„Deutschstunde“

Was Merkel nicht gesagt hat, war wenigstens grammatisch nicht falsch

Zu meinen abwegigeren Hobbys gehört es, die Sprachkolumne im „Hamburger Abendblatt“ zu lesen. Seit vielen Jahren gibt Peter Schmachthagen hier jeden Dienstag auf der zweiten Seite eine „Deutschstunde“ und klärt drängende Fragen wie die, ob „Klein Fritzchen“ grammatisch gesehen männlich oder sächlich ist.

(Richtige Antwort: sächlich. Alle Verkleinerungsformen sind im Deutschen Neutra, deshalb heißt es, wie Schmachthagen hilfreich ausführt, zwar „der Alte Fritz“, aber „das kleine Fritzchen“.)

Der Kolumnist räumt bei dieser Gelegenheit ein, dass für „Sprachpuristen“ die doppelte Verkleinerung mit „klein“ und „chen“ im Begriff „Klein Fritzchen“ eine überflüssige Doppelung sei, eine Art Pleonasmus.

Solche Zusätze werden jedoch geduldet. Jeder Sprecher und Schreiber muss das Recht haben, seine Rede oder seinen Text ein wenig auszuschmücken, damit das Deutsche nicht so schlicht daherkommt wie die Glasarchitektur der Gegenwart.

Diese zwei Sätze geben einen ganz guten Eindruck von der Haltung dieser Kolumne, die auch in der „Berliner Morgenpost“ erscheint: Es geht darum, was erlaubt, was „geduldet“ ist in der deutschen Sprache, und oft lässt sich das mit einem Lamento über die modernen Zeiten verbinden, gesungen aus der Perspektive eines Hundertjährigen.

In Wahrheit ist Schmachthagen erst 80, aber das lässt er sich nicht immer anmerken.

„Pass bloß auf, Freundchen!“

„Da heutzutage sogar schon 13-Jährige als ‚Frau‘ angeredet werden, ist die Bezeichnung ‚Fräulein‘ verschwunden“, erklärt der Kolumnist der staunenden Leserschaft von „Abendblatt“ und „Morgenpost“, und hat zum Thema Diminutive noch den Hinweis, dass sie auch eine Drohung beinhalten können:

Wenn ich zu dem Sohn meines Nachbarn sage: „Pass bloß auf, Freundchen!“, so ist der letzte Rest von Koseform und Verniedlichung verschwunden. Hier droht vielmehr eine Tracht Prügel.

„Klein Fritzchen“ ist häufiger Gast in seinen Texten, aber manchmal tritt auch „Klein Gustav“ auf, und gelegentlich tun es sogar „Mehmet und Igor“ – wenn es um Rechtschreibregeln geht, die „so klar und einfach“ sind, dass sogar sie sie anwenden können.

Das Spröde, das die Beschäftigung mit Regeln der deutschen Grammatik oft hat, versucht Schmachthagen durch politische Kontroversen aufzulockern, was nicht immer ohne Schmerzen gelingt. Eine Kolumne in diesem Jahr trug den Titel:

Die Grammatik wird unsere Erde nicht retten. Aber die Sprache droht im Klimakampf zum ungeliebten Fossil zu werden. Es ist gar nicht so einfach, ein korrektes Perfekt zu bilden.

Sie begann mit der Schilderung einer angeblichen Begegnung mit einem Nachbarsjungen, der enttäuschenderweise anonym blieb:

Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Kinder heutzutage gleich als Klimaexperten geboren werden, wenn sie alles nachplappern, was freitags der Zukunft, aber nicht den anderen Fächern zu dienen scheint. Ein Nachbarjunge erklärte mir, während er einen Schokoriegel öffnete und die Plastikverpackung achtlos in den Graben warf, es gebe zum Überleben auf diesem Planeten wichtigere Dinge als Rechtschreibung und Grammatik.

Backfisch ohne Sesambrötchen

Neulich erläuterte Schmachthagen seinen Lesern, dass sich Sprache wandelt. „Fragen Sie Ihren Nachwuchs doch einmal, was ein Backfisch ist“, schlug er vor. „Wahrscheinlich werden die Kinder auf Daniel Wischer oder auf ein Sonderangebot von Burger King tippen und fragen, wo das Sesambrötchen und das Salatblatt blieben, aber nicht darauf kommen, dass es sich um ein junges Mädchen handeln könnte, das jetzt Teenie genannt wird.“

Jetzt. Teenie.

