Der Autor
Frederik von Castell ist Redaktionsleiter von Übermedien. Als Datenjournalist und Faktenchecker war er unter anderem für HR, SWR und dpa tätig. Von Castell ist außerdem Recherchetrainer, unter anderem am Journalistischen Seminar Mainz.
Hier sehen Sie, wie Sie tödliche Brandbomben herstellen, dort, wie Sie sich an Hackerangriffen beteiligen können. Alles ganz einfach, nur einen Mausklick entfernt. Was nach einem Auszug aus einem „Tatort“ mit dem Thema Darknet klingt, ist derzeit Realität auf Sozialen Netzwerken wie Twitter, frei für jedermann zugänglich. Und nicht etwa geteilt von suspekten Anonymen, sondern von offiziellen Stellen. Auch Journalist*innen und Politiker*innen aus Deutschland teilen solche Posts anscheinend ohne Bedenken.
Auf einer Website, die wir aus gutem Grund an dieser Stelle nicht verlinken, wird behauptet: Wer die Seite in seinem Browser geöffnet lässt, hilft dabei, russische Propaganda-Seiten „abzuschalten“.
Russland MUSS GESTOPPT WERDEN! Helfen Sie der Ukraine zu GEWINNEN!
Die „offiziellen“ Nachrichten in der Russischen Föderation sind größtenteils gefälscht und wir glauben, dass es besser ist, sie abzuschalten und die Leute auf vertrauensvolle Nachrichtenseiten umsteigen zu lassen. Bitte öffnen Sie einfach diese Seite und lassen Sie sie auf Ihren Geräten geöffnet. Sie wird die russischen Propaganda-Websites überschwemmen und ihre Infrastruktur enorm belasten.
(Übersetzung von Übermedien)
Es folgt das Versprechen: „Ein kleiner Beitrag von jedem von uns wird die Ukraine retten.“ Was auf der Seite nicht erwähnt wird, ist, dass es sich beim „Überschwemmen“ der Websites mit großer Sicherheit um eine Straftat handelt. Man nennt diese Form der Cyber-Kriminalität „Distributed-Denial-of-Service attack“, kurz: DDoS-Attacke. An diesem Beispiel erklärt: Die Nutzer schicken (automatisiert über die Seite) Anfragen an die Ziele der Attacke. Das sind Webseiten wie die des russischen Nachrichtenportals „Sputnik“ (vom staatlichen Medienunternehmens Rossija Sewodnja betrieben), oder die von Russlands Auslandsfernsehprogramm „RT“ (früher: „Russia Today“). Auf der Liste der zu attackierenden Webseiten stehen aber auch solche wie die des Kreml oder des russischen Militärs oder von Gazprom oder auch die Seite yandex.ru, die meistgenutzte Suchmaschine im russischsprachigen Raum.
All diese Seiten werden als „Propaganda-Webseiten“ über einen Kamm geschoren. Ungeachtet der Tatsache, dass sie in Teilen wichtiger Zugangspunkt für Zivilist*innen vor Ort sein könnten für Informationen über das Kriegsgeschehen, aber auch etwa über die Corona-Pandemie.
Es gibt also gute Gründe, strafrechtlich wie rational, diese Seite nicht zu verbreiten. Dennoch haben das etliche User getan, darunter auch der EU-Beauftragte der FDP Schleswig-Holstein, Helmer Krane, dessen Tweet (hier archiviert) inzwischen gelöscht wurde.
Warum er das getan hat? Eine Übermedien-Anfrage blieb bis dato unbeantwortet.
Auch der Teamleiter „Social Media“ von Stern.de, Tibor Martini, hat den Link verbreitet. In einem Tweet vom 27. Februar (archiviert), schrieb er zu dem Link:
Mit dieser Seite kann man automatisch russische Websites mit Zugriffen bombardieren / DDoSen.
Warnung: Macht den Browser langsam und kostet mobil Datenvolumen.
Ein User kommentierte sofort:
Moralisch hab ich damit kein Problem, aber Sie sollten erwähnen, dass das wahrscheinlich eine Straftat ist. Egal, wer das Ziel ist.
