Kein Regierungssprecher hatte dieses Amt länger inne als Steffen Seibert. Elf Jahre lang war er Sprecher der Bundesregierung und persönlicher Sprecher der Kanzlerin, 1.165-mal war er Gast der Bundespressekonferenz (BPK).
Daraus darf man den Schluss ziehen, dass Angela Merkel sehr einverstanden war mit der Art und Weise, wie die Politik der von ihr geführten Bundesregierungen öffentlich kommuniziert wurde. Über einen so langen Zeitraum bedeutet das eine hohe Kongruenz zwischen der Art, Politik zu machen, und der Art, Politik öffentlich darzustellen. Einfach gesagt: Steffen Seibert kommunizierte Politik so, wie Angela Merkel Politik machte.
Merkels Werk und Seiberts Beitrag
Merkels politische Praxis wurde oft als reaktiv analysiert: Sie schaute sehr genau hin, welche Interessen der politischen und gesellschaftlichen Akteure es in den jeweiligen Handlungsfeldern gab; für ihr eigenes Handeln bildete die Einschätzung der jeweiligen Kräfteverhältnisse eine entscheidende Grundlage. Eben Merkels eigene, umgesetzte Variante der bekannten These, Politik sei „die Kunst des Möglichen“.
Der Autor
Hans Jessen, Jahrgang 1949, ist seit 1980 hauptberuflich Journalist (NDR, Radio Bremen, ARD-Hauptstadtstudio), seit 2015 frei für Print- und Online-Medien (insbesondere „Jung & Naiv“). Seine bundespolitischen Schwerpunkte sind Außenpolitik, Umwelt-und Klimapolitik und Kultur- und Medienpolitik. Jessen ist seit 1999 Mitglied der Bundespressekonferenz.
Für diesen moderativen Stil wurde Merkel weltweit gelobt – gleichzeitig zeigten sich aber auch die Begrenzungen dieses Ansatzes auf. Besonders deutlich in der Klima- und Nachhaltigkeitspolitik. Als ehemalige Bundesumweltministerin wusste Merkel sehr genau, dass Lösungen und Vereinbarungen, die auch auf von ihr eingebrachten Vorschlägen beruhten, im Grunde nicht ausreichten. „Ich hätte mir mehr vorstellen können, aber …“, sagte sie mehr als einmal in ihrer Amtszeit. Dass es überhaupt gemeinsame Beschlüsse gab, war für die Kanzlerin Merkel jedoch der erkennbar höhere Wert.
Steffen Seibert hatte als Regierungssprecher die Aufgabe, solches – im Lichte der Sachnotwendigkeiten oft unbefriedigende – Regierungshandeln als größtmöglichen Erfolg darzustellen. Das geht und ging nur, wenn der Verkäufer der Ware Regierungspolitik selbst von der Qualität dieser Ware überzeugt ist.
Seibert war das, von Anfang an. Er hat (auch jenseits seiner öffentlichen Auftritte) immer wieder weitestgehende Übereinstimmung mit dem merkelschen Politikansatz bekundet, bis hin zum Ausdruck persönlicher Bewunderung.
Das muss bedacht werden, wenn man die Frage stellt, ob der Regierungssprecher Seibert ein reiner Verkäufer von Regierungspolitik war. Einer, der das propagierte, was ihm vorgegeben wurde – im Zweifelsfall zynisch, wider besseres Wissen.
Einer, der weiß, was er tut
Tatsächlich darf man Steffen Seibert unterstellen, dass er sehr überzeugt war von der grundsätzlichen Richtigkeit der Politik, die er verkaufte. Dass er dabei im Konkreten auch Positionen vertrat, von denen er wohl wusste, wie zweifelhaft sie in der Sache waren, ändert an diesem Grundverständnis wenig, hat aber Bedeutung für die Wahrnehmung des Regierungssprechers in der kritischen Öffentlichkeit:
Exemplarisch dafür steht die in der Bundespressekonferenz seit Jahren immer wieder geführte Auseinandersetzung um die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung. Seiberts beharrliches Narrativ war, diese sei „restriktiv“. Auf die regelmäßig gestellte Frage, wie Deutschland mit einer „restriktiven“ Rüstungsexportpolitik zum viertgrößten Exporteur von Rüstungsgütern werden konnte, und inwiefern von „Restriktion“ gesprochen werden könne, wenn 99 Prozent der gestellte Exportanträge bewilligt würden, antwortete Seibert ebenso regelmäßig: Die „Restriktion“ bestehe in der Einzelfallprüfung jedes Antrags. Ebenso sei die Quote von 99 Prozent an Genehmigungen Ausdruck erfolgreicher Restriktion – weil die Rüstungswirtschaft eben gar keine Anträge stelle, deren Ablehnung sie befürchten müsse.