Im Sommer schrieb er von Formen, die „zugleich Demonstrativ- wie Relativpronomen“ sein können, „sozusagen ein genderähnlicher Twitter“.

Das hätte natürlich nicht „Twitter“, sondern „Zwitter“ heißen sollen, wie Schmachthagen in der nächsten Ausgabe seiner Kolumne richtigstellte – nicht ohne zu erklären, was ein „Tweet“ ist, auch im Gegensatz zum „kräftigen, oft melierten Woll- und Mischgewebe mit kleiner Bindungsmusterung“, dem „Tweed“:

Ein Tweet ist ein Zwitschern im Internet (engl. tweet = das Zwitschern), nämlich eine beim Twittern gesendete Nachricht.

Das ist irgendwie wahr und klingt doch zauberhaft nach der Definition von jemandem, der sich den Gegenstand durch eine schlechte Telefonleitung von jemand anders hat erklären lassen, der auch nur vom Hörensagen von ihm wusste.

Bismarck und Merkel

In dieser Woche nun stand die Kolumne unter der Überschrift: „Wie man die Lust am Deutschen verlieren kann“, doch was nach einem besonders heftigen Anfall von Kulturpessimismus klang, bezog sich nur auf die sehr verwirrenden Regeln zur starken und schwachen Beugung von Adjektiven.

Schmachthagen beginnt mit dem Ausspruch Otto von Bismarcks: „Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt“. Dann zitiert er Angela Merkels berühmten Satz: „Wir Deutschen schaffen das!“ Und stellt schließlich die Frage: „Heißt es nun ‚wir Deutsche‘ oder ‚wir Deutschen‘?“ Ein „höhnender“ Leser habe das klar beantwortet: „Nicht einmal auf dem Gebiet der Grammatik erreicht Frau Merkel bismarcksches Niveau.“

Schmachthagen widerspricht: „(…) in diesem Fall müssen wir Angela Merkel energisch in Schutz nehmen. ‚Wir Deutschen‘ ist korrekt. Nach einem Personalpronomen wird das sub­stantivierte Adjektiv im Nominativ Plural heute schwach flektiert (…) . Bismarck flektierte stark, was inzwischen veraltet ist wie die Pickelhaube auf seinem Kopf.“

Klitzekleines Problem an der ganzen Geschichte: Merkel hat gar nicht „Wir Deutschen schaffen das“ gesagt, weder stark noch schwach flektiert. Sie sagte: „Wir schaffen das“.

Das ist natürlich ein bisschen blöd, eine viele Absätze lange Diskussion über die Flexion von Adjektiven („… ein artikelloses Adjektiv oder Partizip in appositioneller Stellung wird ebenfalls stark flektiert …“) an einem Zitat der Bundeskanzlerin aufgehängt zu haben, das nur grammatisch korrekt ist, aber sonst falsch.

Nun dachte ich, ich schaue sicherheitshalber nochmal im Archiv nach, ob womöglich ich das Zitat falsch im Kopf habe, und tatsächlich! Es findet sich eine seriöse Quelle. Das „Hamburger Abendblatt“ hatte Merkel so vor sechs Jahren schon einmal zitiert.

Genauer gesagt: Peter Schmachthagen.

In seiner Sprachkolumne „Deutschstunde“.

Sie handelte am 20. Oktober 2015 von den sehr verwirrenden Regeln zur starken und schwachen Beugung von Adjektiven. Schmachthagen begann mit dem Ausspruch Otto von Bismarcks: „Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt“. Dann zitierte er Angela Merkels berühmten Satz: „Wir Deutschen schaffen das!“ Und stellte schließlich die Frage: „Heißt es nun ‚wir Deutsche‘ oder ‚wir Deutschen‘?“ Ein „schimpfender“ Leser habe das klar beantwortet: „Nicht einmal auf dem Gebiet der Grammatik erreicht Frau Merkel bismarcksches Niveau.“

Doch Schmachthagen nahm Merkel „energisch“ in Schutz – naja, und so weiter.

Diese sechs Jahre alte Kolumne, die ein Jahr später auch noch in der „Berliner Morgenpost“ erschien, hat der Sprachkolumnist also in dieser Woche noch einmal mit kleinsten Veränderungen recycelt – was an sich nicht dramatisch wäre. Würde es nicht auch bedeuten, dass nun schon zum dritten Mal niemandem in der Redaktion aufgefallen war, dass Merkels Zitat darin nicht stimmt.