Martini reagierte „entspannt“ (und blendete weitere Antworten des Users aus):
Das ist richtig. Ich würde entsprechenden Ermittlungen aus Russland aktuell entspannt entgegensehen. https://t.co/RzPTQJvBMl
— Tibor Martini 🇺🇦 (@tibor) February 27, 2022
Wieso verbreitete Martini den Link, ohne darauf hinzuweisen, dass das Anklicken bereits eine sofortige Beteiligung an der Aktion auslöst und es sich bei dieser wahrscheinlich um eine Straftat handelt? Auf Anfrage von Übermedien, ob das nicht notwendig gewesen wäre, sagt er:
Dieser Sachverhalt trifft nicht nur auf meinen Tweet, sondern grundsätzlich auf Besucher dieser Seite aus allen Quellen zu (bspw. über andere Posts in Social Media, E-Mails, Direktnachrichten, Suchmaschinen).
Es wäre zu begrüßen, dass die Aktion noch gesondert bestätigt werden müsste. Auf die technische Gestaltung der Seite habe ich allerdings keinen Einfluss.Das versehentliche Anklicken eines Links reicht aus meiner Sicht nicht aus, um als Straftat zu gelten. Eine genauere und rechtsverbindliche Einschätzung kann Ihnen ein Anwalt oder ein Gutachter geben. Dass es sich beim gezielten Benutzen der Website gegebenenfalls um eine Straftat handeln kann, habe ich unmittelbar nach dem entsprechenden Hinweis darauf im direkten Umfeld der ursprünglichen Information noch deutlicher hervorgehoben. Zwischen diesen Informationen lagen wenige Minuten.
Das ist auch insofern bemerkenswert, als dass Martini wenige Tage später im Interview mit seinem Arbeitgeber „Gruner + Jahr“ wie folgt zitiert wird:
Lass dich nicht durch Posts, Querverlinkungen und #TrendingHashtags leiten, sondern besuche gezielt Accounts und Websites, denen du vertraust – und denen du bei dem entsprechendem Thema Kompetenz zutraust.
Ob der Zweck hier die Mittel heiligt, bleibt offen. Äußerst fraglich ist auch, ob der Zweck mit diesem Mittel erfüllt wird. Eine „symbolische digitale Sitzblockade“ nennt Linus Neumann vom Chaos Computer Club (CCC) solche Aktionen, wie sie auch „Anonymous“ propagiert, bei netzpolitik.org. Und fasst zusammen:
Die bisherigen Aktionen von Anonymous dürften Russland wohl kaum nennenswert schaden oder gar den Verlauf des Angriffskriegs beeinflussen.
Ist es also blinder Aktionismus, der leitet? Verleitet der Sog, an einem Krieg in Echtzeit teilhaben zu müssen, zum Anspruch, selbst etwas beitragen zu müssen – und dabei Grenzen zu überschreiten? Auch solche, die womöglich unwiderruflichen Schaden bringen. Unter anderem auf Twitter verbreitete das ukrainische Militär „Tagesschau Faktenfinder“ zufolge auch Videos von angeblich russischen Soldaten, die sich ergeben hätten. Auch solche, die Verhöre darstellen sollen, finden sich auf der Twitter-Seite des ukrainischen Verteidigungsministeriums, hundertfach geteilt. Die Frage, ob die Ukraine damit gegen die Genfer Konventionen verstoße, ist nicht eindeutig zu beantworten, aber wo steht die Plattform, die bei der Verbreitung solcher Inhalte einschreiten könnte oder müsste, wenn schon die User keine Grenzen mehr zu kennen scheinen?
Schwer zu sagen. In den Twitter-Richtlinien heißt es zwar recht eindeutig: „Du darfst unseren Dienst nicht für rechtswidrige Zwecke oder zur Begünstigung rechtswidriger Aktivitäten nutzen.“ Tibor Martini etwa sagte aber, dass er davon ausging, dass sein Tweet mit dem Link zu einer DDoS-Attacke den Richtlinien entsprochen hätte – schließlich hat das Unternehmen seinen wie viele andere Tweets eben nicht mit Warnhinweisen versehen oder ausgeblendet. Eine Sprecherin des Unternehmens sagt dazu auf Übermedien-Anfrage jedoch:
Der erwähnte Tweet verstößt gegen die Twitter-Regeln.