Dass damit dem Wort „Restriktion“ ein Spin gegeben wurde, der mit der originären Bedeutung des Begriffs eher wenig zu tun hatte, dürfte Seibert bewusst gewesen sein – aber in seinem Gesamtverständnis vom Politikmodell der Regierungen, für die er sprach, war das offenbar zulässig, wenn nicht notwendig.
Ähnlich die Positionierungen, wenn es um Nahostpolitik ging: Merkels oft wiederholter Satz „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ wurde von Seibert – wie auch anderen Sprechern der Bundesregierung – regelmäßig als argumentatives Sperrgitter aufgebaut. Zur Abwehr, zumindest aber zur Relativierung von journalistisch begründeter kritischer Nachfrage zur Israelpolitik der Bundesregierung. Auch hier ist die Frage zulässig, ob nicht Seibert im Inneren sehr deutlich wusste, dass eine solche statisch-dogmatische Auffassung dem dialogischen Anspruch der Sprecherrolle zumindest teilweise widersprach.
Aus dem „heute“-Studio ins Bundespresseamt
Steffen Seibert war der erste deutsche Regierungssprecher, der direkt aus dem ZDF-Nachrichtenstudio in die Regierungspolitik wechselte. Er war nicht der erste Fernsehjournalist auf diesem Posten, auch nicht der erste mit Kameraerfahrung: Klaus Bölling oder auch Friedhelm Ost kamen auch aus dem TV-Journalismus. Aber: die Rolle des Moderators einer der wichtigsten deutschen Nachrichtenmagazine, mit täglicher virtueller Anwesenheit in deutschen Wohnzimmern, ist eine unvergleichlich andere. Dies war 2010 der eigentliche Coup in Merkels Auswahl. Ein Paradigmenwechsel, da sie eben nicht allein einen erfahrenen Journalisten zum Sprecher machte, sondern eine dem Publikum in besonderer Weise vertraute öffentliche Person.
Dahinter darf man die frühe Erkenntnis vermuten, dass die audiovisuellen Medien – vor allem in der sich abzeichnenden digitalen Ausweitung – für die Kommunikation mit den Bürgern zunehmend von zentraler Bedeutung sein würden.
Diese Einschätzung war richtig und Seibert war – so gesehen – eine passende Wahl. Zum einen, weil er als erfahrenes und bekanntes Fernsehgesicht eine ideale Besetzung für audiovisuelle O-Tonausschnitte war, in jedem Fall eine bessere als viele seiner Vorgänger. Zum zweiten, weil er die neuen Online-Optionen ohne Berührungsängste erkannte und nutzte: Twitter als relevanter Informationskanal für direkte Nachrichtenverbreitung wurde von Steffen Seibert gepusht und gepflegt, über 600 Folgen des Merkel-Podcasts wären ohne ihn kaum denkbar, – und dass Merkel den Youtuber LeFloid ins Kanzleramt ließ, zeigt exemplarisch das gleichermaßen moderne wie sicherheitsbedachte Agieren Seiberts: LeFloid war und ist ein Youtuber mit ziemlicher Reichweite, aber eben kein politischer Journalist. Solche gab es auch 2015 schon online. Ein Fragesteller wie etwa Tilo Jung wäre aber wohl aus Sicht der Kanzlerin (wie Seiberts) ein unkalkulierbares Risiko gewesen, das man ja nicht eingehen musste.
Über solches Agieren wurde ein Feld abgedeckt, das inhaltlich aber durchaus tiefer hätte behandelt werden können. Diese Methode lässt sich auch auf manche Seibert-Performances in der Bundespressekonferenz übertragen.
