Wochenschau (110)

Wie ich es schaffte, meinen Frieden mit den Fernsehdebatten zu schließen

Wenn man die verschiedenen Formen heutiger Autos betrachtet, vergisst man schnell, dass das Design ursprünglich einer Kutsche ohne Pferde nachempfunden war. Die kastige Optik erschien allen normal und sinnvoll, schließlich wusste keiner, wie ein Auto auszusehen hatte – es war ja gerade erst erfunden worden.

Dank des Wiener Flugzeugingenieurs Paul Jaray bekam das Gefährt seine aerodynamischere Form. 1921 meldete er sein Patent für die Stromlinienkarosserie an, welche die Fahrzeuge bis heute prägt. Und auch wenn das moderne Automobil jetzt Elektrizität tankt, mit Kameras ausgestattet ist und sogar schon autonom fährt, ist es in der Mechanik eigentlich noch so profan und irgendwie überholt wie sein technologisches Vorbild, der Zugwagen.

An diese langjährige Entwicklung musste ich denken, als ich mir die Trielle anschaute, denn auch sie sind in ihrer Form aus der Evolution eines ganz anderen Fernsehformats entstanden, welches man heute noch mit zusammengekniffen Augen wiedererkennen kann. Welches das ist, verrate ich gleich – arbeiten wir uns von außen in den Kern der Wahlkampfdebatten.

Show-Moment ohne Show und ohne Moment

Ihr fernsehhistorischer Ursprung könnte nämlich erklären, warum ich immer häufiger das Gefühl habe, diese Fernsehdebatten seien auch aus der Zeit gefallen. Besonders bei dieser Bundestagswahl hatten sie, bei aller simplen und sinnvollen Pragmatik ihrer Inszenierung – Kanzlerkandidaten präsentieren sich und ihre Parteiinhalte im Fernsehen und erklären, warum Zuschauende sie gut finden sollen – für das Medium Fernsehen etwas erstaunlich Statisches.

TV-Duelle 2002, 2005, 2013, 2021

Die Gesprächssituation im Stehen vor den Pulten, als wären alle Anwesenden zu einer mündlichen Prüfung geladen, was sie auch gewissermaßen ja sind; die Stoppuhr für die Redezeit, die präsidiale Ansprache direkt in die Kamera und die darauffolgende, journalistische Nacherzählung, die immer wie Sportberichterstattung einer Pfahlsitzweltmeisterschaft klingt, die in Parametern von Sieg und Niederlage kommentiert. Es ist ein politisch notwendiger Show-Moment der Bundestagswahl, nur ohne Show und ohne Moment, und wird so zu poliertem Paläo-Fernsehen, Fernsehen der „Alten Schule“ – eine Kutsche mit Stromliniendesign.

Natürlich gibt es für mich als motzige Medienkritikerin nichts Einfacheres, als das Triell von vorletzter Woche auf ARD und ZDF niederzuschreiben und das jüngste Triell auf ProSieben und Sat.1 im Vergleich dazu als gelungen zu loben. Während bei ARD und ZDF die Gesprächsführung zwischen den beiden Moderierenden unkoordiniert wirkte (hier wird erklärt, inwiefern Hierarchie ein Grund gewesen sein könnte), wirkten die ProSieben-Moderatorin Linda Zervakis und die Sat-1-Moderatorin Claudia von Brauchitsch eingespielt und arbeiteten komplementär miteinander, nicht gegeneinander.

Bei den Öffentlich-Rechtlichen war die Gesprächsdynamik hingegen mit schlafwandlerischer Sicherheit antiklimaktisch: Immer, wenn es gerade überraschend spannend zwischen den Kandidaten und der Kandidatin wurde, würgten Oliver Köhr und Maybrit Illner die Diskussion ab, um streng eingetaktet zum nächsten Thema zu kommen. Debattieren wurde in der Debattensendung offenbar als Störung des Ablaufs empfunden. Zudem waren die Fragen von Illner teilweise zu komplex, insiderig und spezifisch, die Privaten hatten mehr Erbarmen mit dem Publikum und im Fragen-Antwort-Ping-Pong das bessere Timing.