„Deutschstunde“, 2015
„Deutschstunde“, 2021 Ausrisse: „Hamburger Abendblatt“

„Selbstverständlich geht meine Kolumne nicht ungeprüft in den Druck“, schrieb Schmachthagen im Sommer, als die Sache mit dem Zwitter passiert war.

Der Kollege, der die Seite 2 produziert, und danach zwei fest angestellte Schlussredakteurinnen unabhängig voneinander sollten Unklarheiten telefonisch mit mir besprechen, bevor ich den Text freigebe. Wenn alle Stricke reißen, sind da noch Hunderttausende von Leserinnen und Lesern, die mir vermeintliche Fehler melden, entweder wie der Hofhund an der Pforte, der auf den Briefträger wartet, um bei Peter Schmachthagen endlich einmal zubeißen zu können, oder als mitfühlender Zeitgenosse, der mich wegen des Fehlers trösten will. Allerdings sind erfahrungsgemäß von zehn gemeldeten angeblichen Fehlern neun gar keine Fehler, aber wenn doch einmal einer durchrutscht, pflege ich mit einer gewissen Selbstironie zu sagen: Jeder Fehler birgt den Stoff und das Thema für die nächste Folge in sich.

Oh verdammt.

20 Kommentare

  1. Na, dann warten wir doch mal was nächste Woche dran kommt!

    Gleichzeitig ist mir ein recycelnder, falsch zitierender, Aussagen erfindende Sprachkolumnist so herzlich egal das ich entspannt über die Geschichte schmunzeln konnte ohne über die Implikationen nachzudenken.
    Vermutlich ähnlich egal wie den drei Kollegen die ihn kontrollieren sollten…

    (Alles Richtig oder mach ich mich gerade zum Brot? :D )

  2. Da möchte man gar nicht fragen, wie der Herr Schmachthagen und seine »Hunderttausende von Leserinnen und Lesern« zum Gendern stehen. Aber vielleicht will ich das lieber gar nicht wissen.

    #1 … egal, dass …
    Aber das macht Sie nicht zum Brot. Oder wenn, dann mich auch. Zum Toast. Dass passiert mir nämlich alle naselang.

  3. Ach, kommen Sie, Herr Niggemeier. Herrn Schmachthagen und seine Kolumne kenne ich nicht. Aber nach ihren Schilderungen gehört er bei allen Fehlern immerhin zu denjenigen, die sich um die Sprache sorgen. Wäre ein scharfes Wort (Achtung: Whataboutism) nicht eher angebracht zum Fall Gil Ofarim? Da stürzte sich die Meute – und ich lief leider mit – auf ein vermeintliches Nazi-Hotel – und jetzt ist alles anders.

  4. »Nach einem Personalpronomen wird das substantivierte Adjektiv im Nominativ Plural heute schwach flektiert: wir alten Kameraden, ihr treulosen Väter (…)«

    Wo sich unter Herrn Schmachthagens hier angeführten Exempeln ein substantiviertes Adjektiv entdecken ließe, verrät er seinen Hunderttausenden von Leserinnen und Lesern allerdings nicht.

  5. Apropo überkommene Regeln:
    Gibt es eigentlich einen Grund, warum „doof“ mit „f“ geschrieben wird? Die „Doofen“ reimen sich nicht auf „Ofen“. Ergo wäre „doov“ richtig.
    Sprache ist halt sowieso ein Sammelsurium von kontraintuitiven Regeln und unlogischen Ausnahmen.

  6. Ich finde auch, dass das Lesen von Schmachthagens Kolumne zu den „abwegigeren“ Hobbys gehört (aber bitte jeder, wie ihm beliebt). Allein deshalb, weil hier ein 80-jähriger meint, er müsse sich mit dem Beziehen auf vermeintlich moderne Technik oder auf Umweltschutzbewegungen – mit denen er sich in beiden Fällen offenbar höchstens oberflächlich befasst hat – vermeintlich Jüngeren oder gar „dem Zeitgeist“ anbiedern. Das ist genauso furchtbar, wie wenn Mitvierziger meinen, sie würden mit Möchtegern-Jugendsprache bei Pubertierenden irgendwie gut ankommen (tun sie nicht).

    Dann lieber ein (korrektes) Zitat aus irgendeinem Zeitungsartikel auf grammatikalische Besonderheit untersuchen und gut is.

  7. Ein Bastian Sick für die Generation Brezelfenster-Käfer. „Warum nicht?“, frug Fräulein Fritz und kicherte wie ein Backfisch.