„Nicht immer waren wir mit Ihren Antworten zufrieden.“
Steffen Seibert verfügt über eine sehr ausgeprägte Sprachsensibilität, über die Fähigkeit, einen reichen aktiven Wortschatz sekundenschnell in Sätze und Absätze fließen zu lassen, die druckreif daher kommen, kontextualisiert wirken, auch indem sie gemeinschaftlich geteilte Begriffe einbeziehen (also das, was die klassische Definition von „Framing“ bedeutet). Nicht selten aber fällt hinter der sprachlichen Form der tatsächliche Gehalt eher gering aus. Steffen Seibert war diesbezüglich in der Lage, jederzeit sprachliche Soufflés herzustellen. Sprachgebilde, die gut aussehen – aber wenn man sie aus dem Ofen holt, auch schnell in sich zusammenfallen können.
Nicht immer waren Ihre Antworten auf unsere Fragen wirklich erschöpfend. Nicht immer waren wir mit Ihren Antworten zufrieden.
Neben der Fähigkeit, wortreich wenig zu sagen, verfügte Steffen Seibert aber auch über die mindestens ebenso ausgeprägte Fähigkeit, Dinge sehr prägnant auf den Punkt bringen zu können – wo ihm dies (und mutmaßlich auch seiner Chefin ) opportun und geboten erschien: Sowohl in vielfältigen Äußerungen zur Politik der Russischen Föderation in der Ukraine oder gegenüber den westlichen Staaten speziell der EU, als auch in der Spätphase der Trump-Administration in den USA, oder auch in den vergangenen anderthalb Jahren zur Pandemie.
Seibert war in der Lage, in immer noch höflichem Duktus sehr klar Kritikpunkte zu benennen. Er sprach aus, was Merkel dachte. Diese Kongruenz darf man unterstellen. Die Fähigkeit, zu wissen, wie der politische Amtsträger tickt, und dies auch ohne direkte Absprache über das Wording verlässlich umzusetzen, gehört zum unerlässlichen Fundus qualifizierter Sprecher. Diese Verlässlichkeit ist übrigens auch hilfreich gerade für kritische Journalisten, weil sie belastbare Äußerung bedeutet.
Aus diesem Blickwinkel war Steffen Seibert ein guter Regierungssprecher. Er wusste, wie die Kanzlerin tickt, aber eben auch, wie Journalisten ticken. Über die Rollenunterschiede, oft genug auch daraus resultierenden Interessenunterschiede, war er sich immer im Klaren – und hat diese ins Kalkül eingezogen. Bei ihm war nie die Attitüde erkennbar: „Eigentlich bin ich doch immer noch Journalist.“ Genauso wenig aber: „Mit Eurer Arbeit habe ich wenig am Hut.“
Dabei war er zudem meiner Erfahrung nach verlässlich: Wenn er Informationen zusagte, auch als „Nachlieferung“, wurden diese Zusagen in aller Regel eingehalten.
Kritik zum Abschied
Bemerkenswert war Seiberts Schlussauftritt in seiner letzten, seiner tausendeinhundertfünfundsechzigsten Regierungspressekonferenz am 6. Dezember: Er lobte (erwartbar) die Institution „Bundespressekonferenz“ als eine von Journalisten organisierte Form der Regierungsbefragung, die auch in westlichen Staaten relativ einmalig ist; üblicherweise entscheiden Regierungen, in welcher Form und Länge sie sich befragen lassen.
Gleichzeitig, und in dieser Deutlichkeit doch überraschend, kritisierte Seibert die durchweg niedrige Zahl von Journalisten in den Regierungspressekonferenzen. Vor allem die großen, personell immer noch gut ausgestatteten Redaktionen der Hauptstadtmedien kritisierte der scheidende Regierungssprecher. Dass sie es nicht schafften, regelmäßig und verlässlich qualifizierte Präsenz zu zeigen, sei ihm unverständlich.
Der scheidende Regierungssprecher Steffen Seibert verabschiedet sich bei seiner letzten Regierungspressekonferenz mit ein paar mahnenden Worten an die Hauptstadtpresse. pic.twitter.com/0Jwsy4frqD
Die seit Jahren niedrige Teilnehmerzahl ist auch Ausdruck ökonomischer Zwänge und Veränderungen: Wenn immer weniger Journalisten immer mehr Output generieren sollen, bleibt weniger Zeit, um an Regelveranstaltungen teilzunehmen.