Für wen ist diese Sendung überhaupt?

Aufgrund dieser Diskrepanz fragte ich mich: Für wen sind die Fragen eigentlich? Geht es darum, die Kanzleramtsbewerber und -Bewerberin durch komplexe Fragen auf ihre Eignung hin zu testen oder geht es den Moderatorinnen darum, stellvertretend für die Bürger etwas über die Kandidaten zu erfahren? Und daraus folgend: Für wen ist das Triell? Für mich Zuschauende? Für die drei Teilnehmer zur Zurschaustellung ihrer Inhalte? Oder für die beiden Moderatorinnen zur Zurschaustellung ihrer Kompetenzen?

Das führt mich zur medienhistorischen Grundanlage, die da lose durchschimmert. Sie ist verantwortlich für dieses konfuse Verhältnis in der journalistischen Umsetzung, zwischen dem Austesten der Politikerinnen, um ihre Performance auf den Prüfstand zu stellen, und dem Ausfragen der Politikerinnen, um ihre Inhalte zu erfahren. Die Vorlage für amerikanische Präsidentschaftsdebatten (und dementsprechend über Bande für ähnliche TV-Debatten weltweit) war nämlich die in den fünfziger Jahren sehr beliebte Quizshow.

Den Sprung von der Quizshow zur Wahlkampfdebatte haben wir Frank Stanton, dem umtriebigen Präsidenten des amerikanischen Senders CBS, zu verdanken. Er wollte über Jahrzehnte hinweg die Präsidentschaftsdebatten ins Fernsehen holen, aber dagegen sträubten sich drei Instanzen:

  • die Sender, da sie aufgrund des Kommunikationsgesetzes, Abschnitt 315, rein theoretisch allen sich bewerbenden Kandidaten Sendezeit zur Verfügung stellen müssten. (In Anbetracht der großen Anzahl war das keine Option für die Sender.)
  • der Kongress, der sich gegen eine Änderung dieses Gesetzes stellte.
  • und nicht zuletzt die politischen Anwärter und Anwärterinnen selbst, die Angst davor hatten, in diesem noch relativ neuen Medium schlecht dargestellt zu werden.

Gleichzeitig war bei den Amerikanern die Quiz-Show eines der beliebtesten Fernsehformate – bis ein großer Skandal das Vertrauen des Publikums in das Spielshows erschütterte: Teilnehmer und Teilnehmerinnen beschwerten sich 1958, dass die Spiele manipuliert worden seien, man ihnen für die Dramaturgie gesagt habe, was sie antworten sollten.

Perfektes Timing

Das amerikanische Fernsehen brauchte nun ein Quäntchen geborgter Seriosität, um sich zu rehabilitieren und das Vertrauen der Zuschauer und Zuschauerinnen zurückzugewinnen. Und das war der Moment für Frank Stanton, die politische Debatte wieder ins Spiel zu bringen. Die anderen Sendechefs zogen mit, lobbyierten erfolgreich, und der Kongress kippte das Sendezeitgesetz – dadurch konnten nur die zwei Hauptkandidaten eingeladen werden.

Es war perfektes Timing, 1960 stellten die beiden Parteien neue Kandidaten auf, alle begriffen die Notwendigkeit und Wichtigkeit des Bewegtbildes, und Stanton gelang es tatsächlich, Vizepräsident Richard Nixon als auch Senator John F. Kennedy dazu zu bringen, sich auf dieses Fernsehwagnis einzulassen.