Der Schutz aller Menschen, die Twitter nutzen, hat für uns die höchste Priorität. Wir arbeiten ständig daran die Sicherheit unseres Dienstes zu verbessern. Wie bei großen globalen Ereignissen, überwachen unsere Teams potenzielle Risiken im Zusammenhang mit Konflikten, um die Sicherheit des Dienstes zu schützen. Dieser Schutz umfasst sowohl die Identifizierung und das Verhindern von Versuchen, falsche und irreführende Informationen zu verbreiten als auch die Geschwindigkeit und den Umfang unserer Durchsetzung zu verbessern.
Wir beobachten proaktiv, wie sich die Situation entwickelt, um Inhalte zu identifzieren die gegen die Twitter-Regeln verstoßen, einschließlich unserer Richtlinien für synthetische und manipulierte Medien und der Richtlinien für Plattformmanipulationen.
Wir bleiben wachsam und werden die Situation vor Ort weiterhin genau beobachten.
Seitdem ist der Tweet nicht mehr verfügbar.
Nun könnte man meinen, so ein Tweet rutsche auch einem Unternehmen wie Twitter einfach mal durch. Tatsache ist aber, dass es derzeit mindestens ebenso gravierenden Content auf der Plattform gibt, der in dieser Form vor wenigen Wochen noch undenkbar erschienen wäre.
So hat das ukrainische Verteidigungsministerium die Bürger des Landes via seines verifizierten Twitter-Accounts vor Kurzem aufgefordert: „Machen Sie Molotow-Cocktails, neutralisieren Sie den Besatzer!“
Und die ukrainische Nationalgarde war es, die „nützliche Informationen für einen [Molotow] Cocktail“ mit einem Sharepic verknüpfte, dem zu entnehmen sein soll, wo man Militärfahrzeuge am besten attackiert, und das in dem Sozialen Netzwerk verbreitete.
Kann Twitter solche Posts ohne Warnhinweis, dass Zivilisten sich mit dem Befolgen solcher Anweisungen in Lebensgefahr begeben, verbreiten? Und sollte es sie überhaupt verbreiten? Das Unternehmen hat Fragen dazu von Übermedien nicht beantwortet.
Gleichzeitig sperrt Twitter wie andere Tech-Giganten Accounts von RT. Anders als etwa Youtube oder Mircrosoft hat das Unternehmen diesen Schritt erst am Donnerstag und auf Grundlage einer EU-Entscheidung vollzogen. Auch hat Twitter bereits Accounts von RT-Journalist*innen mit einem Label versehen, dass es sich bei ihrem Arbeitgeber um ein dem russischen Staat nahestehendes Medium handele.
Dieser jüngste Umgang mit einzelnen Institutionen zeigt wie schon die Sperrung des Accounts von Donald Trump nach den Ausschreitungen am und im US-Kapitol in Washington vor einem Jahr, wie viel Macht Twitter ausüben kann, wenn es denn will.
Der Krieg zeigt aber: Diese Macht und die Ohnmacht der Plattform liegen nah beieinander. Auf der einen Seite ist der Vorwurf an die Sozialen Netzwerke, Hass, Desinformation und Demokratieschädigendem eine Bühne zu geben. Dem scheint auch Twitter nach wie vor nur selten mit dem Skalpell, sondern vor allem der Axt begegnen zu können: Accounts wie der von RT oder Donald Trump können offenbar abgeholzt werden. Vor lauter Bäumen sehen die Plattform-Betreiber aber den Wald nicht mehr. Und begehen deshalb Fehler wie jüngst, als Accounts von mehreren Analysten gesperrt wurden, die die Truppenbewegungen in der Ukraine beschrieben hatten. Twitter hatte den Schritt im Nachhinein als Fehler bezeichnet. Zu groß ist wohl auch wegen solcher Vorfälle die Angst vor dem Vorwurf, flächendeckend zu zensieren, wenn etwa bestimmte Links und Accounts pauschal ausgeblendet oder direkt mit Warnhinweisen versehen werden.
