Interview nicht sofort über den Bierbecher-Wurf gesprochen hatte. Und das kommentierte er so:

In erster Linie geht es hier um den Menschen, dem wird geschadet. Da muss man souveräner auftreten, gerade mit der Position, die er jetzt innehat. Das hat mich wirklich enttäuscht. […] Ich meine, wie gesagt: Worum geht’s gerade? Wir haben in Europa einen Krieg. Da geht es um Menschen. Und dann muss ich und dann muss ich wirklich als Erstes darüber sprechen und nicht, ob wir eine gute zweite Halbzeit gespielt haben.

Was diese beiden Dinge miteinander zu tun haben, außer, dass es irgendwie „um Menschen“ geht, genau wie bei allen Themen, des – nun ja – menschlichen Lebens? Genau: gar nichts. Aber wer sich zuweilen schon angesichts von Pyrotechnik im Stadion an bürgerkriegsähnliche Zustände erinnert fühlt, hat natürlich Schwierigkeiten neue Superlative zu finden, wenn wirklich ein Mensch verletzt worden ist. Folglich kann man das Ereignis dann nur noch mit dem Krieg in der Ukraine vergleichen.

(Nur am Rande sei angemerkt, dass viele deutsche Fanszenen sich seit Wochen nicht nur mit Spruchbändern, sondern auch praktisch in der Ukraine- und Fluchthilfe engagieren, also dort, wo es jenseits von Fernsehstudios wirklich „um Menschen“ geht.)

Prominente Berichterstatter nutzten die Gelegenheit zur üblichen Tirade gegen Stadiongewalt und Ultras. Sport1-Chefredakteur Pit Gottschalk kommentiert die „prompte und reflexartige Distanzierung des Vereins“, um prompt und reflexartig zu schreiben, dass „die sogenannten Fans ihre Klubs seit geraumer Zeit mehr oder weniger im Würgegriff“ hätten.

Statt aus „Dankbarkeit, dass Fußballspiele wieder vor vollen Rängen stattfinden“, „Demut und Zurückhaltung“ zu zeigen, sei es „zum Eklat“ gekommen. Denn darum, ein „gutes Fußballspiel zu sehen“, gehe es den organisierten Fans schon längst nicht mehr. Dass der Becherwurf nicht aus dem Block Bochumer Ultras kam, sondern von der Haupttribüne, wo im Regelfall auch die Gottschalks dieser Welt Platz nehmen, darf beim Empören nicht stören.

Massiver Anstieg der Gewalt nach zwei Jahren ohne Fans?

Dass Gewalt beim Fußball als Thema immer geht, bewiesen bereits Ende Februar das Münchner ifo-Institut zusammen mit der Deutschen Presseagentur (dpa) und vielen großen deutschen Medienhäusern. Unter der Überschrift „Studie: Deutlich mehr Gewalttaten an Fußball-Spieltagen“ verschickte die dpa eine Meldung, wonach es „an Tagen mit Profifußballspielen deutlich mehr Gewalt in den Austragungsstädten“ gebe.

„Fußballspiele der ersten bis dritten Liga führen zu 21,5 Prozent mehr Gewalttaten, als an den jeweiligen Wochentagen sonst zu erwarten sind“, erklärte dazu der Studienleiter Helmut Rainer. Opfer seien „vor allem junge Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren, beinahe ein Fünftel der zusätzlichen Gewalt an Spieltagen lässt sich durch Angriffe auf Polizisten erklären.“

Auch die Agenturen „Reuters“ und AFP berichteten, allerdings im Gegensatz zur dpa eher mit dem Fokus auf den Kosten, die auch den Schwerpunkt der Pressemitteilung des ifo-Instituts (das schließlich Wirtschaftsforschung betreibt), gebildet hatten. Basieren darauf titelte das ZDF „Teure Fan-Gewalt“, „Zeit Online“ setzte sogar eine eigene Autorin auf das Thema: „Gewalt durch Fußballfans kostet pro Jahr 44 Millionen Euro“.

Doch vor allem die gewaltorientierte Schlagzeile der dpa fand durch die Einspielung über den dpa-Nachrichtenkanal, die automatisiert Meldungen bei den angeschlossenen Abnehmern produziert, weite Verbreitung.