Eine der US-Fernsehdebatten 1960

In einer ersten Idee, wie die Debatte nun konkret aussehen könnte, wollte man beide Kandidaten vor einen Haufen Journalisten platzieren, die ihnen alle möglichen Fragen stellen konnten. Eine aufgezeichnete Bundespressekonferenz als Duell gewissermaßen. Das löste bei den Parteien und Vertretern der beiden nicht gerade Begeisterungstürme aus, und es wurde lange hin und her verhandelt, wie eine Form aussehen könnte, auf die sich alle Teilnehmenden einigen konnten. Da der Termin näher rückte, entschied man sich für folgende Konstruktion, wie Kommunikationsprofessor Michael J. Socolow die Geschichte in „The Conversation“ nachzeichnet:

Unter dem Zeitdruck einigte man sich auf ein etabliertes Fernsehformat, mit dem die Amerikaner vertraut waren: die Quizsendung. Die erforderlichen Studios waren leicht verfügbar, das Produktionspersonal wusste bereits, was zu tun war, und die Journalisten konnten problemlos Diskussionen moderieren, in denen sich die Kandidaten darauf einigten, einander nicht direkt zu befragen oder zu antworten.
Für alle Beteiligten schien dies der sicherste Weg zu sein, um zu gewährleisten, dass jeder Kandidat seinen eigenen Ruf verbessern konnte, ohne Schaden für seine Kampagne zu riskieren.

Und tatsächlich, was die Kandidaten damals als Vorteil für sich erkannten, ist bis heute das formale Grundproblem der Duelle bzw. Trielle und einer der Gründe, warum sich diese Form so lange halten konnte. Es ist keine wirkliche Herausforderung. Der Fernsehmoderator oder die Fernsehjournalistin prüft als prominenter politischer Quizshow-Host die Kandidaten und Kandidatin, fragt im schnellen Tempo deren Wissen ab, während diese ihre vorbereiteten Antworten abrufen, die Zeit ist durch die Messung indirekt begrenzt, danach wird ausgezählt, wer das Spiel wie gut gewonnen hat. Was auch immer das bedeuten mag.

Umfrageergebnis: "Wer hat alles in allem das TV-Triell gewonnen?"
Screenshot: Sat.1

Der Experte Richard Tedlow sagt über die damaligen amerikanischen Präsidentschaftsdebatten:

Die Debatten [hatten] so wenig mit der wirklichen Arbeit der Präsidentschaft zu tun wie die Quizshows mit der Intellektualität.

Still true. Begreift man die Wahlkampf-Debatten in Deutschland als von den amerikanischen Präsidentschaftsdebatten mindestens inspiriert, verstehen wir, warum das Triell funktioniert, wie es funktioniert. Der deutsche Wahlkampf und die Berichterstattung darüber gilt spätestens seit den 2000er Jahren als personenorientierter, boulevardesker und auch amerikanisierter. (2002 gab es in Deutschland das erste richtige, echte im Fernsehen übertragene Kanzlerduell, zwischen SPD-Kandidaten Gerhard Schröder und Edmund Stoiber.)

Die Amerikanisierung des Wahlkampfes

Für die Situation in Deutschland muss man allerdings festhalten, dass das politische System und damit auch der Wahlkampf auf Parteien orientiert ist, während in den USA der Fokus auf den Kandidaten liegt. Trotzdem muss man natürlich festhalten, dass es auch in Deutschland nicht zuletzt um die Kandidatinnen geht. Oh, hören sie das auch? Weint da in der Ferne ein Grüner?

Das, was die Kommunikationswissenschaftlerin Christina Holtz-Bacha als Amerikanisierung des Wahlkampfes beschrieb, ist unter anderem eine „überwiegende Ausrichtung der Kampagne auf die Massenmedien, vorrangig das Fernsehen“. Sowie all die anderen Dinge, die im aktuellen Wahlkampf und in denen zuvor unangenehm auffallen: die Politik als Pferderennen, die negativen Kampagnen, um den politischen Gegner bloßzustellen, das Schaffen von Pseudoereignissen, damit es für die Medien etwas zu berichten gibt. Dazu zählen eben auch die Kandidatinnen-Runden.

Denkt man das Triell also als eine Art Quiz mit Politkerinnen, ergeben die ganze Statik und die Anordnung plötlich Sinn. Es ergibt Sinn, den Teilnehmenden komplizierte Fragen zu stellen, bei denen sie sich bewähren müssen, während man als Zuschauerin vielleicht nicht folgen kann. Es ergibt Sinn, hinterher berichten zu wollen, wer dieses politische Quiz gewonnen und verloren hat und mit wieviel Punkten Vorsprung, auch wenn das eine seltsam wattige Information ist, da keiner genau erklären kann, was „beim Triell gewinnen“ eigentlich bedeutet. Es ergibt Sinn, im politischen Journalismus ausführlich darüber zu schreiben und zu sprechen, wie jemand die Fragen beantwortet hat, wie schnell, wie energisch, wie oft richtig, und weniger ausführlich abbilden zu wollen, was besprochen wurde.