  8. Wenn Herr Schmachthagen und Franz-Josef Wagner zusammen einen Artikel schrieben, müsste da wohl ein GAJU rauskommen. Ein größter anzunehmender journalistischer Unfall.

  9. @3 Ich glaube, es wäre besser, den Fall dann zu analysieren und zu reflektieren, wenn er medial auch wirklich abgeschlossen ist und eine zeitliche und vor allem emotionale Distanz aufgebaut ist. Da wäre ich aber dann auch interessiert, am liebsten aber von @samelou und nicht von @niggi (:-p nicht bös gemeint)

  10. Sehe ich das richtig? In die Kolumne kann man hinein lesen, dass der Herr die Nachbarsjungen bedroht? Womöglich sogar den, der eine Plastikverpackung weggeworfen hat?
    (Ehrlich gesagt vermute ich, dass beide erfunden sind)

    Was das andere angeht, ich habe dann endlich das Zitat gelesen und wusste sofort worum es ging. Dass das drei Personen zu je drei Gelegenheiten nicht auffällt! Und auch nicht den „Hunderttausend“ Lesern!

  11. Ich finde, Herr Schmachthagen sollte nach sechs Jahren mal sein Foto aktualisieren. Und Hunderttausende Leser:innen fordern das bestimmt auch.

  12. gesungen aus der Perspektive eines Hundertjährigen.

    In Wahrheit ist Schmachthagen erst 80, aber das lässt er sich nicht immer anmerken.

    Danke für den Schmunzler @ Stefan

  13. Übrigens hätte Herr Schmachthagen zumindest bei der Zweitveröffentlichung auf ein korrektes Zitat zurückgreifen können, um seinen Gegensatz Bismarck/Merkel zu illustrieren: 2017 erschien in der Zeit ein Artikel zu Merkels Antrittsbesuch bei Trump – mit einem Merkel-Zitat als Überschrift: „Wir Deutschen haben gute Argumente“.

    Wo kam das falsche Zitat eigentlich her? Von dem „schimpfenden Leser“, der das beschimpfte Wort erst selbst ergänzt hatte? Oder hat sich unser Kolumnist den Leser wie das Falschzitat etwa ausgedacht? Nicht auszudenken…

  14. „Das ‚Hamburger Abendblatt‘ ist eine grundbrave Zeitung für ältere Menschen im Grünen. So eine, wo bei der Osterausgabe ein Farbfotovon blühenden Blumen auf der Titelseite ist. Wo die Frau Rouladen spickend in der Küche sitzt, und im Radio kommt ein von René Kollo gesungenes Operettenpotpourri.“
    Max Goldt neben der Bild-Zeitung auch das Abendblatt sehr zutreffend charakterisiert. Da passt der Sprachkritiker Schmachthagen ganz perfekt ins Milieu.

  15. „Ein Nachbarjunge erklärte mir, während er einen Schokoriegel öffnete und die Plastikverpackung achtlos in den Graben warf, es gebe zum Überleben auf diesem Planeten wichtigere Dinge als Rechtschreibung und Grammatik.“

    Und schalten Sie morgen ein, wenn es wieder heißt: „Shit that never happened.“

    Das ist teilweise nur noch widerlich, wie manche Leute aus der älteren Generation junge Leute, die sich für Klimaschutz einsetzen, mit Dreck bewerfen.

  16. Mit der Deutschstunde habe ich meinen journalistischen Autounfall, bei dem ich nicht wegschauen kann. Es ist soooooo schrecklich…

  17. „Neulich erläuterte Schmachthagen seinen Lesern, dass sich Sprache wandelt. ‚Fragen Sie Ihren Nachwuchs doch einmal, was ein Backfisch ist‘, schlug er vor.“

    Je öfter ich diesen Text lese, desto lustiger finde ich ihn. Jetzt habe ich gerade das Bild einer 75-jährigen Oma im Kopf, die ihren 50-jährigen Sohn beim Spicken einer Roulade fragt, ob er wisse, was ein Backfisch sei. Und er fragt zurück: „Iglo Schlemmerfilet?“

    Auch wage ich stark zu bezweifeln, das 13-jährige Mädchen heutzutage von irgendwem mit „Frau“ angesprochen werden – das setzte ja Siezen voraus. Allenfalls scherzhaft als „Dame“, wenn die Verkäuferin hinter dem Tresen fragt: „Na, junge Dame, was darf es sein?“ (Auch das „Fräulein“ war vor 60 Jahren keine Anrede für Kinder, sondern für unverheiratete Frauen im heiratsfähigen Alter.)

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