Schlagzeilen von "Mainpost", HNA, "T-Online" und "Tageblatt"
Gewaltig was los an Spieltagen? Schlagzeilen von „Mainpost“, HNA, „T-Online“ und „Tageblatt“ Screenshots: mainpost.de, hna.de, t-online.de, tageblatt.de

Viele Fans dürften sich angesichts der Schlagzeilenfreude verwundert die Augen gerieben haben. Denn nachdem der Spielbetrieb im Frühjahr 2020 aufgrund der Corona-Pandemie vollständig unterbrochen wurde, fand er später zunächst nur vor leeren Rängen statt. Erst im Frühjahr 2021 gab es überhaupt wieder nennenswerte Zuschauerzahlen im Profifußball, allerdings führte die Delta-Welle im Herbst/Winter 2021/22 dann wieder zum teilweisen oder vollständigen Ausschluss der Fans.

Zudem kehrten viele organisierten Fanszenen bislang nicht in die Stadien zurück. Nach dem Motto „Alle oder Keiner“ wurde die Solidarität untereinander hier so verstanden, dass Ultra-Gruppen und organisierter Support erst dann wiederkommen, wenn es einen uneingeschränkten Zugang zum Stadion gibt. Daher kommt der plakative Befund einer ansteigenden Gewalt zum jetzigen Zeitpunkt mehr als überraschend.
Auf Twitter intervenierte der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes. Er wandte sich an die „Süddeutsche Zeitung“, die die Meldung ebenfalls von der dpa übernommen hatte:

Liebe @SZ, was für eine Überschrift ist das denn? Die Zahlen sind mehr als 7 (!) alt. Guter Journalismus geht anders. Und hätte auch hinterfragt, wie viele Verletzte es bspw. beim Oktoberfest oder anderen ‚Brauchtumsveranstaltungen‘ gibt.

Die „Süddeutsche“ reagierte auf die Kritik und nahm die dpa-Meldung von der Seite, weswegen Sie in dieser Form nur noch im Internet-Archive zu finden ist.

dpa räumt falsche Schwerpunktsetzung ein

Auch die Agentur sieht nachträglich Korrekturbedarf, ließ die Meldung jedoch in ihrer ursprünglichen Form im Nachrichtenkanal. Auf Anfrage von Übermedien antwortete eine Sprecherin:

Angesichts des Gesprächswerts des Themas Fangewalt im Fußball haben wir die jetzt erst publizierte ifo-Studie grundsätzlich für
berichtenswert befunden, auch wenn die dafür ausgewerteten Daten aus den Jahren 2011 bis 2015 stammten. Richtig ist aber, dass wir auf die dadurch bedingte Aussagekraft der konkreten Zahlen sehr viel früher – nämlich schon am Meldungsanfang – hätten klar hinweisen müssen.

Die Studie sei „zugleich Auslöser für weitere Recherchen“ gewesen, die man „im Zusammenhang mit der verstärkten Fan-Rückkehr in die Stadien“ auch veröffentlichen wolle. Man berichte auch regelmäßig über ähnliche Themen, wie zum Beispiel „die Kritik an der Fan-Datenbank der bayerischen Polizei oder die Berichte der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS)“.

Wissenschaftler Feltes findet dies im Gespräch mit Übermedien wenig überzeugend: „Dass es auch mal dauert, bis Studien publiziert werden, ist im Wissenschaftsbetrieb nichts Ungewöhnliches“, so Feltes.

Sieben Jahre nach Abschluss der Datenerhebung ist allerdings schon eine lange Zeit. Nie und nimmer hätte die Berichterstattung über eine solche Studie daher die Schlagzeile ‚Deutlich mehr Gewalttaten an Fußball-Spieltagen‘ haben dürfen. Denn das suggeriert doch, dass es um das Hier und Jetzt geht. Selbst dem schläfrigsten Redakteur muss doch auffallen, dass seit zwei Jahren kaum Fans im Stadion sind.

Doch seine Kritik an der medialen Übernahme der Studienergebnisse geht darüber hinaus: Das Problem sei, dass die Studie sich auf Daten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) beziehe. Diese seien aber mit Vorsicht zu genießen, denn sie sagten „überhaupt nichts über die tatsächliche Kriminalität, sondern nur über die polizeiliche Arbeit und Wahrnehmung“. Selbst die oft kritisierten Daten der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) seien besser geeignet, um das tatsächliche Geschehen einschätzen zu können, auch die Verurteilungsstatistik hätte man laut Feltes heranziehen können.