„Im Eifer des Gefechts“ ist eine Phrase, die häufig dann verwendet wird, wenn man etwas im Nachhinein bereut und entschuldigt. Wir, im Speziellen als Journalist*innen, sollten als User auf Plattformen wie Twitter nicht versuchen, Teil des Gefechts zu sein. Auch und gerade dann nicht, wenn ein Krieg eskaliert, man mit einem Tweet scheinbar etwas gegen die eigene Hilf- und Tatenlosigkeit tun kann und genau weiß, auf welcher Seite man steht.
Frederik von Castell ist Redaktionsleiter von Übermedien. Als Datenjournalist und Faktenchecker war er unter anderem für HR, SWR und dpa tätig. Von Castell ist außerdem Recherchetrainer, unter anderem am Journalistischen Seminar Mainz.
Twitter kann nicht alles was irgendwo strafbar ist löschen.
Dann könnte man auch nicht über den Krieg in der Ukraine schreiben, weil das ja mach russischem Gesetz jetzt verboten ist.
Hier werden ein paar interessante Themen angerissen aber leider weder abschließend behandelt noch sehe ich den Zusammenhang so richtig. Ist für mich eher eine Gedankensammlung zu Beobachtungen auf Twitter
Das ist alles gut und schön und unter „normalen“ Bedingungen richtig. Aber in der Ukraine geht es nunmal um einen Kampf von Gut gegen Böse und um Leben und Tod. Da ist Parteinahme mit allen Mitteln auch auf der rechtstaatlichen Seite gerechtfertigt. Die andere Seite schert sich einen Dreck um unsere „Korrektheit“. Putin ist ein Diktator und ein Agressor, der seine Presse gleichschaltet und jede Kritik unterbindet. Wenn auf einer Plattform wie Twitter Menschen, die von einem Agressor bombadiert und beschossen werden, erklärt wird, wie man einen Molotow-Cocktail herstellt, ist es wirklich lächerlich, von Twitter einen Warnhinweis zu verlangen, wie gefährlich das hantieren mit solchen Dingen ist. Das ist wirklich die Nörgelei aus dem warmen heimischen Sessel im wohlversorgten Westen und eine neo-kantische Argumentation, die schon in den 30er und 40er Jahren in Europa ihre Hilflosigkeit zugeben musste.
Das ist halt gerade auch wirklich schwer zu sagen, was nun richtig und was falsch ist. Grundsätzlich würde ich zustimmen, dass die Anleitung zum Bau von Molotow Cocktails aus Twitter nichts zu suchen hat. Aber in dieser Situation muss man teilweise den eigenen Wertekanon auch einmal hinterfragen dürfen. Jetzt gerade ist es vermutlich leider notwendig, dass möglichst viele Menschen in der Ukraine lernen, wie sie sich verteidigen können. Und da sind Molotov Cocktails nun mal ein einfaches, für jedermann zu realisierendes Mittel. Ob einem das nun gefällt oder nicht. Hat eine Plattform wie Twitter in dieser speziellen Situation nicht sogar die moralische Pflicht, diese Informationen zuzulassen? Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Twitter auf die Anfrage dazu nicht reagiert hat. Eine Antwort könnte eigentlich nur falsch sein, egal wie sie ausfällt. Ich persönlich halte es jedenfalls für richtig, dass diese Inhalte derzeit nicht gelöscht werden. Warnhinweise würde allerdings nicht schaden, da gebe ich Ihnen Recht.
Den Bau tödlicher Waffen als Plattform NICHT zu ermöglichen, egal, ob man deren Einsatz für gerechtfertigt hält oder nicht, ist mMn schon eine sehr legitime Einstellung.
Wenn Computersabotage strafbar ist, ist das auch dann ein Problem, wenn Russland nicht alle Saboteure verhaften kann, weil erstens – im Unterschied zu „Mollys“ – hier vllt. nicht jedem klar ist, etwas Illegales zu tun, und zwotens nächste Woche dasselbe vllt. mit, sagen wir, Amazon versucht wird. Weil Computersabotage ja auch anderswo strafbar ist.