Und man schließt seinen Frieden mit diesem Format, weil man feststellt, es wollte nie eine Auseinandersetzung sein können, es ist politische Unterhaltung. Quizshows sind die Kutschen für die autoförmigen Debattenformate.

9 Kommentare

  1. Danke für die verblüffende Analyse. Nur weiß ich leider immer noch nicht, warum ich mir diese Truelle anschauen soll (hab ich nicht). Wenn es Unterhaltung sein soll, lasse ich lieber die Gilmore Girls sich sprachduellieren. Wenn es Politik sein soll, lese ich lieber schlaue Analysen. Wenn es Quiz sein soll, dann wünsche ich mir, dass schlagdenraabgenau rauskommt, wer die faktische Siegerin ist, nicht der von anderen gefühlte.

  2. Danke Frau Ouassil
    Nun bin ich schlauer, ohne dabei schlauer zu sein ;-)

    Ich glaube ja (wie bereits an anderer Stelle insistiert) , dass die aufziehenden Krisen eine Renaissance (mindestens) der Wahrheit bringen müssen.
    Bei all der Gefahr, die diejenigen, die radikal meinen im Besitz der einzigen zu sein, mitbringen, muss die Toleranz gegen das Lügen doch abnehmen. Dann wäre ein Medienformatskasten wie dieser auch ein Fall fürs Museum.

  3. Vielleicht wäre es gar besser, die Kanzlerinnenkandidaten echte Quizsendungen bestreiten zu lassen: „Wer Wird Millio … äh Kanzler?“ oder „Was weiß der denn?“
    Und wenn Scholz dann sagt: „Als Joker rufe ich Willy Brandt an“, dann sind doch alle begeistert.

  4. @Lars: _So_ ein KandidatInnenduell würde ich mir tatsächlich auch ansehen. Wenn sich die Männer und Frauen so richtig zum Affen machen, und die ZuschauerInnen dann sehen können, wer dabei souverän und/oder symapthisch bleibt.

    Der Nutzen für die Demokratie, die Wahlentscheidung oder der Informationsübermittlung wäre immer noch Null. Aber wenigstens hätte es einen Unterhaltungswert.

  5. Die logische Frage ist dann: Was wäre ein besseres Format oder Ansatz?
    Und da stehen wir irgendwie doch recht ideenlos da. Vielleicht Debatten besser, wobei hier das Problem der Starre quasi geadelt wird. Andererseits könnten hier besser Fakten gecheckt werden und Falschbehauptungen offengelegt.
    Die Erkenntnis ist auf jeden Fall der erste Schritt zu Lösung. Danke Frau Ouassil, jetzt kann ich wenigstens besser benennen wieso mich die Trielle nicht tangieren.

  6. Ich stelle mir da jetzt als neues Format ganz spontan so etwas wie „Das Kanzler*innen Camp“ vor. Das würde auch meine Großmutter abholen und ich hätte meinen Spaß wenn es darum geht sich mit irgendwelchem Krabbelgetier einsperren zu lassen.

  7. Ist das Rad tatsächlich „mechanisch überholt“, nur weil es vor sehr langer Zeit erfunden wurde?

    Und welche moderne Alternative steht zur Verfügung?

  8. Ich habe eine andere Erklärung dafür, dass dieses Format so seltsam wirkt: 1/3 der Wahlberechtigten ist über 60. Wenn man die höhere Wahlbeteiligung der Älteren berücksichtigt, landet man fast bei 1/4. Zudem liegt der Durchschnitts-IQ bei 100.
    Dieses Format ist einfach nicht für Leute ausgelegt, die sich auf Übermedien rumtreiben.

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