„Methodisch kann man sehr viel rummäkeln“, so Feltes, dennoch zweifle er nicht am Ergebnis, dass es zu mehr Gewalt an Spieltagen komme. Der Umfang sei jedoch deutlich weniger leicht zu bestimmen, genauso die Kosten. In der Kriminologie habe sich mit „Cost of Crime“ dazu ein methodischer Standard etabliert, auf den die Studie aber keinen Bezug nehme.

Ein großes Problem sieht Feltes darin, dass polizeiliches Handeln massive Auswirkungen auf die wiederum von der Polizei festgestellte Gewalt hat. So sei zum Beispiel laut den ZIS-Daten ein wesentlicher Teil der Verletzten auf den Einsatz polizeilicher Reizstoffe zurückzuführen, letzteres betreffe immer wieder sogar die eingesetzten Polizisten selbst.

Hier liege ein eher verstecktes Ergebnis der Studie, das medial aber keine Rolle gespielt habe, denn sie stelle fest, dass „Gruppendynamik und soziale Identität“ die treibenden Kräfte seine. Daher werde ein „dialogbasierter Ansatz der Vermittlung zwischen Fangruppierungen und der Polizei“ empfohlen. Genau daran scheitere es in der Realität aber oft.

Die Darstellung von Polizei und Fans widerspricht sich oft

Und dafür lassen sich auch an diesem Wochenende wieder Beispiele finden: So hielt die Bundespolizei einen regulären Zug der Deutschen Bahn, in dem sich HSV-Fans befanden, die auf dem Weg nach Düsseldorf waren, über eine Stunde am Bahnhof Gelsenkirchen fest. Nach Angaben der Fans ließen sich die Türen nicht öffnen, es habe auch keinerlei Kommunikation seitens der Polizei gegeben. Einige stellen Videos auf Twitter:

Die Polizei hingegen beschuldigt die HSV-Fans massiver Randale und spricht von einer „Vielzahl an Straftaten“. Wer näher an der bestmöglichen Beschreibung der Wahrheit liegt, wird sich zeigen, doch auch in diesem Fall übernehmen viele Medien erneut nur die polizeiliche Darstellung.

Schlagzeilen von bild.de, t-online.de und wdr.de
Randale! Schlagzeilen von „Bild“, „T-Online“ und WDR Screenshots: bild.de, t-online.de, wdr.de

Ausnahmen bestätigen die Regel.

Auch das ifo hatte in seiner Pressemitteilung zur Studie die Frage aufgeworfen, „ob die derzeitige Polizeistrategie der Abschreckung durch eine große Einsatzstärke wirksam sei“. Für journalistisch relevant hielt das nur Sarah Lena Grahn bei „Zeit Online“. Doch genau darauf kommt es medial (und auch wissenschaftlich) an: Die Polizei ist bei Auseinandersetzungen, von denen sie selbst betroffen ist, nun einmal kein neutraler Player. Wer darstellen will, was wirklich passiert ist, kann sich deshalb weder ausschließlich auf polizeiliche Pressemeldungen, noch auf die PKS verlassen.

3 Kommentare

  1. Ich kann mich nicht gegen den Eindruck wehren, dass bei dieser andauernden Diffamierung von Fußballfans eine gehörige Portion Klassismus mit eine Rolle spielt

  2. Ich kann dem Artikel als alter Sack, dessen Herzenverein in der Regionalliga spielt, nicht ganz zustimmen. Ja, es gab schon immer Bierbecherwürfe. Heute aber, sind sie eben Normalität – auch das Werfen von sehr weit oben und auch von Sitzplätzen, was eben bedeutet: Mir ist egal, ob andere eine Bierdusche abbekommen.
    Das betrifft auch Aggressivität im Allgemeinen. Nach ungefähr 20 Jahren, in denen der Besuch von Stadien ungefährlich war (außer gegen gewisse Clubs, vor allem aus dem Osten), verändert sich das gerade. Eine Grundaggressivität gegenüber Menschen auch aus dem eigenen Lager oder neutralen Besuchern, ist verstärkt zu spüren und zu hören. Das betrifft auch die Tonalität auf Spruchbändern und Graffitis.
    Deshalb ist das Thema Polizei auch zweischneidig zu beurteilen. Einerseits spielen viele Polizeieinheiten ein dreckiges Spiel, das auf Gewaltausübung aus ist. Andererseits ist es nicht so, dass es weniger Aggressivität gibt als vor 20 Jahren.

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