Gleichermaßen muss sich der scheidende Regierungssprecher auch fragen lassen: Sind nicht auch substanziell unbefriedigende Antworten von der Sprecherbank ein Faktor für mangelnde Anwesenheit von Journalisten?
Zu guter Letzt:
Niemandem habe ich mehr Fragen gestellt. Niemand hat mehr Fragen nicht wirklich beantwortet. Dabei war Steffen Seibert allerdings der Beste, den ich je erlebt habe.
Hoffentlich werden seine Nachfolger nicht so gut sein 🙃 Die Öffentlichkeit würde dankbar sein.
Dennoch hat er im Kern Recht: Es sind vor allem die großen Redaktionen, die an dieser Situation etwas ändern können und müssen. Am Ende dieses Appels verzeichnet das Protokoll „Applaus im Saal“. Das stimmt und ist bemerkenswert. Denn hier wurde von den allermeisten Journalisten im Saal ein Prinzip gebrochen: „Journalisten klatschen nicht“ – jedenfalls nicht, wenn sie sich in einer journalistischen Rolle befinden.
„Ich danke Ihnen“
Seiberts letzter Satz in dieser PK lautete:
Ich danke Ihnen. Wenn sich ein Wiedersehen ergibt, dann wäre es schön. Ansonsten leben Sie wohl.
„Ich danke Ihnen“ ist eine scheinbar ähnliche, aber tatsächlich ganz andere Formulierung als das oft gehörte: „Ich danke Ihnen für die gute Zusammenarbeit.“
Dass die „gute Zusammenarbeit“ nicht vorkam, dürfte kein Zufall sein. Michael Schroeren, langjähriger Sprecher des Bundesumweltministeriums, hatte in einer öffentlichen Rede über das Verhältnis von Sprechern und Journalisten mal gesagt:
Journalisten und Sprecher sitzen nicht im selben Boot – und wenn, dann rudern sie nicht in dieselbe Richtung.
Seiberts Nicht-Dank für „gute Zusammenarbeit“ drückte in der Weglassung ziemlich genau dasselbe aus. Dafür könnte man ihm fast dankbar sein.
3 Kommentare
„Nicht selten aber fällt hinter der sprachlichen Form der tatsächliche Gehalt eher gering aus.“
Bester Satz!!!
@Mycroft:
Mit eleganten Worten nichts zu sagen, gehört zur Jobbeschreibung. In dieser Hinsicht war Seibert topp.
Ich saß mal in einer Pressekonferenz mit David McAllister (als MP in Niedersachsen), wo er Fragen abblockte, indem er fünf Minuten lang den immer gleichen Satz ständig wiederholte. War wirkungsvoll, aber am Ende lagen alle vor Lachen unter dem Tisch. Das konnte Seibert virtuoser.
Viele Journalisten und Medien streben nach „Exklusivität“.
Diese ist auf Pressekonferenzen nicht zu haben.
Wenn ein Medium groß (und mächtig/einflussreich) genug ist, auch ohne Preko Zugang zu Informationen zu bekommen, wird man auf diese tendenziell ehr verzichten – zumindest auf Fragen dort.
„Nicht selten aber fällt hinter der sprachlichen Form der tatsächliche Gehalt eher gering aus.“
Bester Satz!!!
@Mycroft:
Mit eleganten Worten nichts zu sagen, gehört zur Jobbeschreibung. In dieser Hinsicht war Seibert topp.
Ich saß mal in einer Pressekonferenz mit David McAllister (als MP in Niedersachsen), wo er Fragen abblockte, indem er fünf Minuten lang den immer gleichen Satz ständig wiederholte. War wirkungsvoll, aber am Ende lagen alle vor Lachen unter dem Tisch. Das konnte Seibert virtuoser.
Viele Journalisten und Medien streben nach „Exklusivität“.
Diese ist auf Pressekonferenzen nicht zu haben.
Wenn ein Medium groß (und mächtig/einflussreich) genug ist, auch ohne Preko Zugang zu Informationen zu bekommen, wird man auf diese tendenziell ehr verzichten – zumindest auf Fragen dort.